07
Es kam mir so vor, als wollte der Samstagvormittag heute gar nicht mehr enden. Was wohl auch daran liegen könnte, dass ich schon wieder Kopfschmerzen hatte. Heute Morgen wurde ich nämlich von meinem Wecker nicht nur aus dem Schlaf gerissen, sondern auch aus einer Vision. Naja, wenn man es als solche überhaupt bezeichnen kann. Ich hatte nämlich nur eine kurze Szene vor Augen und auch die war so unscharf, dass ich mir immer noch nicht sicher bin, ob es wirklich eine Vision und nicht nur ein absurder Traum war. Das einzige Indiz, das auf eine Vision hinwies, war, dass ich mit Kopfschmerzen aufgewacht bin. Da ist der Tag schon gut gestartet. Ich wunderte mich auch nicht, dass Beccas Gezicke mein Schädelbrummen nur noch verstärkt hat.
"Nimm doch eine Kopfschmerztablette, Mia." Meine Mutter sieht mich besorgt an.
Ich hänge über dem Teller meiner Käsemaccheroni, meinen Kopf gestützt und schiebe die Nudeln einzeln mit der Gabel an den Tellerrand.
"Nein, geht schon!" Glaub mir Mama, dagegen gibt es keine Tablette. Oder vielleicht doch? Das könnte ich Louise heute fragen.
"Vielleicht solltest du zum Arzt gehen. Das sieht für mich schon fast nach Migräne aus, oder was meinst du Schatz?"
Mein Vater sieht von seinem Teller auf. "Mhm, ähm, was war das Thema?"
Meine Mundwinkel zucken leicht. Während Mama wieder einmal total überbesorgt ist, scheint Papa nur körperlich beim Mittagessen anwesend.
"Danke Mama, das geht schon. Ist nur der Stress. Die Uni-Prüfungen sind doch aufwendiger, als ich gedacht habe. Und dann noch die Arbeit im Silvermoon." Ich spieße zwei Maccheroni, die keinen Platz mehr am Tellerrand gefunden haben, auf die Gabel und schiebe sie mir in den Mund.
"Vielleicht solltest du mal mit deinem Chef reden, ob du etwas kürzer treten kannst."
"Mhm, mal sehen." Ich schiebe mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. "Wie spät ist es eigentlich?"
"Zeit sich eine Uhr zu kaufen." Meldet sich nun das erste Mal seit das Essen auf dem Tisch steht auch mein kleiner Bruder zu Wort.
Ich bin leicht beeindruckt, dass er zwischen Essen und gleichzeitigem Handyspielen auch noch das Gespräch verfolgen konnte. "Witzig, Basti." Ich rolle gespielt genervt mit den Augen und greife nach meinem Handy.
"Musst du etwa schon wieder los? Du bist ja eben erst gekommen. Kein Wunder, dass du so gestresst bist." Meine Mutter runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf. Auf ihrer Stirn erkenne ich eine Sorgenfalte. Der Stress der Woche zeichnet sich in ihrem Gesicht ab. Sie sieht müde aus.
"Ich treffe mich heute mit Marie zum Lernen", lüge ich, weil ich nicht glaube, dass Mama es verstehen würde, wenn ich ihr erkläre, dass ich mich heute mit einer unbekannten alten Dame treffe. Und den Rest sowieso nicht.
"Aber für das Mittagessen hast du wohl noch Zeit, oder?"
"Ja Mama, ich muss frühestens in einer Stunde los." Ich lächle sanft. Ich möchte nicht, dass sich Mama Sorgen um mich macht. "Ich helfe dir nachher noch beim Abwasch, ja?"
Ihr Gesichtsausdruck entspannt sich und sie lächelt zufrieden.
***
Es ist kurz vor zwei, als ich mich auf den Weg zu Louise mache.
Ich schließe die Haustür hinter mir ab und will gerade starten, als ich Tom in seiner Einfahrt sehe. Ich bleibe stehen und beobachte ihn für einen Moment. Er prellt einen Basketball, dribbelt imaginäre Mitspieler aus und wirft den Ball an die Wand oberhalb der Garage. Dann fängt er den abspringenden Ball wieder auf, dribbelt damit zurück zum Anfang seiner Einfahrt und startet einen neuen Angriff.
Tom war mein bester Freund und doch wirkt er plötzlich so fremd.
Noch vor einem Jahr war alles gut zwischen uns. Wir hatten den Sommer unseres Lebens. Und dann ist er einfach so abgehauen. Ob unser letztes Gespräch dazu beigetragen hat, oder es einfach nur schlechtes Timing war? Die Antwort darauf werde ich wohl nie erfahren.
Ich schultere meine Handtasche und setze mich in Bewegung. Den Blick halte ich starr Richtung Boden. Ich komme an der Einfahrt von den Bergmanns vorbei und höre den Ball an der Mauer abprallen. Aber diesmal fängt ihn Tom nicht. Er springt noch ein paar Mal auf, rollt dann die Einfahrt hinaus und landet direkt vor meinen Füßen. Wie sollte es auch anders sein? Ist in den Filmen ja auch immer so. Und trotzdem war ich darauf nicht vorbereitet.
Ich fluche innerlich. Kurz zögere ich, hebe dann aber den Ball auf und schaue vorsichtig in die Einfahrt. Tom steht wie angewurzelt an derselben Stelle, von der er den Ball abgeworfen hat und starrt mich an. Ich versuche den direkten Blickkontakt mit ihm zu meiden.
"Sorry." Ist alles, was Tom hervorbringt. Er versucht sich an einem Lächeln und sieht mich verlegen an.
Bei diesem Anblick rutscht mir ein Lächeln heraus. Eigentlich möchte ich so schnell wie möglich von hier verschwinden. Aber ich will auf keinen Fall, dass Tom bemerkt, dass ich immer noch verletzt und sauer auf ihn bin. Ich stelle meine Handtasche neben mich auf den Boden und werfe den Basketball in den imaginären Korb an der Hauswand. Er prellt an der Mauer ab, springt einmal am Boden auf und landet genau in Toms Händen.
"Das nenne ich einen 3-Punkte-Wurf!" Ich grinse und verschränke zufrieden meine Arme vor der Brust.
"Naja, wenn du getroffen hättest...", neckt mich Tom.
"Hey! Was soll das heißen? Ich habe ganz eindeutig getroffen!" Ich stütze meine Hände protestierend an meine Seite.
"Da bin ich mir nicht so sicher...!"
"Ich aber!"
"Naja, dann lassen wir's mal gelten", lacht Tom und ich setze ein triumphierendes Lächeln auf.
"Du weißt schon, da gäbe es so ein Ding, das man sich an die Hausmauer machen kann. Besteht aus einem Brett, wo so ein Netz dran hängt und nennt sich 'Korb'."
Tom lacht und fährt sich dabei durch die dichten, dunkelbraunen Haare. Sie sind etwas kürzer als vor einem Jahr. Ansonsten hat er sich kaum verändert. "Oh, ja! Jetzt wo du's sagst...", antwortet Tom ebenso sarkastisch. Er kommt ein paar Schritte näher. "Meine Gastfamilie in Amerika hatte einen Basketballkorb in ihrem Hof. Ich habe dort mit meinem Gastbruder Damian oft gespielt."
"Und ich dachte, dass die in jeder Einfahrt hängenden Basketballkörbe nur ein Klischee sind, das man aus Filmen kennt."
"Naja, es hat jetzt nicht jeder einen Korb in der Einfahrt. Aber Damian ist Basketballspieler und er war auch in unserem College-Team. Für ihn war es beinahe ein Muss, am Abend noch ein paar Körbe zu werfen."
Ich wende meinen Blick ab und bin mir unsicher, ob ich das Gespräch am Laufen halten soll oder nicht. Je länger ich mich mit Tom unterhalte, umso mehr Fragen und Gedanken rasen durch meinen Kopf, aber ich fühle mich nicht in der Lage, sie laut auszusprechen. Also stehe ich einfach nur stumm da und überlege mir, was ich jetzt am Besten sagen sollte.
Aus den Augenwinkeln nähert sich ein Mädchen in unserem Alter. Sie winkt Tom zu und bleibt neben mir stehen. "Hi! Bin ich zu früh?"
"Oh, Hi!" Er hebt seine Hand zur Begrüßung und lächelt freundlich.
"Hallo, ich bin Anna!" Sie streckt mir ihre Hand entgegen und strahlt über das ganze Gesicht. Ihre positive Art ist mir sofort sympathisch. Trotzdem fühle ich mich irgendwie komisch.
Ich schüttle ihre Hand und lächle freundlich. "Ich bin Mia, freut mich." Dann greif ich mir meine Handtasche und hänge sie mir über die Schulter.
"Ich wollte euch jetzt nicht unterbrechen. Ihr könnt gerne noch zu Ende spielen."
Tom blickt zwischen Anna und mir hin und her.
"Ich muss sowieso los!" Ich schaue zu Tom und hebe meine Hand zum Abschied.
"Hat mich gefreut, Mia." Anna lächelt und winkt.
"Mich auch. Ciao ihr zwei!"
Ich marschiere los. Meinen Blick halte ich gesenkt. Erst als ich um die Ecke biege, bleibe ich einen Moment stehen und atme tief durch. Die Gedanken und Gefühle, die ich versucht habe zu unterdrücken, prasseln nun auf mich ein. Fast ein ganzes Jahr lang habe ich Tom nicht gesehen, kein einziges Wort von ihm gehört und jetzt ist er plötzlich wieder da. Und er hat eine neue Freundin: Anna, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Und sie ist echt hübsch und darüber hinaus scheint sie auch noch total nett zu sein.
Ärger steigt in mir auf und ich forme meine Hände zu Fäusten. Wütend setze ich mich wieder in Bewegung. Tom tut so, als wäre zwischen uns alles in Ordnung. Dabei war nichts, rein gar nichts in Ordnung. Er scheint ein neues Leben und einen neuen Freundeskreis aufgebaut zu haben. Und wie es aussieht, war ich dort nicht eingeplant, ansonsten hätte er mich nicht ein ganzes Jahr lang ignoriert. In mir beginnt es zu brodeln. Das Blut in meinen Adern pocht. Meine Kopfschmerzen verstärken sich und mir wird schwindelig.
Nicht. Jetzt! Ich habe jetzt keinen Nerv für eine weitere Vision!
Ich versuche mich zu beruhigen. Atme tief ein und versuche dabei bis 4 zu zählen. Meine Schultern ziehe ich ganz weit nach oben. Dann halte ich meine Luft für sieben Sekunden an. Beim Ausatmen öffne ich meine Fäuste und lasse meine Schultern fallen. Das Ganze wiederhole ich 4 Mal.
Danach fühle ich mich entspannter. Die Kopfschmerzen haben nachgelassen. Das Schwindelgefühl hat sich verzogen. Es hat tatsächlich funktioniert. Ich atme triumphierend auf. Jetzt aber schleunigst zu Louise.
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