03
Ich hatte mich mit Marie für den nächsten Tag im Café verabredet. Dort sitze ich nun seit etwa 10 Minuten an meinem Tisch und warte auf Marie, die sich wie immer verspätet. Leicht angespannt hole ich mein Handy aus der Tasche und lege es auf den Tisch, für den Fall, dass Marie anrufen und unser Treffen absagen sollte.
Ich blicke mich im Cafè um, entdecke aber zum Glück niemanden, den ich kenne. Ich mag es nämlich gar nicht gesehen oder beobachtet zu werden. Ich beobachte viel lieber andere. Am Tisch in der Ecke sitzt beispielsweise ein Pärchen mit ihrem etwa 5 Jahre alten Sohn. Offensichtlich gestresst murmelt die Mutter ihm etwas zu und schiebt anschließend das Glas von der Tischkante Richtung Tischmitte. Das Kind schaut zu Boden, seine Füße baumeln. Ich weiß sofort, dass es ihm nicht lange gelingen wird stillzusitzen und dass es gleich doch noch eine Sauerei geben wird.
"Hey Mia! Sorry, wartest du schon lange?" Marie weiß genau, dass ich immer überpünktlich bin, aber damit sie kein schlechtes Gewissen hat, antworte ich ihr: "Nee, bin auch eben erst gekommen!"
Sie beugt sich zu mir hinunter, um mich zur Begrüßung zu umarmen. Dann nimmt sie mir gegenüber Platz. Als hätte sie bereits in den Startlöchern gestanden, kommt die Kellnerin, die ich zuvor darüber informiert hatte, dass ich noch auf eine Freundin warte, angeschossen und nimmt unsere Bestellung auf.
"Wie geht es dir heute?" Marie zieht fragend die Augenbrauen nach oben.
"Ganz okay... Und dir?"
"Dir ist also nicht mehr übel? Du hattest dich gestern ja übergeben."
"Achso, ja alles wieder gut. War bestimmt nur der Stress."
Marie mustert mich. Ich weiche ihrem Blick aus und schiele zu dem Jungen von vorhin, der sich inzwischen ein Zuckerpäckchen genommen hat und damit spielt. Glücklicherweise unterbricht die Kellnerin diese unangenehme Stille und stellt die beiden Cappuccinos vor uns auf den Tisch. Ich bedanke mich höflich, schnappe mir ein Zuckerpäckchen, reiße es vorsichtig auf und schütte es in meinen Kaffee. Immer noch mustert mich Marie. "Über was wolltest du denn mit mir sprechen?", frage ich sie und nehme einen Schluck von meinem Heißgetränk.
Marie sucht nach den richtigen Worten. "Okay Mia, hör zu. Ich habe mir gestern den ganzen Nachmittag Gedanken gemacht, du weißt schon über die Sache... also, wegen dem Zugunglück. Ich weiß, das klingt jetzt im ersten Moment verrückt, aber, was ich dich fragen wollte... Hast du davon gewusst?"
Ich stelle meine Tasse auf die Untertasse ab und versuche meine Mimik zu kontrollieren. "Ob ich davon gewusst habe?" Ich lehne mich nach vorn. "Ob ich gewusst habe, dass unser Zug einen Unfall haben würde, noch bevor es passiert war?" Ich gebe mich verwirrt und schaue Marie fragend an. Wir hatten Glück, es war einfach nur Glück. Wiederhole ich den Satz in meinem Kopf, so lange, bis ich es hoffentlich irgendwann selbst glaube.
"Mia, ich weiß es klingt verrückt, aber ja... hast du? Ich meine, hast du es...", sie macht eine Pause und überlegt, wie sie es formulieren soll, "... hast du es kommen sehen?"
Wir hatten Glück, es war einfach nur Glück. Ich weiche ihrem Blick aus. Es war einfach nur Glück. Ich schiele wieder zu dem Jungen, dem in diesem Moment das Zuckerpäckchen explodiert. "Jap, DAS", ich nicke zu der Familie, "habe ich kommen sehen". Diesmal tadelt der Vater den Jungen und die Mutter wischt kopfschüttelnd mit der Hand über den Tisch, und schiebt den Zucker zu einem Haufen zusammen.
"Mia, jetzt bleib bitte Ernst!" Ich wende meine volle Aufmerksamkeit wieder meiner Freundin zu. "Ich habe gestern die Panik in deinen Augen gesehen. Und außerdem hast du..." Marie bricht ab. Sie wird ernst. "Hast du es gewusst oder nicht?" Ich habe mir bereits Gedanken dazu gemacht, ob ich es Marie sagen soll oder nicht, aber es war noch schwieriger als ich mir ausgemalt hatte. Da mir nichts anderes übrig bleibt, beschließe ich ihr einfach die Wahrheit zu sagen.
"Nein Marie, natürlich habe ich das nicht gewusst. Aber..." Ich rühre in meinem Kaffee und senke meinen Blick auf meine Tasse. "Ich hatte gestern in der Früh, als ich im Zug eingeschlafen bin, einen Traum. Ich träumte davon, dass der Zug, in dem wir saßen, einen Unfall hatte. Aber der Traum hatte nichts zu bedeuten, ich war eben total übermüdet. Doch dann hatte ich plötzlich ein Deja-vù... und den Rest kennst du ja."
Marie beißt sich auf die Unterlippe, sagt aber nichts. Also füge ich schnell hinzu: "Hör zu, wir hatten einfach nur Glück!"
"Das glaube ich nicht!" Marie schüttelt den Kopf. Jetzt bin ich tatsächlich verwirrt. Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und warte auf eine Erklärung, als ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnehme, die sich unserem Tisch nähert.
"Oh, Hallo Mia! Freut mich dich zu sehen. Geht es dir wieder besser? Ich dachte, du seist krank?" Diese aufgesetzte zuckersüße Stimme erkenne ich sofort und ich zucke schuldbewusst zusammen.
"Ähm, hallo Becca! Hast du heute frei?" Becca war meine Arbeitskollegin. Wobei das Wort "Kollegin" mehr als eine Übertreibung ist. Schon seit ich im 'Silvermoon' Cafè angefangen habe, hasst sie mich. Anfangs wusste ich nicht, was genau eigentlich ihr Problem mit mir war. Aber schon nach kurzer Zeit leuchtete mir der Grund dafür ein: Nico! Unser unglaublich gut aussehende Arbeitskollege. Becca war total in ihn verschossen und sah mich von Tag eins an als Konkurrentin. Was aber unbegründet war, da er sich weder für sie, noch für mich interessierte. Aber das war Becca egal. Sie suchte von Anfang an nach einer Möglichkeit mich loszuwerden und ich hatte ihr soeben eine geliefert. Natürlich war ich schlau genug gewesen, um mich mit Marie nicht im Silvermoon zu treffen, aber ein Treffen in der Öffentlichkeit, nach meiner angeblichen Magen-Darm-Grippe, die ich als Grund für meine Abwesenheit angegeben hatte (ich konnte ja kaum den wahren Grund nennen), war nicht gerade meine beste Entscheidung.
"Nein, aber ich habe meine Schicht getauscht. Aber viel interessanter ist, was machst du denn hier? Solltest du nicht im Bett bleiben und dich auskurieren?" Mit einem aufgesetzten Lächeln sieht sie mich an.
"Das ist sehr lieb von dir, dass du dich um mich sorgst, aber ich war soeben beim Arzt. Der meinte glücklicherweise, dass ich mir keinen Magen-Darm, sondern eine Zwei-Tagesgrippe eingefangen habe." lüge ich. "Das heißt, ich werde schon morgen wieder im Silvermoon sein."
"Na dann bis morgen, da wird sich Helmuth aber freuen", bringt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Helmuth war unser Boss, den wir eigentlich immer nach seinem Nachnamen "Herr Gross" nannten.
"Ja, bis morgen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag." Ich winke ihr lächelnd zum Abschied. Als sie die Bar verlassen hat, verdrehe ich die Augen.
"War das DIE Becca?" Marie sieht mich mit aufgerissenen Augen an und ich nicke zerknirscht. "Was geht bei der denn schief? Ist die nur deswegen in die Bar gekommen, um dir unter die Nase zu reiben, dass sie dich bei eurem Boss verpfeifen wird?"
Ich schüttle nur den Kopf. Gar nichts geht bei ihr, das ist ja ihr Problem, denk ich mir und muss mir ein Lachen verkneifen.
"Aber das bringt mich wieder zu meiner Theorie. Wenn du dich sogar auf der Arbeit krank gemeldet hast, dann glaubst du wohl selbst nicht so wirklich an Glück, oder? Ansonsten würde dich das kaum so sehr beschäftigen, dass du dir deine Chancen bei Nico entgehen lassen würdest." Sie zwinkert mir zu. "Was mich wieder zum eigentlichen Grund unseres Treffens bringt. Ich muss dir nämlich was sagen."
Ich verstehe nicht, warum sie so lange um den heißen Brei herum redet. "Jetzt machs doch nicht so spannend..."
"Gestern, im Zug, als du eingeschlafen bist, da hast du nämlich im Schlaf geredet." Sie macht eine Pause und ich versuche mich zurückzuhalten und sie nicht noch einmal zu tadeln, dass sie doch endlich auf den Punkt kommen sollte.
"Und was habe ich da gesagt?"
"Ganz genau konnte ich es nicht verstehen, nur folgende drei Worte: 'Zug', 'Blut' und 'Louise'. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, aber als ich dann vom Zugunglück gehört habe und mir dann dein Verhalten direkt vor dem Zugunglück vor Augen geführt habe..."
"Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst. Willst du mir gerade weiß machen, dass der Traum gar kein Traum war, sondern... "
"Eine Vision!", ergänzt Marie.
Ich schüttle amüsiert den Kopf, aber je länger ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien mir diese Erklärung. Der Traum hatte sich nämlich von Anfang an realer angefühlt als jeder Traum, den ich bislang hatte. "Zug, Blut, Louise", wiederhole ich in Gedanken.
"Angenommen, du hast Recht, warum hatte ausgerechnet ICH diese Vision?" Marie sieht mich ebenso fragend und unwissend an wie ich sie. "Und was noch viel wichtiger ist: Wer ist Louise?"
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