17. Kapitel - Die Leiden der jungen Lady
„Heute Nacht werde ich sterben."
Die Stimme, die durch den Saal klingt, ist einer Melodie gleich. Sie windet sich wie ein Band heller Töne durch den Großen Saal, schwingt in den hellen Dielen bis hinauf unter die hohe Decke, vibriert in den dünnen Scheiben der Fensterfront. Glockenhell und klar erklingt sie, weich und eine Spur tiefer, als ich es erwartet habe, doch auch der unüberhörbar leichte Bass im Ton, verbirgt nicht die schwere Zunge, die lallende Trunkenheit, die in den Worten liegt. Unisono zucken sie zusammen, alle, die um den langen Tisch im Großen Saal sitzen. Alle, außer mir. Denn längst habe ich es schon begriffen.
Noch während die Stille im Saal eingekehrt war, fiel es mir ein. Neblig und verweht drang es in mein Bewusstsein, wie gedämpfte, wispernde Stimmen hinter einer geschlossenen, fremden Tür, in einem geschlossenen, fremden Raum. Es lag da, vor mir, unangerührt und unbeachtet, wenn doch zum Greifen nah, als könnte ich es in die Hand nehmen, würde ich nur danach langen. Und das tat ich, als ich aufstand, von den anderen - jeder in seinen eigenen Gedanken festgekrallt - aufstand und meiner Wege ging. Die kleine Treppe zum Großen Saal hinunter und dann die in die Eingangshalle in Richtung Bücherzimmer. Wie in Trance bin ich über den dunklen Brokatteppich gestolpert und als ich das kleine Etwas, das ich heute Nachmittag noch für einen Koffer gehalten habe, aus dem Regal zog und Goethes Die Leiden des jungen Werthers wie selbstverständlich vor meine Füße fiel, da habe ich gleich gewusst, dass ich richtig lag. Mit zittrigen Händen habe ich die Erkenntnis in meinen Armen nach oben getragen und mit der Spitze meines dunklen Ballerinaschuhe die Tür aufgeschlagen. Es hat ein lautes Krachen gegeben, als die Tür auffiel und die Courtertons hoben beinahe unisono die rabenschwarzen Schöpfe. In heller Erwartung, das sicher, aber das, was folgte, übertraf - ich weiß es sicher - alles, was die kalten Köpfe und hohlen Herzen sich jemals hatten ausmalen können. „Ich glaube, ich hab es verstanden...", habe ich leise gesagt, weil es sich seltsam falsch anfühlte, die Stille des Raumes überhaupt zu durchbrechen. Und dann, mit einem Seitenblick auf Henry: „Nein, ich weiß es."
„Miss White, würden Sie uns bitte erklären, was...", hatte Todd Courterton eilig und schneidend begonnen, doch da hatte ich das Etwas aus meinen Armen schon auf der weißen Tischdecke abgestellt und die kleinen silbernen Schnallen links und rechts mit einem leisen Klacken gelöst. „Was haben Sie denn da?", fragte sein Bruder noch neugierig und auch Madame beugte sich interessiert vor, doch da hatte Henry Einhalt bittend die Hand erhoben. „Courtertons, lasst Luna machen. Sie weiß... was sie tut." Die kurze Betonung auf dem Wort des Wissens war mir nicht entgangen und vermutlich hätte ich unter anderen Umständen jetzt leise gelächelt, aber bei Gott mir ist nicht danach gewesen. Ganz und gar nicht.
„Das hier...", habe ich schließlich zu einer Antwort auf die zuvorgestellte Frage angesetzt, „...ist ein Magnetophon." Der schwere Deckel ist aufgeklappt und offenbarte einen Tonabnehmer - eingeschlossen in das lederne Case eines Koffers. Zwei kreisrunde Flächen hatten nun in der Mitte des Koffers frei gelegen und als ich diese angehoben hatte, offenbarte ich den interessierten Blicken der anderen zwei dünne Tonspulen, die darunter aufgerollt sind.
„Was machst du denn da?" Amy-Rose hatte gelangweilt die Arme vor dem ausladenden Busen verschränkt, doch das interessierte Leuchten in ihren Augen und die Art, wie sie sich vorbeugte um einen besseren Blick auf die beiden kreisrunden Platten zu haben, hatte sie denunziert.
„Ich spiele euch vor, was ihr schon früher hättet hören sollen", ist meine einzige Antwort und dann habe ich den linken der drei Drehschalter an der Oberseite in Position geführt. Der rillenförmige Lautsprecher im Deckel hatte noch hat ein leises Knacken und Klicken durch den Raum laufen lassen, bevor er leise und immer mehr zu vibrieren begann und dann ist sie da, die Wahrheit. Die unumstößliche Wahrheit.
„Heute Nacht werde ich sterben." Es ist das erste Mal, dass ich die Stimme von Lavinja Courterton vernehme, was seltsam ist, wenn ich zugleich weiß, dass es die letzten Worte sind, die sie in ihrem viel zu kurzen Leben gesprochen hat. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper, doch im Gegensatz zu allen anderen, kann ich mein Unwohlsein verstecken. Ein Raunen nämlich geht leise durch die Runde. Ich kann nicht erkennen von wem es ausgeht, doch das Entsetzen steht jedem einzelnen in das blasse Gesicht geschrieben. „Nein...", flüstert Augustus Courterton leise und seine Frau schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Amy-Rose und ihre Mutter reißen unisono die Augen auf und Jareths Schnauzer hüpft, als seine klumpige, vom Wein gerötete Nase überrascht zuckt. Einzig Todd Courterton und Henry zeigen keinerlei Reaktion. Der Hausherr bleibt ungerührt, nicht einmal seine langen Finger zucken, als die Stimme seine verstorbenen Frau erklingt und Henrys Blickt weilt weiter auf mir, auch dann noch, als der Ton der verstorbenen nach dem ersten Satz kurz verklingt. Er scheint überrascht, aber nicht allzu sehr.
„Familie Courterton, heute Nacht werde ich sterben und ich weiß es." Die Stimme, die durch den Saal klingt ist die einer jungen Dame ganz klar, doch der dunkle Ton der darin mitschwingt, klingt alt, müde und ausgelaugt, wie von einer in die Jahre gekommenen alten Frau, hinter sich eine zu ihren Vollen gekostete Lebenszeit: Lady Lavinja ist stark alkoholisiert - das ist nicht zu überhören - und ich frage mich instinktiv, wie viel Absinth Agatha Courterton ihrer Freundin wohl eingeflößt haben muss, in der Hoffnung allein, dass diese vergessen möge, bei welchen Machenschaften sie Mutter und Sohn erwischte. Doch trotz der unverhohlenen Schwere der Zunge klingt die Lady erstaunlich klar in Kopf und Geist und die Worte, die sie problemlos aneinanderreiht klingen schaurig ehrlich von den alten Wänden wieder.
„Ich weiß es, weil ich mir nur im allzu Klaren darüber bin, wer meinen frühzeitigen Tod herbeigeführt hat, ich weiß es, weil ich weiß, wer mein Mörder ist." Ein Zischen fährt durch den Raum und ich bin mir mit einem Mal ziemlich sicher, dass es von Augustus Courterton ausgeht. „Doch, Familie, bevor ich euch die Einzelheiten dessen darlege, wie mein Mord passiert ist, aus welchen Motiven heraus und wer schuldig ist, lasst mich von vorne beginnen. Lasst mich dort beginnen, wo alles angefangen hat, wo nun alles endet und wo nicht die Geschichte meines Lebens, sondern die meines Todes beginnt: Hier, auf Haven Hill. Haven Hill, dass nicht nur euch, sondern auf mir viele Jahre ein Zuhause gewesen ist, mich bei sich aufgenommen hat, als meine Tänzerkarriere sich dem Ende neigte, mir und meiner mittellosen Mutter eine Heimat, eine Zuflucht schenkte. Denn so sollte es sein, nicht wahr?" Ein Lachen klingt durch den Raum und ich brauche einige Sekunden bis ich verstanden habe, dass es das der Lady ist, dass blechern aus dem Stahlnetz des Lautsprechers an der Vorderseite des Tonabnehmers schallt. „Eine Zuflucht, ein Zuhause. Ein sicherer Hafen, ein Haven." Sie unterbricht sich und ich riskiere einen Blick in die Runde, doch alle anderen sind starr auf den Tisch gerichtet, wie um jeden Augenkontakt zu unterbinden. „Doch ich denke, Familie, dass ich niemandem von euch vor den Kopf stoße, wenn ich die Behauptung aufstelle, dass der Name von Haven Hill mehr Lügen erzählt als seine Bewohner zusammen. Und ja, ihr dürft an dieser Stelle sehr gerne beschämt die Köpfe einziehen, wenn euch auffällt, dass das sehr wohl etwas heißt." Niemand rührt sich. „Ich denke, dass ich niemandem vor den Kopf stoße, wenn ich sage, dass Haven Hill ein trügerischer Name für ein Anwesen ist, dessen Grundgerüst auf Geheimnissen, Lügen und Schuld erbaut wurde, ich denke, dass ich niemanden vor den Kopf stoße, wenn ich sage, dass ein Name und so auch der unseres Herrenhauses trügt und hässliche Wahrheiten hinter wunderschönen Fassaden verbirgt. Ist es nicht so?" Sie klingt beinah zynisch, was ich ob ihrer Situation dann doch ein wenig makaber finde. Aber wer bin ich darüber zu urteilen?
„Haven Hill ist nie das Zuhause gewesen, dass ich so wollte. Haven Hill war nie die Heimat, die ich so verdient hatte, nach meiner frühkindlichen Entwurzelung aus Russland. Haven Hill war nie ein sicherer Hafen, wie sein Name es verlangt.
Haven Hill - das ist nichts weiter als ein gebrochenes Versprechen." Ein kurzes Schweigen folgt, dann spricht sie weiter. Ihr Ton ist verändert. Weniger klar und die Worte gehen teils direkt ineinander über wie die verschwommene Sicht hinter einer verregneten Glasscheibe. „Die Familie in die Todd mich eingeladen hat war längst nicht mehr das, als was ihr euch mir die ersten Wochen angeboten habt. Eine liebenswerte Familie, eine treue Familie, gutherzig und wärmend. Nein. Die Courtertons, die Familie, wie ihr sie mir schon nach so kurzer Zeit nach meinem Einzug aufgezeigt habt, war längst kaputt, als ich vor acht Jahren meine ersten Schritte als Mutter eines edlen Hauses gewagt habe. Hört ihr, Familie, ihr wart längst kaputt, längst erkaltet, längst schon hinterhältig und intrigant, als wie ihr euch mir in den Folgejahren zu eurem Besten bewiesen habt!" Die letzten Worten wirken beinah wie ein Zugeständnis. Als habe sie sich all die Jahre nicht getraut sie zu sprechen und wollte nun umso mehr gehört werden. Vermutlich ist es auch so. Ein Stich fährt durch meine Brust und mit einem Mal empfinde ich großes Mitleid. Mit ihr. Mit ihr und mit Henry, weil ich mit einem Mal begreife, was er dort draußen auf dem Vorbau gemeint hat. „Habt ihr eine Ahnung, wie oft ich bereit war, zu gehen? Habt ihr eine Ahnung, wie oft ich meine Koffer, meine sieben Sachen gepackt hab und im Begriff war, alles, Haven Hill mit allem, was dazugehörte hinter mir zu lassen? Habt ihr ein Ahnung, wie oft ich neue Wege gehen wollte, nur um fort von hier zu sein? Und wie oft ich dann in der Eingangshalle stehen blieb und Addisons Porzellanpuppe auf der Treppe haben sitzen sehen und beschlossen habe, dass ich ja wohl nicht gehen könnte, ohne mich von den Mädchen zu verabschieden? Oder das eine Mal, als ich bereits nach meinem roten Mantel gegriffen hatte und Ella dann durch das Haus brüllte, dass es Creme Brûlée als Dessert geben würde und den Blick von Henry wenn er sich das auf der Zunge zergehen ließ, das wollte ich dann doch nicht missen, habt ihr davon eine Ahnung?" Ihre Stimme wird zunehmend hastiger, eiliger und härter und wie auch bei Marisha Jakov nimmt ihr Akzent zu, je geladener sie wird. Die Lady lacht wieder. „Nein. Nein, habt ihr nicht. Ihr habt keine Ahnung davon, wie ihr untereinander miteinander umgeht, weil jeder nur seinem eigenen Leben nachhängt, davon ungeachtet, was alle anderen den ganzen Tag treiben und - Himmel - ist doch egal, wer sich darum schert, wenn wer verletzt wird... Oder jemand stirbt. Sowie ich." Ihr Ton wird wieder etwas weicher. „Denn das ist es doch, oder? Niemand schert sich. Nicht einmal ein Mörder." Sie seufzt, doch es ist kein theatralisches Seufzen, sondern ehrlich traurig und niedergeschlagen.
Und ihre nächsten Worte schlagen ein, wie eine Bombe. Lassen die Luft erfrieren, bis sie in tausend Scherben von Eis und Wahrheit zerspringt. „Denn am Ende des Tages mag ich selbst die Entscheidung meines Todes getroffen haben... doch getötet, habt ihr mich alle. Jeder einzelne von euch."
Die Stille ist wesentlich und greifbar wie wabernder Rauch, der uns einhüllt und erfüllt.
„Marilyn hat mich getötet, mit ihren täglichen Anfeindungen über mein Äußeres, Tag ein Tag aus und Tag und Nacht. Amy-Rose hat mich getötet mit der rücksichtlosen Art und Weise wie sie mit mir umsprang, kaum fing sie an sich einzubilden, ich hätte eine Liaison mit meinem Stiefsohn. Jareth hat mich getötet - und vielleicht zu recht - als ich zum Ungut seiner Mutter eine erotische Beziehung mit Augustus angefangen habe, doch das wisst ihr sicherlich schon. Und Agatha, du meine gute Freundin, hast mich getötet, im Hintergehen, im Verrat an jemandem, die stets das Beste für dich wollte." Ein Schluchzen dringt an meine Ohren. Agatha Courterton hat das Gesicht in den Armen vergraben und weint leise und unregelmäßig. Und auch die Zuvorgenannten scheinen sich in ihrer Haut nicht ganz so wohl zu fühlen, denn Madame Marilyn hat einen Ausdruck im Gesicht als habe sie gerade bemerkt, dass ihr Kostüm doch nicht der letzte Schrei in Paris ist, Amy-Rose hat sich mit plötzlich großem Interesse dem Kettenanhänger zwischen ihren Brüsten gewidmet und Jareth buschige Brauen sind in Missmut soweit nach unten gerutscht, dass seine Augen nur noch zu erahnen sind.
„Meine Mutter, meine eigene Mutter, hat mich getötet, liebte den Okkultismus stehts mehr als ihr eigen Fleisch und Blut, Blut, das sie vor wenigen Minuten nur zu gerne an meiner Schläfe vergossen hat..." Selbst durch blechernen Lautsprecher des Magnetophons ist klar zu hören, dass Lady Lavinja schwer schluckt. Unmittelbar muss ich an den Beginn des Abendessen denken, als Marisha Jakov unter Tränen gestand, die Karten hätten ihr die Befugnis gegeben, sich für die gestohlene Schönheit an ihrer Tochter zu rächen und ich wirklich und wahrhaftig dachte, dies wäre das schlimmste Geheimnis, das an diesem Abend das Licht der Welt erblickt. Überflüssig zu erwähnen, dass dem nicht so war.
Doch die Lady fährt fort. „Und dann Todd, mein Todd, mein lieber, mein Liebster... hat mich getötet. Für seine Wut, seinen so gerechtfertigten Zorn über eine Affäre, an der ich mir mehr als sonst wem die Schuld gebe, die ich habe beenden wollen lange bevor es bereits zu spät war, auch wenn ich weiß, dass das keine Ausrede ist, nein wahrlich nicht. Mein Todd, dem ich mehr zu verdanken habe, als sonst wem in dieser Welt, denn Liebe auf den ersten Tanz, wie du es doch immer sagst, das war es doch wirklich, als du mich damals in London im Royal Opera House in Schwanensee gesehen und in deine Welt entführt hast, auch wenn ich damals noch nicht gewusst habe, was das bedeutet."
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es mir einbilde, doch im selben Moment, in dem der erste leise Schluchzer aus dem Magnetophon dringt, rinnt eine glänzende Spur, vereinzelt und dünn wie Garn über die hohen Wangenknochen des alten Hausherren.
„Und auch wenn Henry, mein kleiner großer Henry, es so gehasst hat, wenn du von Liebe auf den ersten Tanz gesprochen hast. Henry, mein schöner Henry, hat mich getötet und verletzt mit den kindlichen dummen Worten eines Vierzehnjährigen und der Flinte seines Vaters, dafür ein halbes Jahr nach dem Versterben von Bethany in Haven Hill aufgekreuzt zu sein und ich könnte schuldiger nicht sein, ich weiß es."
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Henry schwer schluckt, doch als ich kraftspendend nach seiner Hand greifen will, zieht er sie zurück. Noch nicht, formen seine Lippen stumm. Ich akzeptiere es, was auch immer das heißen mag.
„Und zuletzt getötet...", erfolgt dann wieder die leiser gewordene Stimme der Lady. „Zuletzt getötet hast du mich, Augustus. Du hast mich getötet weil du wusstest, dass ich ein Kind erwartete, dein Kind. Du hast mich getötet, weil ich ein Werkzeug war und nicht mehr für dich. Ein Werkzeug deinem Bruder zu nehmen, was ihm am liebsten war und eine Familienfehde voranzutreiben, die größer ist, als meine Geheimnisse es sind, aber nicht größer als die Reue, die ich verspüre, wenn ich daran zurück denke, was wir getan haben. Du hast mich getötet, in dem Augenblick, in dem ich dir nicht einmal erzählte, dass ich schwanger war und du trotzdem aus Angst, genau das könnte Realität sein, mir neue, unerprobte Medikamente für die Füße warfst, als ich mit Bauchklagen zu dir kam, wohlwissend, wo mein Klagen herrühren könnte." Sie weint jetzt heftiger. Und Augustus Courterton, der an diesem Abend schon hunderte und aberhunderte Tränen vergossen hat, bleibt stumm. In seinem Blick liegt nicht Angst, nicht Trauer, nicht Wut. Nur... Nichts. Ein kaltes, leeres Nichts und es ist allgegenwärtig. Ich habe kein Mitleid.
„Sag, Augustus, hättest du mir die Paracetamole, die deine Apotheke doch gerade erst eingefahren bekommen hatte, wirklich so unbedacht gegeben, hättest du mit Sicherheit gewusst, dass deine Ängste wahr waren und ich ein Kind von dir erwartete? Paracetamole, die deinem Kind vermutlich wohl körperlich geschadet hätten, Paracetamole, die mit der Einnahme von Alkohol, dem Alkohol, den deine geliebte Frau mir nur Stunden später Becherweise einflößte... tödlich enden können?" Bei den letzten Worten zittert ihre Stimme merklich, doch dann wird sie fest, ganz fest, beinah selbstsicher.
„Lasst mich, bevor ich gehe, noch eines sagen. Ihr habt mich getötet, jahrelang und mit jedem Tag mehr und mehr. Aber mein Tod selbst, den Tag, an dem ich gehe und gegangen sein werde, habe ich eigens gewählt. Als mir klar wurde, welche Absicht, nicht mörderisch, aber sehr wohl lügnerisch hinter den einander unabhängigen Taten von Agatha und Augustus steckte, habe ich mich selbst dazu entschlossen zu gehen, und diesmal für immer. Ich bin nach unten gelaufen, hier ins Bücherzimmer, habe ein paar Schläge meiner Mutter kassiert, die in Rage und Wut mein Gemüt nicht bemerkte und nun sind meine letzten Worte gesprochen. Mein Tod wartet oben in meinem Gemach in einer weiteren Flasche Absinth auf mich und wenn ihr diese Worte hört, dann habe ich es geschafft." Ein Lächeln klingt in ihrer Stimme und es ist das erste ehrliche Lächeln, dass ich auf Haven Hill erfahre. Und ich weiß nicht ob es ihre Worte oder diese traurige Tatsache ist, die mich für einen Moment die Augen schließen lassen, doch die zarte Spur aus hellem Salz rinnt dennoch über meine Wange. Ich wische sie nicht weg.
„Ich habe mich losgemacht. Von einem Schicksal, dass das meine und nie meines war. Und erst recht nicht das meines eigenen, geliebten Kindes. Denn ich werde sterben, das werde ich. Aber Haven Hill werde ich nicht verlassen. Es ist, wie Henry manchmal sagt und ich könnte es nicht anders, selbst wenn ich es doch so sehr wollte: Einmal Haven Hill, immer Haven Hill."
Es knackt leise, dann ist die Tonspule zu Ende. Niemand rührt sich, nicht einmal Todd Courterton scheint die Kraft zu besitzen, das Wort ergreifen zu können.
Und dann ist es Henry, der genau das tut. Der sich rührt und das Wort ergreift. Der aufsteht und meine Hand nimmt. „Ich möchte gehen, Luna. Gehst du mit mir?" Er sieht zuerst unsere Hände und dann mich an und Tränen schimmern in seinen bernsteinfarbenen Augen. Sie rinnen über seine Wangen, sanft und glitzernd, doch er macht sich nicht die Mühe sie fortzuwischen. Ich trete von dem Magnetophon zurück und verschränke meine Finger mit seinen.
„Wohin?", frage ich, doch ich kenne die Antwort bereits. Henry lächelt durch seine Tränen hindurch und erwidert den Druck meiner Hand. „In ein Niemals Haven Hill. In ein Irgendwo", antwortet er und dreht sich zu seiner Familie um, ein letztes Mal. „Lebt wohl und vielleicht bis irgendwann irgendwo", spricht er und nickt seinem Vater zu, ich weiß nicht welchem von beiden. Aber vielleicht ist das auch gar nicht wichtig.
Und dann gehen wir, Henry und ich, Hand in Hand. Wir verlassen den Großen Saal mit den hohen Decken, der weiten Fensterfront und dem steinernen Vorbau auf dem wir uns und einander geraucht und geküsst haben. Wir verlassen die gehässigen Worte, die geschrienen, die geweinten, die trauernden und zornigen. Wir verlassen die Angst, die Wut, die Lügen und die schmerzenden Geheimnisse anderer, fremder Leute. Wir verlassen die Dinge hinter uns, Vergangenheiten auf die wir lange keinen Einfluss mehr haben, wir verlassen, was uns klein und fest hält. Wir verlassen verzweifelte Zeiten.
Und vielleicht, ganz vielleicht ist Henry, mein schöner Henry, der erste Courterton, der Haven Hill verlässt und das nicht in einem Leichensack, sondern lebend, so lebendig, und vielleicht, ganz vielleicht ist Henry, mein schöner Henry, der erste Courterton, der nie mehr zurück kommt.
Ich sehe ihn von der Seite an, als wir sein altes Leben hinter uns lassen und lächle.
„Und jetzt?", frage ich ihn und er grinst schief. „Jetzt beginnt etwas Neues, Luna. Etwas ganz und gar Gutes. Jetzt beginnt eine Heimat, ein Zuhause, ein sicherer Hafen."
Und er hat recht, zumindest glaube ich das.
Oder weiß ich es?
Vielleicht von beidem ein bisschen.
ENDE
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