16. Kapitel - Eine Flasche voll Absinth
Ich finde es makaber, dass wir Zimt-Parfait essen, während Misses Jakov in genau dieser Sekunde vielleicht verstirbt."
Ich kann nicht. Ich kann nicht anders, als die Worte, die mir seit ein paar Minuten bitter und beißend säuerlich zugleich auf der rauen Zunge liegen, laut auszusprechen. Mit gesenktem Blick lege ich den schmalen Silberlöffel auf dem ich eben noch samtige Karamellcreme zu meinem Mund geführt habe, zimtig mit einem Hauch Orange wie an Weihnachten, neben meinem geschwungenen Glasschälchen zur Seite. Denn der Gedanke an das Fest in der Mitte des Winters, das Fest der Liebe, des Zusammenhaltes, der Gemeinsamkeit, die Zeit von weihnachtlicher Wärme, goldenem Glück und zärtlicher Liebe... - Dieser Gedanke steht dem Chaos, das vor meinem inneren Auge geistert konträr entgegen. Todd Courterton wirft mir einen vernichtenden Blick zu. „Hören Sie auf zu denken, Miss Luna, und widmen Sie sich ihrem Dessert", fordert er streng, doch bevor ich eine winzige Spur verunsichert den Kopf einziehen kann, hat Henry auf der weißen Tischdecke nach meiner Hand gegriffen. Das Blut, das noch immer an den Rändern seiner Fingernägel klebt - so sehr er auch versucht hat es fort zu schrubben - schimmert dunkel auf seiner blassen, fast weißlichen Haut und er versucht es zu unterdrücken, doch sein Daumen zittert beinahe unmerklich, als er beruhigend über meine Hand streicht. „Fühl dich frei zu gehen!", kräht Amy-Rose von der anderen Tischseite, doch ich entscheide mich, ihr die Genugtuung einer schnippischen Antwort meinerseits einfach gar nicht erst zu geben.
„Die Tatsache, dass wir genau das tun, hier sitzen und Zimt-Parfait essen, ist ein einziges Sinnbild für diese Familie, dessen sind Sie sich aber alle bewusst, oder? Die Aussagekraft dessen ist enorm", fahre ich unbeirrt fort. Der... - ich weiß nicht, wie ich es betiteln soll - Angriff auf Marisha Jakov hat etwas verändert. In mir, meinem Denken, meiner Sicherheit. Ich bin auf der Hut, noch mehr als zuvor, doch nach den vergangenen Stunden habe ich weniger denn je zu verlieren. Ich habe beschlossen mir keine Sorgen darum zu machen, dass Todd Courterton oder jemand anderes der anderen Lügner und Betrüger - wie Ella sie heute Nachmittag noch genannt hat - meiner Mutter unterbreiten könnte, dass ich ein unerzogenes und insbesondere unerziehbares freches Gör sei, denn nichts... rein gar nichts was einer von ihnen den Whites über mich erzählen könnte, würde das Wissen übersteigen, dass ich über diese Familie in die Welt posaunen könnte. Ich bin - gelinde ausgedrückt - entsetzt. Entgeistert, schockiert, fassungslos. Keines dieser Worte hat Bedeutung genug um das tiefsitzende Gefühl auszudrücken, dass in meinem Kopf mehr und mehr in mein Bewusstsein vordringt und mich realisieren lässt, mit wem ich es hier eigentlich zu tun habe. Ella mag es schon vor Stunden gesagt haben, erst jetzt ist es bei mir angelangt: Einer von ihnen ist ein Lügner, mehr noch als die anderen. Einer von ihnen hat ein Geheimnis, das im Laufe des Abends noch nicht an das verregnete Tageslicht gelangt ist. Einer von ihnen, hat ein Leben genommen, einer von ihnen hat die Lady ermordet und einer von ihnen war vielleicht soeben im Stande Marisha Jakov ihrer Tochter in den sicheren Tod folgen zu lassen.
Doch die Berührung von Henrys kühlen Fingern auf meinen hitzigen ist eine Wohltat und tut ihr Übriges. Ich seufze und es klingt ungewöhnlich laut in der Stille des Raumes, doch könnte mir dies wohl gleichgültiger nicht sein. Augustus Courterton aber nickt mir zustimmend zu: „Jawohl, Miss Luna. Ich kann Ihnen nur zustimmen. Wir sollten uns in unsere Gemächer verziehen." Seine Stimme ist ein wenig zu nachdrücklich und die Art wie er nach seinen Worten erst seine Frau und dann Jareth strafend ansieht - zumindest so strafend wie ein mopsgesichtiger Mann eben fähig ist zu gucken, lässt unmissverständlich darauf schließen, dass er dieses Dinner nur allzu gerne bald für beendet erklären will, um eine offene Rechnung schnellstmöglich zu begleichen. Wie auch immer das aussieht. Ich möchte es gar nicht wissen. Amy-Rose aber sieht von mir zu Henry, dann auf unsere verschränkten Finger, dann wieder zurück zu mir. „In die Gemächer? Aber, aber... wir wollen doch wegen einer alten Frau nicht gleich die Mauern hochziehen!", lässt sie verlauten und Jareth zwei Plätze weiter verdreht die Augen. „Cousine, es mag deiner äußerst geringen Aufmerksamkeitsspanne entgangen sein, aber besagte alte Frau ist auf dem Weg ins Krankenhaus, nach einem Kopfschuss. Im Gegensatz zu dir gibt es bei ihr tatsächlich etwas, dass da weggepustet werden kann und..." Doch Henry unterbricht ihn. „...und weil dieser Kopfschuss tödlich enden kann..." Er zögert. „...- oder vermutlich wird - sollten wir Misses Jakov vielleicht gerade jetzt die Ehre erweisen." Er nickt mir zu, als wären seine Worte eine Bestätigung der meinen, doch da hat Madame bereits das Wort ergriffen. „Oh, ich bitte dich, Henry", ergreift sie für ihre Tochter Partei. „Als habe der Kopfschuss da so viel zugerichtet. Die Mutter unseres Blondchens stand doch ohnehin dem Tod schon in den Startlöchern."
Augustus Courterton reißt entsetzt die Augen auf. „Marylin!", wettert er. „Ich muss doch sehr bitten! Zolle Misses Jakov doch etwas mehr Respekt, also wirklich!" Doch seine jüngere Schwester lässt nur ein selbstgefälliges „Hm" erklingen. Jareth dagegen verschränkt gebieterisch die Arme vor dem massigen Rumpf. „Du hast ja gut reden, Vater, nicht wahr? Sag, bist du es denn nicht gewesen, der mit Misses Jakov in dieselbe Richtung gelaufen? Ich bin mir nicht sicher..." Er wendet sich mit einer ausladenden Geste bei der sein gewaltiger Bierbauch augenfällig erzittert an den Rest der Runde. „Sollen wir ihm die Geschichte, er sei nur kurz im Nebenraum gewesen, wirklich glauben?" Seine dicken Finger malen lächerliche Anführungszeichen in die angespannte Atmosphäre zwischen den beiden Männern. Sein Vater aber scheint die Anschuldigung ehrlich zu bestürzen. „Aber wenn ich es doch sage!" stößt er aus, doch sein Sohn wischt seine Worte hinfort mit einer Geste als wären sie nichts mehr, als eine lästige Fliege. „Hast du vielleicht doch eher zuerst die Lady ermordet, weil du möglicherweise doch schon zuvor gewusst hast, dass du sie geschwängert hast und dir einen Bastard wie dieses Kind nicht leisten wolltest? Und ist ihre Mutter dir vielleicht auf die Schliche gekommen, kaum wart ihr alleine im Ostflügel?", hakt Jareth weiter und weiter nach, doch bevor er seine Ausführungen weiter ausschmücken kann, landet Augustus Courtertons geballte Faust mit einem lauten Krachen auf der festen Tischplatte. So laut, dass seine Frau und Madame Marilyn unisono zwei kurze, aber sehr spitze Schreie von sich geben, doch Jareth blickt unbeeindruckt, blinzelt nicht einmal. „Jareth!", donnert der zweite Mister Courterton. „Wie wagst du es so mit deinem Vater zu sprechen! Als Sohn hast du hinter mir zu stehen, aber pronto!"
Von der anderen Tischseite - meiner Tischseite - erklingt ein bitteres Schnauben. „Ach ja?" Ich erkenne Henrys Stimme beinahe nicht wieder, so falsch, so mager, so bitter klingt sie. „Hinter was haben deine... deine Söhne denn zu stehen..." Er mustert Augustus Courterton, der augenblicklich ein paar Zentimeter in sich zusammensackt und schiebt dann ein schnaubendes „Vater?" hinterher. Die Faust, die nun krachend auf die Platte des dunklen Tisches trifft ist stärker noch, lauter noch - beinahe habe ich Angst das feste Holz würde bersten. „Henry!", donnert Todd Courterton und die Referenz zu dem Tun seines jüngeren Bruders fällt mir erst sehr viel später auf. Er erhebt sich, beinahe eine Spur schwerfällig und die gesamte Aufmerksamkeit des Raumes ist auf ihn gerichtet, als er ruhig und ohne mit der Wimper zu zucken an Jareth gerichtet verkündet. „Dein Vater hat nicht versucht die Mutter von Lady Lavinja zu ermorden. Genauso wenig wie irgendjemand anderes in diesem Raum." Er faltet sachlich die Hände, bevor er - jetzt an alle gewandt - fortfährt: „Marisha Jakov litt bereits lange vor Lavinjas Tod an massiven Problemen ihrer Psyche. Schon als sie das erste Mal nach Haven Hill gekommen ist, bat sie mich um ein Darlehen für eine ärztliche Untersuchung des Leidens in ihrem Kopf." Irgendjemand - ich weiß nicht wer, vielleicht bin ich es selbst - atmet geräuschvoll, aber offenkundig erleichtert aus. „Und wie Miss Luna..." Ein Nicken seines glattrasierten Kinns deutet auf mich und ich zucke nicht zusammen, wie ich es vor ein paar Stunden, ein paar Minuten noch getan hätte. „...wie Miss Luna vorhin so treffend berichtet hat, war ihr sehnlichster Wunsch stets mit ihrer Tochter in Friede vereint zu sein." Ein hämisches Lachen erklingt. „Sie hat aber Friede zwischen Tochter und Kind ein bisschen anders definiert, als manche von uns, was?" Amy-Rose fährt sich kichernd durch das stumpfe Haar, doch abermals ist sie die einzige, die ihren Scherz witzig zu finden scheint. Nicht einmal Madame ringt sich ein freundliches Lächeln ab.
Henry aber scheint die Worte des Hausherren lange nicht so erleichternd aufzunehmen wie ich. „Ist das dein Ernst?", fragt er ohne den Hauch von Freundlichkeit in der Stimme. Todd Courtertons Miene bleibt ungerührt. „Was meinst du, Henry?" Doch dieser verschränkt verärgert die Arme vor der Brust und eine Sehne an seinem Hals tritt angespannt hervor. „Dass du uns minutenlang darüber im Unwissen lässt, ob gerade jemand von uns diesen Schuss abgefeuert hat, vielleicht?" Seine Mundwinkel zucken bedrohlich, doch die erkalteten Züge des Hausherren stehen dem seines vermeintlichen Sohnes in nichts nach. „Ich habe darauf gewartet, dass wir alle erst einmal etwas zur Ruhe kommen, Henry, das kannst du mir nicht vorwerfen!" Henry zieht beinahe gelangweilt eine Augenbraue hoch. „Kann ich nicht, Vater?" Wieder die bedeutende Betonung des letzten Wortes, ich versuche dazwischen zu funken.
„Henry, dein Vater... Mister Courterton", korrigiere ich mich hastig, „hat vielleicht recht..." Doch ich werde nahtlos übergangen. „Doch wurde uns diese Ruhe leider nicht gewährt", fährt der Hausherr fort. „Da Miss Luna hier es für wichtig hielt, uns allen noch einmal darauf aufmerksam zu machen, wie sinnbildlich der Verzehr unseres Zimt-Parfaits für uns spricht." Er würdigt mich nicht einmal eines Blickes während er das sagt und ich setze bereits zu einem bestimmten „Sir, ich..." an, doch jetzt ist es Henry, der mich unterbricht: „Wozu sie gutes Recht hatte, Todd. Es ist makaber Zimt-Parfait zu essen, nach dem, was nur vor Minuten passiert ist", gibt er mir recht und beinahe dankend - aber auch nur beinahe! - lege ich ihm eine Hand auf den Arm.
Augenblicklich spüre ich die Blicke zweier Anwesenden auf mir: Den von Amy-Rose, die mit ihren flaschengrünen Augen akribisch jene Stelle begutachtet, an dem meine Finger auf die nackte Haut von Henrys Arm treffen und den beinah spöttisch anmutenden des ersten Mister Courterton. „Hast du es wirklich so nötig, Sohn, für eine Frau in die Bresche zu springen?" Ich lasse von Henry ab und wende mich ihm zu. „Denken Sie wirklich, Sie haben ein Anrecht darauf, Henry weiterhin so zu nennen?", frage ich suggestiv und ohne darauf einzugehen, dass er über mich redet, als wäre ich nicht anwesend, doch Todds Miene bleibt ungerührt. „Sie sollten sich nicht in die Angelegenheiten fremder Familien einmischen, Miss Luna. Hat Ihnen das ihre werte Frau Mutter nicht beigebracht?" Ich lache leise, aber glockenhell. „Mit Verlaub, Sir" - Kurz werfe ich Henry einen Blick zu, wie als müsse ich mich vergewissern, dass es okay ist zu sprechen, doch er nickt nur auffordernd - „Das Einmischen in die Angelegenheiten Fremder wurde mir in dem Augenblick abgenommen, als jeder von Ihnen in den vergangenen Stunden nacheinander ein stichfestes Motiv des Mordes offenbart hat. Sind wir ehrlich: Es könnte doch wirklich jeder von Ihnen gewesen sein, oder?" Ich blicke von Marisha Jakovs leerem Platz über die beiden Herren Courterton die Tischreihe entlang bis zu Madame Marilyn. Nur Henry sehe ich nicht an. Ich will, ich kann nicht glauben, dass er etwas mit dem Tod von Lady Lavinja zu tun hat. Nein, wirklich nicht. Nicht weil ich ihm vertraue - denn das hat er mir schließlich ausdrücklich verboten - sondern weil ich es jedem einzelnen der übrigen mehr zutraue, als ihm.
Todd Courterton scheint unbeeindruckt, doch die Art, wie er sich vorbeugt und die alten, fleckigen Hände, die sicherlich nie harte Arbeit gesehen haben, auf der weißen Tischdecke vor sich faltet, denunziert ihn: Er ist offenkundig interessiert daran, zu hören, was ich zu sagen habe. Ich lächle. „Dann haben Sie also sicherlich einen ganz genauen Überblick über die Gesamtsituation, Miss Luna?" Seine Stimme klingt verhöhnend, doch ich bin mir fast sicher, so etwas wie Interesse darin zu hören. Ich lehne mich zurück. „Als Frau habe ich mir das doch gar nicht anzumaßen, Sir", lächle ich und die Art wie sein Adamsapfel leise hüpft verrät, dass er versteht, dass ich ihn hinhalte. Doch seine Stimme bleibt weiterhin beinah gelangweilt, als er spricht: „Dann wollen Sie also nicht kundtun, wem Sie am liebsten den Mord an der Lady nachsagen wollen?" Henry neben mir räuspert sich nun ebenfalls. In einer großen Geste wendet er sich mir zu und sagt verkündet laut, sodass klar ist, dass seine Worte nicht bloß mir gelten: „Oh, Miss Luna, nur zu gerne würde ich ihre Meinung zu dem ganzen hören. Sagen Sie doch mal, wer von uns hat den Mord begangen?" Dann sieht er seinen Vater an und seine vorigen Worte werden mit reiner Ironie revidiert. „Todd, das ist geschmacklos. Hör auf Miss Luna in diese Misere hineinzuziehen, sie hat nichts damit zu tun..."
Der rechte Mundwinkel seines Vaters hebt sich, beinahe amüsiert. „Henry, das hat sie bereits, glaube mir. Aber nun kannst du sehen, wie sie doch sind, die Frauen: Reden können sie viel, doch wenn sie es dann tun sollen, steckt nichts hinter ihren großen Klappen. Miss Luna hier ist das beste Beispiel dafür." Augenblicklich sitzt Henry schnurgerade in seinem Stuhl. „Du solltest aufhören so über Luna zu sprechen, Vater. Denn wenn du mir eines glauben kannst, dann das dieses Gespräch sonst gut und gerne ganz anders verlaufen kann." Der Hausherr von Haven Hill hebt spöttisch eine Augenbraue. „Ist das eine Drohung?" Henrys Miene bleibt ungerührt. „Nicht im Mindesten." Sein Vater nickt. „Besser so." Dann wendet er sich an mich: „Miss Luna, tun Sie nun noch kund, wen Sie für den Mörder halten?" Henry seufzt genervt. „Au ja, Luna, wer hier hat die größten Mörderqualitäten", fragt er im gleichen ironischen Ton von vorhin.
Ich tue, als würde ich ein paar Sekunden nachdenken, lasse abermals meinen Blick über alle Anwesenden schweifen, bis ich an einem von ihnen hängen bleibe. „Um ehrlich zu sein...", beginne ich gedehnt. „...haben Sie alle wirklich stichhaltige Motive...", wiederhole ich meine Worte von zuvor. „Madame Marylin hat die Lady aufgrund ihrer Schönheit stets beneidet, wegen des Platzes als schönste Frau des Hauses, ebenso wie ihre Mutter es auch getan hat. Jareth hat ihr die Affäre mit seinem Vater - vorausgesetzt er wusste davon - nie verziehen, genau wie Henry ihr nie verziehen hast, seine leibliche Mutter nahtlos ersetzt zu haben." Ich halte inne, denn die Stille, die um mich herum eingekehrt ist, ist beinahe zu genießen. Macht mich das zu einer von ihnen? Hoffentlich nicht. Aber vielleicht.
„Die Herren hatten beide aufgrund der Affäre guten Grund, die Schwangerschaft wäre schließlich für alle beide ein Beweis dafür gewesen, dass im Hause Haven Hill etwas nicht ganz so ehrlich läuft wie vorgesehen..." Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Augustus Courterton bei meinen Worten schuldbewusst den Kopf einzieht, doch die Züge seines Bruders sind beinahe vollständig glatt. „Amy-Rose...", fahre ich mit einem Seufzen fort und in dem Moment in dem ich die Worte spreche, fügen sich die Puzzleteile mehr und mehr ins großen Ganze. „Amy-Rose hat ein unübersehbares Faible für ihren Cousin und war in der Annahme Henry habe eine Liaison mit der Lady... und nur..." Mein Blick gilt nun einzig der Person mir schräg gegen über. „...nur Sie, Misses Courterton sind mir ein kleines Rätsel."
Alle Blicke wenden sich wie die Köpfe einer Reihe Marionetten zu Agatha Courterton, die leise aber sehr offensichtlich schwer schluckt. „Die Affäre ihres Mannes scheint ihnen wenig ausgemacht zu haben", stelle ich fest und Madame Marilyn nickt heftig. „Unsere kleine Agatha...", seufzt sie. „Natürlich, unser kleiner Engel", murmelt sie sarkastisch und nur gespielt bedauernd. „Natürlich hat du mal wieder kein Motiv, schließlich warst du ja noch all die Jahre gutfreund mit Lady Lavinja, oder nicht?" Sie lacht verbittert. „Unser kleiner Engel", wiederholt sie, bevor sie schließlich innehält. „Oder... hast du ihr vielleicht davon..." Sie deutet in Richtung Jareth. „...von eurem Rumgedingsel erzählt? Wenn ihr doch so eng wart?" Sie lässt ihre Hand wiedersenken, doch in der Richtung, in die ihr rotlackierter Fingernagel gedeutet hat, ist bei ihren Worten jemand ganz arg zusammengezuckt. Es ist Jareth dessen Gesichtsfarbe zunehmend dunkler wird.
Zwei Plätze weiter werden die Augen seines Vaters zeitgleich handtellergroß, ganz so, als würde er jetzt erst begreifen. Seine wulstigen Lippen verziehen sich angewidert und sein Blick gilt seinem leeren Dessertschälchen, als wäre dies um einiges mehr Interesse weckend, als die Antwort seines Sohnes, als Augustus Courterton fragt: „Sie hat es gewusst, oder? Die Lady... Sie hat von..." Er scheint etwas wie einen Brechreiz unterdrücken zu müssen. „...von euch gewusst, nicht wahr?"
Leise, ganz leise, dass es beinah nach der lauten Stimme ihres Mannes untergeht, beginnt Agatha Courterton zu weinen. „Ich...", beginnt sie mit erstickter Stimme, doch ihr Ton bricht, bevor sie einen anständigen Satz zustande gebracht hat. „Ich habe es doch nicht gewollt." Sie sinkt in sich zusammen und ihre langen Finger zittern. „Nein, ich habe es wirklich nicht gewollt." Ein Schluchzen dringt aus ihrer Kehle, doch niemand macht Anstalten sie zu trösten. Sogar Jareth sieht seltsam hilflos aus. „Nachdem sie Jareth und mich - wir waren unvorsichtig geworden - in der Nacht auf einem der Korridore erwischte, da..." Ihre Schultern zucken unkontrolliert, so heftig weint sie und ich habe hast ein wenig Mitleid mit der Frau, wie sie den Blick ihres Mannes sucht, der sie nicht einmal ansieht. Aber auch nur fast. „Da habe ich gedacht, dass ich doch nur ein wenig in ihrem Gedächtnis rumpfuschen müsste und sie würde vergessen, was sie gesehen hat, oder nicht?"
Todd Courterton am Ende der langen Tafel runzelt die Stirn. „Worauf willst du hinaus?", fragt er und seine Stimme ist klar und fest. „Der Alkohol!", fällt es mir plötzlich ein. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet. „Ella hat raue Mengen von Alkohol in ihrem Blut erwähnt...", erkläre ich hastig, bevor ich mich wieder an die weinende Frau wende. Amy-Roses Stimme, die ein verwirrtes „Wer ist Ella?" kräht, übergeht jeder von uns: Niemand, nicht einmal ihre Mutter scheint sich noch dafür zu interessieren, dass sie im Verlauf des Gespräches nicht mehr mitkommt. Nur Agatha Courterton öffnet den Mund um ihr zu antworten, als wäre eine ablenkende Erwiderung ein beständiger Rettungsanker im Meer ihrer eigenen, noch nicht offenbarten Schuld und dem grauen, harten Gefühl nach Reue.
Ich klinge streng. „Sie wollten Lady Lavinja mit Alkohol vergessen lassen, was sie gesehen hatte?", hake ich ungläubig nach. „Ich war verzweifelt!", verteidigt diese sich und schluchzt noch mehr. „Und bei Gott, ich hatte ja keine Ahnung von dem Kind, das sie erwartete, sonst hätte ich den Absinth jawohl nicht..." Doch sie wird unterbrochen. Die Stimme ihres Mannes gleicht dem ohrenbetäubenden Grollen eines dunklen Donnerns. „Du? Du bist für den Alkohol verantwortlich? Den Alkohol in ihrem Blut?", wettert er und seine Frau gibt sichtlich auf, seinen Blick aufzufangen. „Ich hab doch nicht gewollt, dass es so kommt! Ich wusste ja nichts von dem Kind, oh, ich hab das doch wirklich nicht gewollt", wiederholt sie sich, wieder und wieder.
Und was sie dann sagt, lässt das Schicksal und mich innehalten. Kann das sein?
„Lavinja, meine treue Freundin. Sie hatte doch immer gesagt, dass sie eher sterben würde, als ein Kind, ein eigenes, geliebtes Kind, in eine intrigante, verlogene und kaputte, so kaputte, Familie wie die Courtertons zu setzen."
Und ich begreife.
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