13. Kapitel - Ein fremdes Kind
Das massige Ungetier, das sich schweigende Stille nennt, wallt träge durch den Großen Saal, nachdem Agatha Courterton - mit einem Blick so selbstgefällig, wie ihn sonst nur Madame zustande gebracht hätte - wieder Platz nimmt und dann interessiert Richtung Tür schaut. „Hat Miss Martin schon immer so lange mit dem Dessert gebraucht? Da stimmt doch was nicht!", stellt sie fest und rümpft ihr kleines Näschen. „Hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht und das ist nicht das Dessert", murmle ich leise, doch laut genug, dass es doch alle gehört haben, denn Jareth schnaubt zustimmend, woraufhin seine Mutter ihm einen bitterbösen Blick zuwirft und er augenblicklich verstummt. Dann kehrt wieder Stille ein.
Henry neben mir starrt geistesabwesend auf die Tischplatte vor sich. Die vergangenen Sekunden hat er sich nicht ein Mal gerührt, sogar das Blinzeln seiner hellen Augen - die unmissverständlich davon zeugen, wie viel Wahrheit in Agatha Courtertons Worten liegen könnte - ist ausgeblieben. Apathisch stiert er ins Leere und regt sich nicht, einzig und allein der Druck, den seine starke Hand noch immer auf meine Finger ausübt, zeugt davon, dass er nicht nur körperlich, sondern auch geistig anwesend ist. Ich fühle mich seltsam hilflos.
Diesmal ist es dann Marisha Jakov, die das allgemeine Schweigen unterbricht. Sie lehnt sich vor und versucht an mir vorbei zu sehen, einen kurzen Blick auf Henry zu erhaschen. „Ich verstehe das nicht", stellt sie langsam fest und ihr russischer Akzent, der sich schwer unter ihre Stimme legt, klingt hart und forsch durch die emotionengeladene Atmosphäre des Raumes. „Ich meine, Augen hin oder her, mein Gott. Aber die dunklen Haare, die hat der Junge ja." Mit einer wegwerfenden Bewegung ihrer beringten Hand deutet sie auf Henrys dunklen Schopf und ausnahmslos alle Augenpaaren wenden sich ihm zu. Ich sehe zu ihm hinauf, doch er weicht meinem Blick aus. Dem Drang meine andere Hand in seinen Nacken zu heben und durch besagte dunkle Haare zu streichen, kann ich nicht widerstehen. Die Härchen in seinem Nacken stellen sich auf, als meine Finger sachte über seine Haut streichen, doch der dankende Druck seiner Finger verrät mir, dass ihm die Berührung gut tut. „Will ja nur sagen...", nimmt Mrs. Jakov den Faden wieder auf. „Woher kommen die courterschen, rabenschwarzen Haare denn dann?"
Mein Gott. Noch bevor sich alle Augenpaare von Henry ab und einer ganz bestimmten Person zuwenden, weiß ich, was jetzt kommt. Und obwohl mir alle in dieser Familie unwirklich und fremd erscheinen, spüre ich einen Teil des Schmerzes, den Henry in dem Moment fühlen muss, als sich die Aufmerksamkeit des Großen Saales von ihm auf Augustus Courterton verlagert. Ich wage noch zu hoffen, doch die Wahrheit ist zu eindeutig, zu klar, schwebt zu greifbar in der angespannten Luft vor mir. Das Verstehen zuckt durch meine Brust wie ein Stich und ist doch vermutlich nichts im Vergleich zu dem, was Henry im selben Augenblick fühlen muss. Die Realität ist gnadenlos und diese Erkenntnis trifft mich hart. „Sie...", spreche ich meine Gedanken, von denen ich weiß, dass sie die aller sind, aus. „Sie sind Henrys Vater?" Augustus Courterton zuckt zusammen, so als wäre die Wahrheit erst durch das laute Gesprochensein Realität geworden, als wäre das Wissen, dass er Jahre lang hat mit sich tragen müssen, erst auf einen Schlag Teil seines Bewusstseins geworden.
Er beginnt zu weinen. Bitterlich, beinah herzzerreißend, aber ab einem gewissen Zeitpunkt an diesem Abendessen habe ich aufgehört, mein Mitleid an Menschen zu verschwenden, die es nicht verdient haben. Und ob er das tut, steht seit ein paar Minuten absurd in der Schwebe. Tränen rinnen ihm über die alte Haut, glitzern zuerst verräterisch in den Winkeln seiner hellen Augen und bahnen sich dann in feuchten Schlieren ihren Weg über seine fleischigen Wangen, bis sie sich im Kragen seines Hemdes verfangen und den Stoff verdunkelt einfärben. „I-ich...", beginnt er, doch bevor er einen weiteren Satz hervor bringen kann, versagt seine Stimme leise und krächzend. Ein durchsichtiger Tropfen bildet sich an der Spitze seiner klumpigen Nase und er zieht diese ohrenbetäubend laut und ekelerregend hoch, noch bevor seine Frau - plötzlich wieder ganz die fürsorgliche Gattin - ihm tröstend die schmale Hand auf den fleischigen Oberarm legt und ihm ein kleines Stofftaschentuch reicht. Ein lautes, abartig lautes Tröten erklingt, als er sich geräuschvoll schnäuzt und sich dann mit der flachen Hand müde über die errötete Augenpartie fährt. Der gleiche müde Ausdruck, den ich bereits vorhin im Gesicht seines Bruders beobachtet habe, liegt in seinem Blick, als er langsam nickt. „Ich... ja," antwortet er dann an mich gewandt, aber ich weiß, dass die Erwiderung nur mir gilt, weil er den Augenkontakt mit Henry um jeden Preis vermeiden will. Mit einem Mal überkommt ihn ein Schluchzen. Seine Schultern zucken unkontrolliert und er vergräbt das Gesicht wie ein beschämtes Kind in den zitternden Händen. „Ich... ich konnte doch damals nichts dazu!", weint er und in seinem Ton klingt etwas mit, dass ich nicht deuten kann. Ist es Enttäuschung? Trauer? Oder Reue? „Ich habe doch nicht gewollt, dass es soweit kommt, ja wirklich nicht!"
Jemand lacht. Es ist ein kaltes, schnaubendes Lachen, eisig wie der Frost eines kalten Novembermorgens und ich muss mich zu ihm herum drehen, um mich zu vergewissern, dass es wirklich aus seiner Kehle kommt, denn so trocken habe ich Henry noch nicht erlebt. „Du meinst, du hast nicht gewollt, dass ein Kind dabei entsteht, wenn du die Frau deines Bruders vögelst?" Er sieht auf und seinem Onkel, der jetzt sein Vater ist, direkt in das verweinte Gesicht. „Herzlichen Glückwunsch, du hast dein Vorhaben gleich zwei Mal gegen die Wand gefahren." Seine Mundwinkel zucken und ein dunkler Schatten huscht über seine unterkühlte Miene. Hass liegt darin, nebst etwas anderem, etwas weicherem, beinahe verletzlich. Ich drücke seine Hand ein wenig mehr.
„S-so habe ich... so habe ich das doch nicht gemeint, ich..." Augustus Courterton weint noch mehr. „Ich würde nie bereuen, einen so wundervollen Mann wie dich, also...", beginnt er, doch bricht ab, als Henry sich sichtlich versteift und ihn mit einem einzigen grimmigen Blick zum Schweigen bringt. „Nur... dass Bethany so darunter gelitten hat, das ist das schlimmste gewesen. Es hat sie krank gemacht, hat sie einmal gesagt und als der Doktor meinte, er könne sich ihr plötzliches Leiden über all die Jahre nicht erklären, da... da..." Er beginnt zu zittern und seine Unterlippe bebt. „...da hab ich dann erst gewusst wie krank."
Henrys Miene verhärtet sich und ich bin mir beinahe sicher, dass er das gleiche denkt wie ich. Dass die diagnostizierte Tuberkulose ein Vorwand für körperliches Leiden eines eigentlich seelischem war. Seine Finger krallen sich schmerzhaft in den Stoff meines Kleides und die Haut darunter, doch ich kann es ertragen. Ich muss.
„Ich... ich hab das doch alles wirklich nicht gewollt", wispert Augustus Courterton und wischt sich mit dem Saum seines Hemdes die Tränen von den Wangen.
Und beinahe noch leiser erklingt daraufhin die Stimme seines Bruders: „Wirf mir nie wieder vor, dir etwas genommen zu haben, wenn du mir das nahmst, was mir je am meisten bedeutet hat: Eine Familie mit der Frau, die ich liebe." Seine Worte bleiben für ein paar Sekunden in der Luft hängen, wallen durch den Raum wie getragene Wellen eines ruhigen Meeres, unter dessen Oberfläche dunkle Wassermassen wüten und tosen. Ich versuche sie zu greifen, sie in Einklang mit dem Mann zu bringen, der Weiber als Anhängsel und notwendige Übel sieht. Aber es passt nicht. Ich frage mich instinktiv, ob Henrys Existenz ihn dazu gemacht hat. Eine schreckliche Vorstellung. Für beide Männer. Bin ich zu empathisch? Vermutlich.
Doch Henry scheint die Worte des Hausherren sehr wohl greifen zu können, doch gänzlich andersartig als ich. „Eine Familie?" Er lacht wieder, viel zu laut klingt das bittere Geräusch durch den Raum, viel zu laut, viel zu unpassend, viel zu fern der Realität, wie die surreale Fantasie eines alten Theaterstücks, in dem niemand und alle die Hauptrolle spielen. „Eine Familie, ja? Mit der Frau, die du liebst?" Seine Stimme könnte spöttischer kaum klingen und seine Finger streichen wie beiläufig langsam über mein Knie, als er seinen Griff löst und dann betont ruhig aufsteht. Eine Gänsehaut bleibt auf meinem Oberschenkel, angenehm, beinah zehrend, doch der Henry, der nun hinter seinen Stuhl tritt und auf Todd Courterton zu, ist nicht der, nachdem mein Körper verlangt, ganz und gar. „Wann, Vater", - er spuckt das Wort, als wäre es eine Beleidigung und ich sehe beide Brüder kurz, aber fast unmerklich zusammenzucken - „Wann hat dir Familie je etwas bedeutet? Wann war die Liebe zu deiner Frau jemals von Belang? Etwa, als du mir als kleiner Junge die Seele aus dem Leib geprügelt hast, damit ich Zucht und Ordnung lerne?"
„Henry, bitte, das ist wirklich kein Thema für...", beginnt Todd Courterton in sachlichem Tonfall und steht auf, doch er wird einfach übergangen. Henrys Augen glühen vor Zorn, als er mit ausgebreiteten Armen verkündet: „Oder etwa als du mich mit dreizehn deinen Huren vorgestellt hast, damit ich - ich zitiere - ein Mann werde und du Angst hattest, ich könnte eine perverse Schwuchtel, eine dreckige Tunte werden, wenn ich - Gott bewahre - nicht alsbald lernte, wie man die Weiber zu händeln hat?" Er schnaubt spöttisch und tritt dann noch näher an den Hausherren heran, dessen Miene wie gewohnt neutral und ausdruckslos bleibt, doch gerade als dieser zu erneuten Worten ansetzen will, fährt Henry fort und wie zuvor Augustus Courterton wird nun sein älterer Bruder am Hemdskragen gepackt. Henrys Stimme ist nur ein Zischen, ein wütendes, hasserfülltes Zischen, als er auf seinen vermeintlichen Vater hinabblickt. „Wo war die Liebe zu deiner Frau, als meine Mutter im Sterben lag und du eine Geschäftsreise nach Ägypten angetreten bist und nicht mal Worte des Abschieds für sie übrig hattest? Hast du auch nur den Fünkchen eines Gedankens daran verschwendet, dass sie dir Kinder hinterlassen hat, Kinder für die du dich deinen Lebtag nicht interessiert hast, vor allem weil die Schwestern zu deinem großen Leidwesen Mädchen waren und Weiber nun mal - ich zitiere wieder - unbrauchbar sind?!" Mit jedem Wort wird er lauter und Todd Courterton ist imstande abwehrend die Arme zu heben, als Henry die Stimme weiter hebt. „Nein, hast du nicht! Hast du niemals! Und du weißt es! Also wag es nicht noch einmal von Familie und Liebe zu deiner Frau zu sprechen, hörst du, Vater? Hörst du?!"
„Du solltest mich loslassen, Henry, dann...", können wir über alles sprechen. Es ist klar, dass dies die Worte sind, mit denen Todd Courterton seinen Satz beenden will, doch diesen Gefallen tut Henry ihm nicht, im Gegenteil. Ein hässlichen, knackendes Geräusch klingt hallend durch den Großen Saal, nachdem Henry ausgeholt hat und die Nase seines Gegenübers mit nur einem einzigen Schlag bricht. Marisha Jakov und Madame Marilyn schreien unisono auf, doch der Hausherr, der hinter seinem Stuhl am Ende der Tafel steht, verweilt regungslos und ohne auch nur den Ansatz eines schmerzerfüllten Stöhnens. Beinah als würde ihm in diesem Augenblick klar werden, dass er es verdient. Als wäre die Erkenntnis, das Henry recht hat, schmerzvoller, als das blutige Pochen in der Mitte seines alternden Gesichts.
Ich aber bin aufgesprungen. „Henry!", rufe ich schockiert aus und stürme auf ihn zu, als er nach einem weiteren Schlag, gerade imstande ist, zu einem dritten auszuholen. Ich bin schneller bei ihm, als seine geballte, bereits bläulich unterlaufene Faust auf der blutenden Haut von Mister Courterton landet und während alle anderen in eine verfrorene Schockstarre verfallen sind, trete ich hinter ihn und will ihn von seinem Tun abhalten. Doch noch bevor ich mit all meiner Kraft seinen Arm festhalten kann, fährt er mich an: „Bleib wo du bist, Mädchen!" Er dreht sich nicht einmal zu mir um und setzt einen weiteren Schlag mit weiß hervortretenden Fingerknöcheln, auf den linken hohen Wangenknochen seines Gegenübers. Dieser wehrt sich nicht einmal.
„Henry, ich bitte dich, hör auf!", versuche ich es sanfter, doch meine Stimme wird lauter mit jedem zunehmenden Geräusch seiner Hand im Gesicht des anderen. Hilflos greife ich nach seiner Schulter und versuche ihn zu mir zu drehen, doch er ist stärker und schüttelt meine Finger mit Leichtigkeit wieder ab. „Henry, du bringst ihn noch um!", rufe ich und nehme all meine Kraft zusammen, als ich meine Arme von hinten um seinen Oberkörper schließe und eine Arme an weiteren Aktionen hindere. Dies gelingt mir für ganze zwei Sekunden, dann hat Henry sich befreit und fährt zu mir herum. Ich zucke merklich zusammen, als der Zorn, die Wut in seinem Blick mit einem Mal mir, und nur mir, gilt. „Luna, halt den Mund!", spuckt er aus, doch seine beleidigenden Worte perlen an mir ab, wie Tropfen an einer Fensterscheibe. „Nein, tue ich nicht!", entgegne ich standhaft - einzig bemüht ihn davon abzubringen einen zweiten Courterton innerhalb einer Woche gen Jenseits zu schicken. Mit der Reaktion, die dann folgt, habe ich allerdings nicht gerechnet.
Als würde sich all die flammende Wut, die in seinen hellen Augen lodert mit einem Mal verlagern, tritt er bedrohlich langsam auf mich zu und ich weiche, nicht angstvoll, aber Vorsicht waltend, zurück. „Ach ja, Luna? Tust du nicht?" Er schnaubt und sieht mich spöttisch von oben herab an, im selben Moment in dem seine Stimme wieder lauter wird. „Halt dich aus Angelegenheiten fern, die dich nichts angehen, Mädchen!", brüllt er nahezu und ein Spucketropfen stiebt aus seinem zu einer wütenden Maske verzogenen Mund. „Rein nichts hiervon hat dich zu interessieren, hörst du? Tu nicht so, als könntest du irgendwas verstehen! Tu nicht so, als könntest du mich verstehen!" Er drängt mich immer weiter zurück und ich gewähre ihm seine Wut. „Du bist ein Kind, ein dummes Mädchen, nichts weiter!" Seine Finger schließen sich in Windeseile um meinen Hals, nicht fest, aber eng genug, dass ich noch einen Schritt weiter zurück treten will. Nur, dass da kein weiteres Zurück ist und ich hart mit dem Hinterkopf gegen die steinerne Wand pralle. Ein ächzender Schmerz zieht bis hinunter in meinen Nacken, doch ich kann das Stöhnen gerade so unterdrücken.
„Du weißt von nichts, Luna. Nichts von mir, nichts von dieser Familie, nichts von Haven Hill oder dem harten Leben." Sein Ton wird leiser und mir fällt erst jetzt wieder auf, wie viel größer er als ich ist, denn sein Körper ragt weit vor mir auf, als er sich zu mir hinab beugt, den Kopf neben mein Ohr senkt. Er spricht leise, aber laut genug, dass es beinah betäubend ist. „Ich habe noch nicht herausgefunden, ob es Tapferkeit oder reine, pure Dummheit ist, das dich antreibt, aber so oder so..." Der Griff seiner Hand um meinen Hals wird enger und ich spüre, wie er mir langsam aber sicher den Atem abdrückt. Das Schlucken fällt mir schwer und bevor ich es verhindern kann, entflieht mir ein leises, geröcheltes „Henry, bitte", woraufhin er leise lacht. „Das Bitten kannst du dir für später aufheben, glaube mir." Gegen meinen Willen lösen seine Worte einen angenehm kühlen Schauer aus, der über meinen Rücken fährt und mich leise schaudern lässt, wovon ich sicher bin, dass er es mitbekommen hat, denn ich höre das Schmunzeln in seiner Stimme, als er spricht: „Tu uns allen und dir selbst doch einen Gefallen und höre auf dein hübsches Näschen in die Angelegenheiten anderer zu stecken, in Dinge, die du nicht verstehst." Sein Daumen, an dessen schwerem Druck ich das stetige Pochen meines lebendigen Pulses spüre, streicht beinahe sanft über die zarte Haut meines Halses und ich kann spüren, wie er sein Gesicht noch näher an meine Haut senkt und langsam einatmet, beinahe gierig.
Doch ich nicke nur. Ich weiß, dass er recht hat, ich selbst fühle mich fremd und unpassend in dem intimen Beisammensein einer alten, aufbrechenden Fehde, doch all dies gefestigt aus Henrys Mund zu hören, tut mehr weh, als der Griff um meinen Hals.
Doch ich nicke nur und versuche das Stechen in meiner Brust zu ignorieren, von dem ich nicht weiß, ob es durch seine Worte oder die geringer werdende Luftzufuhr kommt.
Ich nicke nur und meine Stimme klingt trotz seiner Hand, die mir das Schlucken erschwert ungewöhnlich fest, als ich flüstere: „Ich weiß, Henry, ich weiß." Ich spüre das leichte Dröhnen in meinem Kopf als nächstes Zeichen des Sauerstoffverlustes, doch ich schaffe es eine Hand zu heben und meinen Blick mit seinem zu verhaken, als ich mit den Fingern über seine Wange streiche. „Du hast recht, Henry."
Sein Griff lockert sich augenblicklich und ich unterdrücke den Drang augenblicklich nach Luft zu schnappen, sauge nur gierig die Luft ein und den Duft, den Henry durch den dabei nicht eingebüßten Abstand, verströmt. Beinah lechzt mein Körper danach seine Hände wieder auf meiner Haut zu spüren, aber ich bin stärker. Stärker als der Wille meines Körpers und auch stärker als Henry, den mit einem Mal, alle Kraft verlassen zu haben scheint.
Sanft und ohne große Mühe, aber bestimmt und beinahe eine Spur forsch, lege ich ihm eine Hand auf die Brust und schiebe ihn von mir weg, woraufhin er wie von selbst zwei oder drei Schritte zurück taumelt. „Du hast recht, Henry", wiederhole ich meine Worte von zuvor und hebe dann erneut die Hand an seine Wange. Diesmal ist es mein Daumen, der über die Haut unterhalb seines Kiefers fährt, als ich flüstere: „Und ich würde dir diesen Gefallen tun, wenn ich wirklich wüsste, dass du das wirklich willst." Sein dunkler Bartschatten erzittert unter meiner Berührung, als ich meine Finger sinken lasse und dann halb an ihm vorbei trete, auf seiner Höhe jedoch noch einmal innehalte. Ich sehe zu ihm hinauf. „Ich weiß aber, dass du das nicht tust, Henry."
Dann gehe ich an ihm vorbei und will mich wortlos wieder setzen, als er mich am Handgelenk zurück hält. Ich bin nicht überrascht über die Veränderung in seinem Blick, als er mich ansieht. Das Zucken in seinem Kiefer ist ein letzter Zeuge davon, dass er versucht, die Contenance zu behalten, doch seine Fassade bricht auf, als er leise, so leise, dass ich weiß, dass die Worte für mich und nur für mich bestimmt sind, spricht: „Nein. Nein, das tue ich nicht, Luna."
Und während der Rest seiner Familie uns entweder entgeistert beobachtet, sich desinteressiert abgewandt oder der eigenen gebrochenen Nase gewidmet hat, leuchtet in Henrys Augen etwas auf, dass tiefer geht, als das unterkühlte Eis, der hämische Spott, das schnaubende Amüsement der vergangenen Stunden. Etwas Verletzliches, etwas Kleines, etwas Ängstliches. Etwas Kindliches.
Und als ich Henry ohne ein weiteres Wort die Hände um die Schultern lege und er sein Gesicht in meinen Haaren vergräbt, da halte ich nicht mehr, als einen kleinen, verzweifelten Jungen in meinen schützenden Armen. Tränen benetzen meinen Nacken und der feste Druck seiner plötzlich nicht mehr ganz so starken Arme ist Danke genug, denn entgegen dem, was er zuvor behauptet hat, glaube ich nun doch mir anmaßen zu können, eine Ahnung davon zu haben, wie viel ihm dieser Augenblick bedeutet, als Henry leise und still wie ein verschüchtertes Kind zu weinen beginnt.
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