12. Kapitel - Blutsbande
Die eingekehrte Stille wird mit jeder Sekunde die vergeht, wesentlicher. Wesentlicher und vor allem unangenehmer. In wenigen Minuten wird die Nachspeise hereingetragen werden und niemals habe ich einer mir noch unbekannten Süßspeise so sehr entgegengefiebert, wie in diesem Augenblick. Ich flehe in Gedanken, dass Ella und die Mädchen mich aus diesem Schweigen erlösen, doch für das Erfüllen dieses Gefallens muss ich mich noch eine kleine Weile gedulden.
Ein paar Mal fange ich Henrys Blick in dem allgemeinen Schweigen auf, der mich beinahe entschuldigend ansieht, ganz als müsste er für seine irrsinnige Familie um Verzeihung bitten. Jedes Mal seufzt er dann leise und ich höre seinen Kiefer schwer knacken, bevor er sich etwas zu schnell wieder abwendet und ich die Chance habe einen Blick auf den Ausdruck in seinen hellen Augen zu erhaschen.
Seufzen tut ebenfalls neben mir Marisha Jakov, doch nur für sich, fast still und in sich gekehrt. Einmal riskiere ich einen Blick und sehe, wie ihr wieder Tränen in die Augen gestiegen sind. Sie weint leise und es ist nicht zu übersehen. Doch ganz im Gegensatz zu der Anteilnahme ganz zu Anfang des Dinners, in dem Henry sich bei ihrer Tochter bedankte und Todd Courterton unterkühlt ein paar Worte der Empathie und des Mitgefühls zum Besten gab, scheint nun jeder ganz bei sich zu sein: Wen scheren da schon die paar Tränen einer alten, verbitterten Frau.
Auf der anderen Seite des Tisches starrt sogar Amy-Rose ungewöhnlich still auf das helle Weiß der Tischdecke, ganz so als habe ihr das vorlaute Ausstoßen des Gerüchtes um Henry und seine Stiefmutter die Augen geöffnet, dass es sinnvoller ist, wenn sie den Mund hält. Und auch ihre Mutter scheint mit einem Mal die abblätternde Farbe ihrer Fingernägel um einiges interessanter zu finden, als das Geschehen um sie herum. So als habe sie verstanden, dass sie die Kunst der Grenzüberschreitung lange optimiert hat.
Einzig Agathas Stimme durchbricht die Stille, zumindest so durchbrechend, wie der Ton einer schweigsamen, rückgratlosen und schüchternen Dame, der soeben eine Affäre mit ihrem eigenen Sohn anerzählt wurde, eben sein kann. „Augustus, Schatz...", murmelt sie leise und nur an ihren Mann gewandt, aber es ist so still im Großen Saal, dass ich mir fast sicher bin, dass alle - einschließlich mir selbst - gebannt zuhören. „So hör' mir doch zu... ich bitte dich...", fleht sie mit reichlich wenig Nachdruck und legt ihm beruhigend die Hand auf die massige Schulter. „Das ist nicht so, wie Marilyn es darstellt, ich schwöre es dir... Augustus, hör mich doch an", murmelt sie traurig und in ihrer Stimme schwingt ein beinah bettelnder Ton mit. Doch Augustus Courterton, der in den vergangenen Minuten dazu übergegangen ist, stetig nach der Weinflasche zu greifen und deren dunkelroten Inhalt gnadenlos in seinem randvoll gefüllten und dann wieder auf den letzten Tropfen leeren Glas zu versenken, schenkt ihr keinerlei Beachtung. Im Gegenteil: Sein Blick ist starr und monoton nach vorne an die Wand gegenüber von ihm gerichtet, ganz so als wäre die steinerne Mauer von Haven Hill von viel größerem Interesse, als seine Frau es ist. Doch diese gibt nicht nach. „Augustus, Schatz, sieh mich doch an, bitte..." Sie hebt die zittrigen Finger an seine Wange, als versuche sie, allein durch die zarte Berührung ihrer Hand, sein Vertrauen zurück zu erschleichen. „Ich verspreche dir-", beginnt sie abermals, doch im selben Moment schlägt der zweite Mister Courterton die Hand seiner Frau fort. „Agatha, halt verdammt nochmal endlich den Mund!", donnert Augustus Courterton und umfasst das Weinglas mit seinen dicken Fingern gefährlich fest. „Sag mir nur noch eines, Weib, und dann sei still: Hattest du eine Liaison mit..." Seine Mundwinkel verziehend sich angeekelt. „...mit unserem Sohn?"
Die Aufmerksamkeit des Saales gilt nun unvermindert den Worten von Henrys Onkel und ich kann nicht umhin, mich eine Spur aufrechter hinzusetzen, gerader, vorgelehnter noch, um ja kein Wort der folgenden Erwiderung zu verpassen. Agatha Courterton aber, der die Situation und allem voran die ungeteilte Aufmerksamkeit wohl äußerst unangenehm und schambehaftet zu sein scheint, spricht leise, beinahe zu leise um sie verstehen. „Ganz so einfach ist es nicht, aber glaube mir, wenn ich sage, dass..."
„Genug!"
Das klare Abstreiten von Madame Marilyns Vorwurf bleibt aus und es ist unverkennbar, wie Henrys Onkel erst zusammenzuckt und das Glas in seiner kräftigen Hand, dann in hundert und aberhunderte Einzelteile zerspringt. Es gibt ein klirrendes und dann ein schwappendes Geräusch, als der Wein nicht auf der Tischdecke, sondern auf dem weißen Hemd von Augustus Courtertons Sitznachbar aufkommt. „So pass doch auf!" Roter Wein färbt den hellen, glatten Stoff von Todd Courtertons Oberhemd wie Rinnsale dunklen Blutes, hinterlässt Schlieren und dunkle Tropfen auf dem makellosen Weiß. Er ist aufgesprungen und es ist als wäre die eisige Kühle, die sein Gesicht die vergangenen Stunden beherrscht hat, wie aus seinen Zügen gewischt. Wut stiert in seinen Augen und sein Kiefermuskel zuckt, als er leise, aber laut genug, damit alle es hören können, zischt: „Hast du eine Ahnung, wie viel dieser Anzug wert ist, Augustus?" Die Erzürnung sprüht in seinem Blick und ich frage mich instinktiv, ob es wirklich der Wein auf seiner Kleidung ist, der diese hervorruft. „Das Hemd allein ist teurer als deine gesamte Aufmachung, glaube mir. Wie kannst du nur?" Seine Stimme ist leise und seine Züge betont beherrscht geglättet: Einzig das Lodern in seinen Iriden unterstreicht seine Worte. „Wie kannst du nur, wie schaffst du es nur, alles mit deinen diebischen Fingern in den Dreck zu ziehen!?", spuckt er aus und jetzt bin ich mir wahrlich sicher, dass er nicht nur von dem teuren Hemd spricht, was nun roteingefärbt an seiner festen und ungewöhnlich muskulösen Brust für einen Mann seines Alters klebt. „Du nimmst dir, wie es dir gerade passt, nicht wahr? Alles was mir lieb und teuer ist, hab ich recht? Du hast doch keine Ahnung, was mich dieser Anzug gekostet hat!"
„Vater", unterbricht Henry den ersten Mister Courterton mit einem Mal forsch, aber nicht unwirsch. „Es handelt sich doch bloß um ein Hemd... Zieh dir halt ein neues über und wir können mit der Nachspeise beginnen", versucht er sichtlich die Situation zu entspannen, aber ich komme kurz von dem Gefühl nicht los, dass er es genießt so zu sprechen, als habe er nicht seinen Vater, sondern ein trauriges, kleines Kind vor sich.
„Henry, mische dich nicht in fremde Angelegenheiten ein! Hast du nicht gerade eine Dame zu umwerben?" Er deutet mit dem Kinn abfällig auf mich und gerne würde ich etwas erwidern, doch es ist, als stünde sein zorniger Blick in Flammen, und so kämpfe ich bloß im Stillen gegen eine spitze Bemerkung an. Es ist sein Bruder, der für mich in die Bredouille springt. „Todd, also wirklich, jetzt mach aber mal halblang!", dröhnt die laute Stimme von Augustus Courterton verärgert. „Das Mädchen hat dir doch nichts getan! Und diebisch lass ich mich von dir ganz sicher nicht nennen! Was soll ich dir denn genommen haben, he? Dein ach so teures Hemd etwa?" Er lacht, aber lange nicht mehr so warm und großväterlich, wie noch zu Beginn des Dinners. Todd Courterton lehnt sich bedrohlich vor, doch seine Stimme bleibt ungeheuerlich ruhig als er spricht: „Du solltest dich über deinen älteren Bruder wohl kaum lächerlich machen, Augustus. Wir wissen doch alle, dass du die wahre Witzfigur hier bist. Du und deine Apothekenkette kurz vor dem Bankrott!"
Sein jüngerer Bruder atmet geräuschvoll ein und springt nun seinerseits auf. Anklagend deutet er auf den erzürnten Hausherren. „Das ist eine bitterböse Lüge und du weißt es. Und außerdem..." Er stemmt die massigen Arme in die Hüften. „Älterer Bruder, das ich nicht lache! Als rechtfertigten die paar Minuten, die unsere Mutter - Gott habe sie selig - dich eher auf die Welt gebracht hat, dass du nach Vaters Tod das gesamte Erbe an dich gerissen hast, wie eine Elster - und du nennst mich diebisch, also wirklich!", empört sich der andere Mister Courterton und ich stelle leicht belustigt fest, dass diese Formulierung von Ella vor dem Hintergrund dieses Gesprächs beinah etwa wie ein Urteil ist.
Doch als seine Worte mich erreichen, halte ich überrascht inne. Über die grollenden Stimmen der beiden Brüder hinweg, beuge ich mich zu Henry hinüber. „Minuten?", frage ich leise nach. „Die beiden sind... Zwillinge?", schlussfolgere ich aus den zuvor gehörten Worten und Henry nickt langsam, bevor gedehnt antwortet: „Ja... wieso?" Ich winke in einer kleinen Geste ab. „Nur so...", erwidere ich vage, doch in meinem Kopf rattert es. Von Anfang an habe ich angenommen, dass es sich bei Henrys Vater um den deutlich älteren der beiden Brüder handelt, um den gesitteten, den beherrschten, und bei Henrys Onkel um den jüngeren, den aufbrausenden und emotionsbehafteten. Womit sich die ungleiche Aufteilung des eigenen Hab und Guts der Brüder erklären würde, doch wenn beide am gleichen Tag geboren sind... - so ist der Groll, der in diesem Augenblick in der Stimme von Augustus Courterton zu hören ist beinah nachvollziehbar.
„... und Haven Hill - unser schönes Haven Hill - obendrein, Todd. Und du hast gewusst, dass ich nichts dagegen ausrichten konnte, wenn du doch Vater so Honig ums Maul geschmiert hast, dass er auf seine alten Tage noch seinen Nachlass änderte!" Die Wangen des anderen Mister Courtertons sind zum wiederholten Mal rot angelaufen, beinah scheinen sie mit dem hellen Kaminfeuer an der hinteren Breitseite des Raumes um die Wette zu glühen, während ich noch immer zu verarbeiten versuche, was die neue Erkenntnis, dass es sich nicht nur um Brüder, sondern um Zwillinge handelt, mit sich bringt und bedeutet. „Ich muss doch wirklich sehr bitten..." Die Stimme von Todd Courterton ist das genaue Gegenteil derer seines Bruders, ruhig, beinahe spöttisch belustigt. „Als habe es dir jemals an irgendetwas gemangelt, kleiner Bruder. Der Großteil des Erbes und auch das Haus mag an mich übergegangen sein, aber vor die Tür gesetzt habe ich dich keineswegs." Augustus Courterton ist imstande ihn zu unterbrechen, doch er hebt die Hand, womit dieser den Mund augenblicklich wieder schließt. Es ist unmissverständlich klar, wer in diesem Haus das Sagen hat. „Setz dich wieder und hör auf die wie ein kleines Kind zu benehmen, Augustus. Sei ein Mann", klingen seine Worte gefasst und fest durch den Raum: Es klingt nicht wie ein Befehl, doch Widerspruch lässt sein Ton trotzdem nicht zu. Augustus Courterton aber verschränkt verärgert die Arme vor der Brust. „Von dir lasse ich mir nicht länger etwas befehlen, nein ganz sicher nicht!", stößt er aus und diesmal sind es seine Augen aus denen der Zorn sprüht. „Lange genug hast du mich herumkommandiert wie dein Schoßhündchen, nein, nein, diese Zeiten sind vorbei!" Zeitgleich mit seiner letzten Silbe kommt seine geballte Hand auf dem Tisch auf. „Du - ausgerechnet du - wirst mir vor, dir alles genommen zu haben, Todd! Dabei bist du derjenige, der nicht an sich halten konnte und sich schon nach dem Leichenschmaus von Vaters Beerdigung alles unter den Nagel gerissen hat. Meint ihr..." Mit einer ausladenden Geste seiner ausgebreiteten Arme wendet er sich an den Rest der Familie und mich - wobei er Jareth, wie als wäre dieser nichts weiter als Luft, einfach übersieht. „Meint ihr wirklich, ich hatte irgendeine Art von Mitspracherecht als das gesamte Familienunternehmen so ganz mir nichts in die Hände meines großen Bruders übergegangen ist?" Er lacht, aber es klingt bitter und erreicht seine sonst so leuchtenden Augen nicht im Mindesten. „Natürlich nicht! Wer würde denn auch die ach so tolle Firma der Courtertons in die Hände des dummen, fetten Augustus geben!" Ein spöttisches Schnauben aus Jareth Richtung erklingt, doch sein Vater übergeht dieses geflissentlich. „Ja, ich weiß ganz genau, wie ihr alle über mich denkt, ganz so dumm bin ich nämlich dann doch nicht. Aber im Schatten meines so wunderbaren, großen Bruders stehen..." Er verzieht den Mund angewidert. „...darin bin ich dann doch unsagbar talentiert. Du..." Langsam tritt er einen weiteren Schritt auf Todd Courterton zu und hebt abermalig anklagend den fleischigen Zeigefinger. „Du bist es, der mir alles genommen hat, dass mir einmal lieb und teuer war, Todd. Nicht andersherum!" Seine hellen Iriden sprühen vor Wut, doch das ist nichts im Vergleich zu dem Mienenspiel seines älteren Bruders.
„Augustus...", spricht er ungeheuer gedehnt und das Zucken in seiner Kieferpartie ähnelt Henrys Zügen, so sehr, dass mich eine Gänsehaut überkommt. „Du solltest jetzt schweigen, glaube mir." Doch die Beherrschung in seinen markanten Zügen bricht mehr und mehr, während sich seine schmalen Lippen nun seinerseits zu einer beinahe angewiderten Maske verziehen. „Du bist nicht in der Position Forderungen zu stellen, wenn es das ist, was du beabsichtigst..." Die Muskeln unter seinen Oberarmen spannen sich sichtlich an und seine Hände ballen sich - noch immer die Contenance bewahrend - zu festen Fäusten. Seine Fingerknöchel färben sich unter dem Druck weißlich und seine Stimme ist einen Hauch zu ruhig, als er spricht. „Ich werde mir deine kindischen Vorwürfe nicht länger zu Ohren kommen lassen. Wie kannst du es wagen..." Er atmet hörbar ein und presst dann weiterhin zwischen seinen unsagbar weißen Zähnen hindurch: „Wie kannst du es wagen mir, gerade mir, dein Leid anzutragen? Ich sag es noch einmal und du weißt besser, als jeder andere in diesem Saal, dass es die Wahrheit ist: Du hast mir alles genommen, was mir jemals teuer war. Alles. Und du weiß genau, wovon ich spreche!" Seine Stimme ist lauter geworden und der Satz, den er mit einem Mal auf Augustus Courterton zumacht, ist so unvorhersehbar, dass Marisha Jakov neben mir erschrocken zusammenzuckt und aus der Richtung von Amy-Rose ein überraschtes Quieken erklingt. Todd Courterton hat den Hemdskragen seiner Bruders fest umpackt, der ein leises Winseln erklingen lässt - So uneingeschüchtert scheint er dann wohl doch nicht zu sein. „Also erzähle du, du Taugenichts, du Hund, mir nichts von diebischen Elstern und dem an sich Reißen. In beidem - das wissen wir doch alle..." Seine Worte stieben wie Spuckefetzen aus seinem Mund, das Gesicht nah an dem rot angelaufenen von Augustus Courterton. „...in beidem bist du doch ein wahrer Meister!"
„Todd... b-bitte, ich...", röchelt sein Bruder, doch da zerschneidet ein Schrei die beklommene Stille der anderen Anwesenden.
Es ist ein markerschütternder Schrei, ohrenbetäubend und hoch und nur die Erschrockenheit, die mich durchfährt, hält mich davon ab, mir die Handballen auf die Ohrmuscheln zu pressen.
Es ist - von all den lauten Menschen im Saal - ausgerechnet der Mund von Agatha Courterton der weit aufgerissen den hohen Ton durch den Raum jagt und als der Schrei genauso schnell wieder verebbt, wie er gekommen ist, fällt mir auf, dass es das erste Mal ist, dass ich diese Frau mit einer Stimme höre, die nicht leise flüsternd oder wispernd erfolgt. Nach der Erkenntnis um sie und ihren Sohn liegt es mir ausgesprochen fern mich in diese Frau hineinversetzen zu wollen, doch ich komme nicht umhin mir ihre Worte seit Beginn des Dinners nochmal durch den Kopf gehen zu lassen und festzustellen, wie unterwürfig und devot sie mit allen übrigen Anwesenden umgeht. Das scheint auch Amy-Rose aufzufallen. „Oh, wer hat denn da seine Stimme wiedergefunden? Gerade wo es anfing spannend zu werden!", kräht sie - scheinbar beleidigt - doch scheinen es genau diese Worte zu sein, die bei Agatha Courterton das Fass zum Überlaufen bringen. „Jetzt haltet doch den Mund, alle miteinander!", kreischt die Frau und Hysterie schwingt in ihrer hohen Stimme mit, die leicht zittert, als wäre sie es nicht gewohnt in dieser Lautstärke zu sprechen, zu rufen oder überhaupt stattzufinden. „Ihr solltet schweigen, alle beide!" Sie wendet sich an die beiden Männer, die immer noch gefährlich nahe beieinanderstehen, doch Mister Courterton hat den anderen bereits schon wieder losgelassen. Sie funkelt ihren Mann einmal böse an, bevor sie sich noch zorniger dem Hausherren zuwendet. „Du! Du, Sohn eines Esels, du hast gut reden, weißt du das eigentlich? Dir ist es doch um nie mehr, als deinen unschändlichen Ruf gegangen. Todd hier, Todd da, während alle andern - einschließlich deinem einzigen Bruder - ja gucken konnten, wo sie blieben, nicht wahr?" Der harte Ausdruck in ihren weichen Zügen passt rein gar nicht in ihr zittriges, schmales Gesicht und ich frage mich instinktiv, ob es sein kann, dass das die ersten harschen Worte sind, die sie jemals an den Hausherren von Haven Hill gerichtet hat - oder an irgendjemanden. Was muss dieser Frau passiert sein, dass sie sich entschließt in eine Familie einzuheiraten, die ihren Geist so verstümmelt? Oder ist sie schon immer so gewesen? Meine Mutter in Mayfair würde es allenfalls lieben, dessen bin ich mir wissentlich gewahr.
Ich seufze und wieder wirft Henry mir einen entschuldigenden Blick zu. Seine Hand schwebt nur Zentimeter über meinem Knie, so als könne eine Berührung ausmerzen, dass ich mitten in einer - wie es scheint - jahrzehntealten Fehde einer miteinanderverwobenen Blutsbande gelandet bin. Doch im selben Moment in dem seine Finger den Stoff meines Kleides berühren und ich meine Hand auf seine lege, redet sich seine Tante erst richtig in Rage. „Der Ruf der Firma, der Ruf unseres Hauses, dein Ruf - all das war wichtiger, als jemals offenzulegen, was eigentlich hinter den Mauern von Haven Hill liegt, schon immer! Das hier ist ein Trümmerhaufen, Todd, und der erste Riss ist in deinem Kopf passiert. Kaputt sind wir, alle kaputt. Und du am allermeisten!" Sie schreitet auf die beiden Männer zu, lässt ihren Mann wortwörtlich links liegen, der erschrocken zurück weicht, ob vor Todd Courterton, dessen Griff im Hemdskragen sich etwas gelöst hat, oder vor seiner Frau, die er vermutlich noch nie so erlebt hat, ist unklar. „Agatha, ist denn der Teufel in dich gefahren?", hämt Madame Marilyn belustigt von der anderen Seite des Tisches, doch ihre Worte werden mit nichts weiter als einem leeren Lachen quittiert. „In mich? Ganz sicher nicht! Wohl eher in unseren geliebten Hausherren, dem sein Ansehen vor Jahren schon wichtiger als der Fakt..." Ihre Stimme wird mit jedem Wort lauter, schriller. „...als der Fakt, dass er ein fremdes Kind bei sich aufgenommen hat!"
Was...? Ich ziehe lautstark die Luft ein. Was habe ich bis jetzt noch nicht gewusst? Und ich bin nicht die einzige. Den beiden Brüder gefrieren die Züge und plötzlich erkenne ich zwischen den so uneiigen Zwillingen doch eine gewisse Ähnlichkeit. Die Art wie ihre Wangen, die schlackernden von Augustus und die hohen von Todd Courterton, verhärten sich augenblicklich und ihre grünen Augen verharren starr. „Agatha!", rufen sie beide unisono aus und noch im selben Augenblick fährt Madame Marilyn aus ihrem Stuhl. „Wie bitte? Was?", blinzelt sie interessiert.
Ich schlucke, denn eine düstere, nein schwärzlichste Ahnung überkommt mich. Und das verheißt nichts Gutes.
Der Griff um mein Knie wird fest, so fest, dass es mir die Blutzufuhr in Unterschenkel und Füße sicherlich bereits abschnürt, aber das ist ein Schmerz, den ich ertragen kann. Es ist nichts im Vergleich zu dem, was Henry fühlen muss.
Eine aber scheint die Worte ihrer Tante noch nicht vollständig verstanden zu haben. Ich schnaube leise über die unendliche Dümmlichkeit, als Amy-Rose verwirrt ihre Schweinsnase rümpft und ein empörtes „Das habe ich jetzt nicht verstanden!" verlauten lässt.
Sie legt die Sommersprossen übertünchte Stirn in breite Falten und denkt laut: „Aber die Zwillingsschwestern haben doch ganz klar die Augen von Todd..."
Mein Knie fühlt sich beinah betäubt an, so fest ist der Griff und das begleitende Atmen, jedes Mal wenn sich die Finger mehr und mehr in den Stoff meines Kleides krallen, ist schwer und nachhallend.
Ich versuche meinen eigenen Schock herunter zu schlucken, denn ich bin wohl die einzige, die nahe genug an Henry dran sitzt, um ganz genau zu erkennen, dass die harten Züge, die sein Gesicht vereinnahmt haben, nichts als Fassade sind. Er beißt die Zähne festaufeinander und sein Adamsapfel an seinem Hals hüpft, als er leise schluckt. „Vater! Was. Hast. Du. Getan?", bringt er langsam mit angespanntem Kiefer hervor. In seinem Blick liegt Wut und unermesslicher Zorn, doch vielleicht ist es die räumliche Nähe zu ihm - sicherlich mehr als die emotionale... oder? - die es mir ermöglicht, noch etwas darin zu erblicken: Etwas Dunkles, Unklares, die Konturen neblig verwischt und nur durch das dicke Glas einer nebligen Scheibe erahnbar, als fiele Henry sein Ausdruck schwer und ungeübt. Es ist Enttäuschung. Herbe, bittere Enttäuschung. Seine bernsteinfarbenen Augen - ja, ich habe es doch gleich bemerkt - die denen seines Vaters so unähnlich sind, glänzen mit einem Mal verräterisch, als Tränen in die Winkel seiner unteren Wimpernkränze treten. Tränen der Wut sind es, Tränen des Zornes, doch vielleicht kenne ich Henry schon gut genug, um erkennen zu können, dass es ebenso Tränen der Angst sind, die er mit einer einzigen Geste seines weißen Hemdsärmels beinah beschämt wieder fortgewischt hat. „Vater, antworte mir!", bellt er so laut, dass ich zusammenzucke, bevor ich nur den Bruchteil einer Sekunde später seinen Daumen über mein Knie fahren spüre, sacht und sanft unter dem Tisch, was so gar nicht zu seiner für alle sichtbaren zornigen Fassade passt.
Amy-Rose scheint den Schuss nun auch gehört zu haben. „Du?", fragt sie entgeistert, doch niemand - von mir einmal abgesehen - scheint ihr auch nur ein Fünkchen Beachtung zu schenken. Verständlich.
Und wenn vorher Schweigen den Großen Saal beherrscht hat, dann habe ich keine Worte für das, das sich nun still und lautlos durch den Saal windet, wie ein massiges Ungetier, in alle Ritzen und Poren der Wände kriecht und durch unsere fassungslosen Körper zieht. Es ist unerträglich, doch ich fühle mich nicht imstande etwas zu sagen, weshalb ich bloß wortlos meine erkalteten Finger mit Henrys Zittrigen verschränke.
Die Miene seines Vaters aber ist unverändert gefroren, keine Erwiderung scheint auf seinen schmalen Lippen zu liegen und sogar Madame Marilyn scheint es die Sprache für einen Moment verschlagen zu haben - welch ein Wunder - sodass es abermals Agatha Courterton ist, die spitz ein paar Worte in das fleischige Ungetier von Stille wirft, wie blutige Lappen Fleisch als Fressen eines unternährten Ungeheuers: „Jetzt sag's ihm halt." Ihre Stimme klingt seltsam kühl und schnippisch und scheint rein gar nichts mehr mit der Frau zu tun zu haben, die mich vorhin noch über meine Hochzeitspläne und mein Pariser Kleid ausgefragt hat.
„Was denn?", fragt Marisha Jakov leise, aber lang nicht so sensationsgierig gebannt, wie Madame es gewesen wäre und ihre tiefe Stimme ist beinah eine Wohltat im Gegensatz zu der hysterischen von Jareth's Mutter, der eben jetzt ebenfalls das Wort ergreift. „Ja, was soll Todd sagen?"
Doch Henrys Vater - wenn ich ihn denn weiterhin so nennen darf - schweigt. Er sinkt zurück auf seinen Stuhl und wirkt auf einmal müde und wie um Jahrzehnte gealtert. Er nimmt eine der weißen Servierten und tupft sich über die gerötete Stirn, doch erwidern tut er - selbst unter den erwartungsvollen Blicken aller - rein gar nichts. „Todd, das war keine Frage. Antworte." Henrys Stimme ist nun kein zischendes Spucken mehr sondern monoton und emotionslos und ich bin nicht die einzige, der auffällt, dass er den Hausherren bei seinem Vornamen genannt hat, denn der kleine Bruch in dessen Fassade ist beinah unverkennbar. Ein dunkler Schatten huscht über das nun mehr versucht gefasste Gesicht des Hausherren von Haven Hill.
Doch die Stille, in die dieser sich hüllt, wird immer wesentlicher und eine Gänsehaut fährt mir über die nackten Arme, so unwohl ist die Atmosphäre im Großen Saal, die in den letzten Augenblicken sicherlich um mindestens fünf Grad abgefallen ist.
„Plötzlich dann doch so auf den Mund gefallen, Todd?" Agathas Stimme... - nein, sie hat nichts mehr gemein mit der verschüchterten, stillen Dame, die ich zu Beginn des Dinners kennengelernt habe. Kann sich eine Gemütslage in nur wenigen Stunden so konträr ändern? Oder - ich schlucke schwer - vielleicht offenbaren verzweifelte Zeiten nur die wahren Selbsts unserer verzweifelten Versuche eines besseren Lebens, nach dem wir alle gieren und doch nie das eigene nennen werden. Verfluche einer das erwählte Schicksal nach Ruhm und Reichtum. Oder nicht? Jedenfalls nicht das Leben, vielmehr das Schicksal von Agatha Courterton, wenn man ihren Worten einer kaputten Familie in einem kaputten Haven Hill im Besitz eines rissigen Hausherren Glauben schenkt.
„Dabei ist es doch ganz einfach!" Die Stimme besagter klingt beinahe so etwas wie feierlich, als sie verkündet: „Der große Todd Courterton hat nicht gelogen, als er der Londoner Unternehmenswelt erklärte, dass seine Frau ihr erstes Kind erwartete. Nur, dass es sich dabei nicht um sein eigen handelte, hat er geflissentlich verschweigen können. Bethany Courterton, wäre sie doch nur eine Ashton geblieben, hat ihm ein fremdes Kind geboren. Todd ist nicht Henrys Vater!"
Die Hand, die mit meiner verschränkt ist, verkrampft sich und ich erwidere den Druck, halte sie fest. So fest.
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