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06. Kapitel - Einmal Haven Hill, immer Haven Hill

Was macht eigentlich jemand wie du auf Haven Hill?" Ich ziehe an meiner Zigarette und blase eine Wolke grauen, milchigen Dunst in die eisigklare Nacht. Der Qualm verflüchtigt sich, noch ehe ich einen weiteren Zug tun kann und ich sehe dabei zu, wie der helle Nebel in der finsteren, düsteren Dunkel verschwindet. Henry und ich stehen draußen auf einem terrassenartigen Vorbau vor der hellerleuchteten Fensterfront des Großen Saales und der helle Kerzenschein wirft goldenes Licht durch das dünne Glas in das nächtliche Finster. Nach Ende der Vorspeise hatte sich Henrys Vater für einen Augenblick entschuldigt und kaum hatte der Hausherr den Raum verlassen, waren auch Agatha Courterton und ihr Sohn in einem Nebenzimmer verschwunden mit den Worten, dass es bis zur Hauptspeise sicherlich noch ein paar Minuten dauern würde. Kaum hatte sich die verstockte Gesellschaft aufgelöst, hatte Henry offenbar seine Chance gewittert und mir mit einem leichten Nicken seines Kinn bedeutet ihm zu folgen.

Im Unterschied zu dem kühlen Ausdruck, der drinnen wie selbstverständlich an seinem Gesicht haftete, sind seine Züge hier draußen sichtlich entspannter und als ich ihn fragend ansehe sogar eine Spur amüsiert. „Jemand wie mich?" Er zieht eine Augenbraue hoch. „Was genau darf ich darunter verstehen?" Aschepartikel lösen sich von der ergrauten Spitze seiner Zigarette und er sieht dabei zu, wie sie an der kühlen Luft verglühen. Ich folge seinem Blick. „Jung, meine ich. Du bist jung genug, um die Welt nicht als eine Aneinanderreihung von einem Geschäft und dem nächsten zu sehen, so wie unsere Väter es tun." Ich kann mir ein leises Schnauben nicht unterdrücken, als ich an Mr. Courterton und Mr. White denke, wie sie jahrelang jeden Freitagabend bei einem – oder mehreren – Gläsern Bourbon über die nächsten Züge ihrer Unternehmen sprachen. Henry scheint den gleichen Gedanken zu haben oder meine Geste belustigt ihn einfach nur, denn er grinst, erwidert jedoch nichts, weshalb ich fortfahre: „Aber du bist definitiv alt genug, um lang nicht mehr unter der Fittiche deines Vaters zu leben." Ich denke kurz nach. „Und du hast sicherlich bereits schon jetzt ein kleines Vermögen inne... also..." Den Blick hebend sehe ich ihn wieder an. „Also: Was macht jemand wie du noch auf Haven Hill?", wiederhole ich meine Frage von zuvor und Henry bläst eine Wolke grauen Dunst durch seine vollen Lippen.

Er sieht mich nicht an und deshalb bin ich überrascht, als er ohne zu Zögern oder auch nur genauer über meine Frage nachzudenken antwortet: „Ich hab es versucht. Mehrmals." Henry räuspert sich und dann wendet er sich mir zu. Ein seltsamer Ausdruck liegt in seinen Zügen und ich kenne ihn weit zu wenig, um diesen deuten zu können. „Einige Jahre nach dem Krieg habe ich einen ganzen Sommer in Boston verbracht, bis mich die nachklingenden Begebenheiten des Krieges in England zurück in die Heimat gebracht haben." Ich nicke weder zustimmend, noch gebe ich ein bestätigendes Geräusch von mir, denn ich habe das sichere Gefühl, dass da noch mehr dahinter steckt.

Und ich behalte recht, denn er fährt fort. „Und ehrlicherweise steckte ich gerade mitten in den Vorbereitungen einer mehrmonatigen Studienreise an das Massachusetts Institute of Technology für ein Studium in Wirtschaftswissenschaft, als uns vergangene Woche das Schicksal eingeholt hat." Er nimmt einen weiteren Zug und ich lege irritiert die Stirn in Falten. „Du meinst, als die Lady ihr Schicksal eingeholt hat?", hake ich nach und Henry lacht. Sein Lachen klingt bitter und sehr unpassend über die geschwungene Brüstung aus dunklem Marmor, auf der ich meine Ellenbogen abgelegt habe.

„Ich meine das so, wie ich das gesagt habe. Haven Hill ist keine getroffene Entscheidung, Luna, es ist ein unerwähltes Schicksal. Eines, dem du nicht entkommen kannst, selbst wenn du es noch so sehr willst." Ich zwirble das hintere Ende meiner Zigarette zwischen Daumen und der Kuppe meines Zeigefingers und hebe die Augenbrauen. „Etwas dramatisch, findest du nicht?" erwidere ich eine winzige Spur zynisch und diesmal ist Henrys Lachen nicht bitter, sondern einfach nur noch leer. Er sieht mich wieder nicht an, nur geradeaus in das schwarze Dunkel jenseits der Brüstung, als er erwidert. „Keineswegs. Nehmen wir meine Tante als Beispiel..." Bevor er fortfährt, befördert er eine kleine Rauchwolke in die eisigklare Nacht. „Madame Marilyn..." Er betont den Namen der jüngeren Schwester seines Vaters so dramatisch, dass es beinahe an die Melodramatik der Dame selbst heran kommt. Aber auch nur beinahe.

„Sie ist vor über zwanzig Jahren ausgezogen um das Fürchten zu lernen, ja wirklich." Er schnaubt amüsiert, bevor er fortfährt. „Nach Deutschland wollte sie um zu singen und als Frau allein Karriere machen und zurück kam sie, alleine und hochschwanger von einem Hans oder Heinrich, der sie sitzen gelassen hatte." In seiner Stimme klingt kein Mitleid mit, aber an der Art, wie seine linke Augenbraue bei dem letzten Teil seines Satzes angespannt zuckt, zeugt davon, dass er ein solches Verhalten des besagten deutschen Mannes verachtenswert findet. Ich für meinen Teil möchte mir nicht anmaßen ein Urteil zu sprechen. „Und mein Vater konnte seine Schwester ja nur schwerlich ohne Hab und Gut wieder vor die Tür setzen und wenn er das noch so sehr gehasst hat. Wie sähe das denn auch aus? Der große Mister Courterton mit einer verwahrlosten, unverheirateten Schwester, die schwanger von der Familie im Stich gelassen wird... Allein zur Besserung seines Rufes hat er meine Tante und deren Balg von Tochter wieder bei sich aufgenommen."

An der Wahl seiner Worte erkenne ich nur zu sehr die Abschätzung, die er seinem Vater entgegenbringt und ich kann es ihm nicht verdenken. „All die Bemühungen von Marilyn sich ein für alle Mal von Haven Hill davon zu machen - umsonst... Aber sie wäre ja nicht Madame Marilyn, wenn sie ihre missliche Lage nicht zu ihren Vorteilen voll und ganz genutzt hätte. Über zwanzig Jahre später verlässt sie Haven Hill nur um in London diesen neuen Haarschnitt oder jenes hochmoderne Kostüm zu ergattern. Geht schließlich alles auf meinen Vater, nicht wahr?" Missmutig drückt er das glühende Ende seiner Zigarette auf der steinernen Brüstung aus. „Und mein Onkel ist auch nicht besser. Er hat Haven Hill und die Gemächer von ihm und seiner Frau seinen Lebtag noch nicht länger als ein paar Tage verlassen, nicht einmal nachdem klar war, dass er von dem Erbe nicht einen Cent bekommt."

Seine Mundwinkel verziehen sich zu einer Grimasse von der ich mir nicht sicher bin, ob sie Abschätzigkeit oder belustigte Überheblichkeit darstellt. Oder beides zugleich. „Deshalb: Wer einmal nach Haven Hill kommt, verlässt es entweder nie, so wie Marilyn und mein werter Herr Onkel, oder nicht lebend, wie Lavinja, Gott hab sie selig." Sein Zynismus trifft mich unverhofft und ich weiß nicht, ob es fair ist, ihn ungläubig anzusehen, deshalb entscheide ich mich dafür, den Blick zu senken. „Einmal Haven Hill, immer Haven Hill, sage ich immer", schließt Henry seinen kleinen Monolog und diesmal nicke ich doch, denn diese Worte passen unsagbar gut zu dem drückenden Gefühl, dass sich in meiner Brust festgesetzt hat, seit meine Mutter mich vor wenigen Tagen wortwörtlich im Regen stehen gelassen hat.

„Aber Lavinja scheint es ja geschafft zu haben...", versuche ich an seinen Zynismus anzuschließen und dies scheint zu fruchten. Henry grinst leise, aber nicht breit. „Offensichtlich. Eine Tragödie, wirklich", erklärt er kühl und klingt dabei fast ein wenig wie sein Vater.

Ganz unverfroren frage ich daraufhin: „Wer glaubst du ist verantwortlich?" Henry scheint überrascht und mustert mich für den Bruchteil einer Sekunde akribisch, doch ich lasse mir nicht anmerken, dass mich seine Antwort brennend interessiert. „Du stellst die Frage falsch", stellt er fest und ich runzle gespielt beleidigt die Stirn. „Entschuldige mal, glaubst du wirklich, du hättest Zeit deines Lebens mehr mit den Times-Berichten über die Whitechaple-Morde von Jack the Ripper oder John Christie aus 10 Rillington Street zugebracht als ich? Oder mit den sagenhaften Kriminalromanen von Sir Arthur Conan Doyle und natürlich nicht zu vergessen Agatha Christie?" Henry grinst und diesmal ehrlich. „Dieses Platz würde ich dir niemals streitig machen, wirklich nicht", beteuert er und fügt dann an: „Wobei ich damit nicht meine Belesenheit anzweifeln lassen möchte. Ich liebe Bücher." Ich habe bei seinen ersten Worten gegrinst, doch als ich mir ihn mit überschlagenen Beinen in einem alten Lehnsessel vorstelle, in den großen Händen ein dickes Buch und auf seiner Nase womöglich eine Brille mit dickem hornigen Rand, gefriert mir das Lächeln im Gesicht und ich spüre, wie mein Herz augenblicklich ein wenig schneller schlägt. Gott, dieses Bild, und sei es nur in meinem Kopf, lässt Henry mit einem Mal noch attraktiver erscheinen.

Doch bevor ich mich der Fantasie eines gemeinsamen Kaminfeuerabends in der gewaltigen Bibliothek von Haven Hill hingeben kann, fügt Henry noch hinzu: „Und mit Verlaub, ich traue es keinem einzigen dort drinnen zu, auch nur im Ansatz so gerissen zu sein, als Serienmörder der Whitechaple-Morde ungeschoren davon zu kommen." Er deutet mit dem Kopf in Richtung der hell erleuchteten Fenster in unserem Rücken. „Der Vergleich bekannter Serienmorde und der Menschen, die sich meine Familie schimpfen, hinkt also etwas, dazu fehlt jedem einzelnen nicht nur die Schläue, sondern auch noch der nötige Gleichmut gegenüber den eigenen Emotionen. Jeder von ihnen ist viel zu arrogant, um sich selbst der Apathie eines Serienmordes hinzugeben", erklärt er ungewöhnlich sachlich und ich versuche mir nicht anzumerken, wie bestürzt ich darüber bin, wie unverfroren, beinahe trivial er über die Gleichgültigkeit eines Mörders spricht. Kriminalgeschichten zu lesen – oder auch Times-Artikel über bereits vollendete Verbrechen – das ist eine Sache. Täter mit seiner eigenen Familie in ein Verhältnis zu stellen eine ganz andere, finde ich. Aber eigentlich hat er ja recht: Eigentlich habe ich diesen Vergleich zuerst gezogen.

Ich sehe ihn an, um einen Blick auf seine Miene zu erhaschen, doch seine Züge sind kühl und ausdruckslos, er scheint nicht zu finden, dass irgendetwas Verwerfliches in seinen Worten liegt. Und bevor ich an dieser Stelle weiter haken kann, wechselt er das Thema und nimmt den Faden von zuvor bereits wieder auf:

„Also, du stellst die Frage falsch. Viel eher müsste es heißen: Wer kann in Lavinjas Tod zur Verantwortung gezogen werden?" Er lässt seine Worte für einen kleinen Augenblick so stehen. Nackt und unvollständig schweben sie vor uns in der Luft und ich frage mich, was er wohl damit meint. „Denn, wenn du mich fragst, Miss Detective, so kann ich dir sagen, verantwortlich für etwas – keinen Mord vielleicht, aber etwas – sind wir doch alle, oder nicht? Wer kann schon von sich behaupten, die Unschuld selbst zu sein?" Er wirft mir einen unerwartet tiefen Blick zu und auf einmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir noch über den Mord an seiner Stiefmutter sprechen oder schon über etwas ganz anderes. Ein Schauer überläuft meinen Rücken. Angenehm oder unangenehm? Ich weiß es nicht.

Doch ich entscheide mich nicht auf seine Worte einzugehen und spreche den Gedanken aus, der nun schon seit dem unaufschlussreichen Gespräch mit Ella durch meinen Kopf geistert: „Das bedeutet doch dann aber, dass alle ein Motiv hätten, oder etwa nicht? Man kann ja schließlich nicht für etwas verantwortlich sein, für das man kein Motiv besitzt", stelle ich fest und Henry nickt wie zur Bestätigung. „Auf Haven Hill hat jeder Hintergedanken zu allem, auf ein Mordmotiv mehr oder weniger kommt es da nicht wirklich an," versucht er es scherzhaft, doch ich versuche mich von seiner amüsierten und zugegebenermaßen mitziehenden Art nicht beirren zu lassen.

„Jeder?", hake ich vorsichtig nach und lasse das Unausgesprochene so offensichtlich und unmissverständlich in der Luft hängen, dass Henry versteht. Er nickt. „Ja, jeder und ja, das schließt mich mit ein." Ich werde hellhörig und stutze zugleich. Hat Henry gerade zugeben, dass er Grund dazu hätte, einen Mord zu begehen? Oder bereits begangen zu haben? Oh Gott. Sofort wird mir ein wenig unwohl in meiner Haut. Alleine stehe ich mit einem unberechenbar unterkühlten Mann, den ich seit nicht einmal vier Tagen kenne, bei tiefschwarzer Dunkelheit vor den steinernen Ausläufen eines mir wildfremden Anwesens. Mich schaudert es und ich bin mir sicher, dass dies nicht nur daran liegt, dass ich nur im schwarzen seidenen Kleid in einer eiskalten Novembernacht stehe. Doch als meine kühlen Finger leise zu zittern beginnen, balle ich meine Hände, die noch immer auf der steinernen Brüstung ruhen, zu festen Fäusten. Ich werde einen Teufel tun und Henry bemerken lassen, dass mir mit einem Mal deutlich mulmig zu Mute ist. „Und um welches Motiv handelt es sich?", versuche ich mutig zu sein, doch Henry lacht bloß wieder. „Sollte ich wirklich meine Stiefmutter ermordet habe, wäre ich wohl kaum so töricht, dies vor einer so seriösen Detektivin wie dir zuzugeben, oder?" Er blickt mich von oben herab an und mir sollte nun wohl noch sichtlich unwohler sein, doch die Art, wie er seine Worte wählt, passt von Grund auf nicht zu dem Gedanken, dass er einen Mord begangen haben soll. Trotzdem versuche ich ein wenig Abstand zwischen ihn und mich zu bringen, was jedoch gänzlich misslingt, als er zum gleichen Zeitpunkt einen Schritt auf mich zu tritt.

„Drum, Luna: Trau mir, wenn ich dir sage, dass du niemandem trauen solltest. Was Haven Hill sagt, wird die Wahrheit sein, auf immer die Wahrheit, auch wenn wir alle lügen wie gedruckt." Ich weiß mit seinen Worten nichts anzufangen, weshalb ich mich abwende, damit er die Verwirrung nicht in meinen versucht glatten Zügen liest. „Und wem traue ich dann?", frage ich nach und ich versuche meine Stimme ein wenig scherzhaft klingen zu lassen, auch wenn es sich um eine ernsthafte Frage handelt. „Niemandem. Manchmal nur dir selbst", lautet die Antwort, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Ich lege die Stirn in Falten. So recht schlau werde ich nicht aus Henrys Gefasel. „Aber wenn ich niemandem trauen kann, wenn alle lügen wie gedruckt, wie spricht Haven Hill dann die Wahrheit?" Mir erschließt sich nicht recht, worauf Henry hinaus will, weshalb ich mich entscheide nachzuhaken. „Wir Courtertons lügen, indem wir die Wahrheit erzählen", erwidert Henry und gibt mir ein paar Sekunden darüber nachzudenken, bevor er fortfährt: „Ein kleiner Teil der Wahrheit ist manchmal die größte Lüge. Viel größer noch, als die ganze Wahrheit verheimlicht es je sein könnte." Und das verstehe ich. „Und was ist in diesem Fall ein kleiner Teil der Wahrheit?" Henry sieht mich an und ein Grinsen erscheint auf seinen Lippen. „Wir werden sehen." Und ich weiß sofort, dass er damit das Abendessen meint, das vermutlich in wenigen Minuten fortgeführt wird.

Wir schweigen eine Weile, doch die Sache mit dem Vertrauen lässt mich noch nicht los. „Und wenn ich niemandem trauen kann, wenn mir niemand die ganze Wahrheit erzählt...", nehme ich meinen Gedankengang von zuvor wieder auf, „...wie weiß ich dann, dass ich dir trauen kann? Trau mir, aber traue niemandem?" Jetzt habe ich Henrys volle Aufmerksamkeit, ich merke es an der Art, wie sein gesamter Oberkörper sich mir augenblicklich zu wendet. Er dreht sich herum, sodass er jetzt mit dem Rücken an dem Geländer lehnt. Er verschränkt die Arme vor der Brust und ein Schmunzeln überzieht seine Lippen, während er langsam nickt, so als hätte er diese Frage bereits erwartet. „Das kannst du nicht. Du kannst nicht wissen, ob du mir trauen kannst und das solltest du auch nicht. Zumindest noch nicht", antwortet er und allmählich geht mir die mysteriöse Geheimnistuerei auf die Nerven. Wenn alles, was er mir erzählt ohnehin gelogen ist, warum erzählt er es mir dann überhaupt? Ich seufze. Zu blöd, dass Henry im Moment mein einziger Anhaltspunkt in dieser Familie ist, wenn ich wirklich herausfinden will, was hinter den unterkühlten Fassaden der Bewohner von Haven Hill steckt. Obwohl ich nicht verstehe, wohin mich das führen wird, frage ich deshalb: „Und die Motive der anderen? Weshalb hat jeder in eurer Familie bitte ein Motiv die Frau des Hausherren zu morden? Ist das nicht etwas... ich weiß auch nicht... makaber zu behaupten?", versuche ich es kokett und wieder lacht Henry. „Das ist keine grundlose Behauptung, Luna, wirklich nicht." Er fährt sich durch das lange dunkle Haar und ich gebe ihm die Zeit, die er braucht, um sich seine nächsten Worte genauestens zu recht zu legen.

„Unsere Familie war schon kaputt bevor Lavinja sich über meinen Alten hineingeheiratet hat." Henry sieht von der Seite auf mich herab und schnell richte ich mich höher auf, damit ich mir neben ihm nicht so klein vorkomme. „Wenn du wirklich denkst, du könntest herausfinden, was passiert ist..." Er zögert. „... dann bist du entweder wahrlich mit allen Wassern gewaschen oder dümmer, als ich dich eingeschätzt habe." Ich rümpfe eine Spur gekränkt die Nase und mir liegt schon ein schlagfertiger Spruch auf den Lippen, doch Henry übergeht beides rücksichtslos. „In beiden Fällen würde ich dir dringendst davon abraten, Fragen zu stellen, deren Antworten du nicht wissen willst. Denn wenn du wirklich in Erfahrung bringen willst, was mit meiner-" Er räuspert sich fast unmerklich kurz. „... meiner Stiefmutter widerfahren ist, so musst du vorne – und zwar ganz vorne – anfangen." Verwirrt kräusle ich die Stirn und entscheide mich, nicht weiter auf die Beleidigung einzugehen, sondern das Gespräch an dieser Stelle fortzusetzen, an der wir endlich angelangt sind: Dem Beginn meiner Suche. Ich versuche nicht allzu viel Interesse in meine Stimme zu legen und unterdrücke einen neugierigen hohen Ton nur mit Mühe. „Ganz vorne? Und wo soll das sein?" Henrys Blick geht an mir vorbei, nach drinnen, von wo Amy-Rose's hysterisches, irres Lachen selbst durch die geschlossenen Fenster nach draußen dringt. Gott, diese Frau gehört in eine Anstalt.

Doch Henry zuckt bei dem durchdringenden Geräusch nicht einmal mit der Wimper. „Wenn ich das wüsste... Ich glaube, diese Familie lügt schon seit Menschengedenken. Meine Mutter meinte mal, sie glaubt, mein Vater konnte lügen, noch bevor er laufen gelernt hat."

Nun kann ich doch nicht verbergen, dass ich interessiert klinge, als ich mich ganz zu ihm drehe. „Deine Mutter? Die erste Misses Courterton?" Henry scheint bemerkt zu haben, dass sich der Ton in meiner Stimme verändert hat, denn seine Miene wird mit einem Mal undurchdringlich und ich schwöre, es ist keine Einbildung, dass seine bernsteinfarbenen Augen gerade eine ganze Nuance dunkler geworden sind. Er nickt, erwidert jedoch nichts, weshalb ich nachhake: „Lady Lavinja war doch bereits eine ganze Weile auf Haven Hill oder nicht? Lebt Bethany Courterton im Ausland?" Im Kopf überschlage ich aus den wenigen Informationen, die ich habe, dass die Scheidung von Henrys Eltern vermutlich bereits über acht Jahre her ist und er somit um die vierzehn, vielleicht auch dreizehn Jahre alt war, als seine Mutter sie verließ. Doch meine Überlegungen werden bereits von Henrys folgenden Worten negiert. „Nein, sie ist tot", erklärt er so sachlich und abgeklärt, als würde es sich um eine verstorbene Fernseh-Ikone und nicht seine eigene Mutter handeln. Ich spüre, wie sich meine Augen überrascht weiten. Damit habe ich nicht gerechnet und vor allem, habe ich noch nicht im Ansatz davon gehört. Nicht, dass ich bereits mit dem Hausherren über seine verstorbene erste Frau gesprochen hätte, geschweige denn Bethany Courterton eine Frau gewesen wäre, deren Tod in der Times aufgeführt gewesen wäre, doch weder die redselige Ella und nicht einmal Pearline, die daraus sicherlich eine ganz wunderbar makabere Gruselgeschichte gedichtet hätte, hatten die erste Mrs. Courterton mit auch nur einem Wort erwähnt. Nur als erste Frau eines alten Geschäftsfreundes meines Vaters war sie mir bekannt gewesen, als Mutter dessen Kinder und... und das Bildnis kannte ich. Das Gemälde oben im Ostflügel, das deutlich gezeigt hatte, was Henry nun eine Spur zu hastig hinter her schob: „Sie war lange Zeit sehr krank und hat deshalb die Geburt der Schwestern nicht überlebt. Unbehandelte Tuberkulose."

Ich schlucke, das ist nicht, was ich erwartet habe. Unbeholfen, weil ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll, dass mir gerade jemand vom Tod durch die Weiße Pest seiner Mutter erzählt, gehe ich auf ihn zu und hebe die Hand, um ihn am Oberarm zu berühren. Ich erwarte, dass er mir ausweicht, doch er lächelt sogar, als ich leise murmle: „Das tut mir sehr leid, Henry."

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