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03. Kapitel - Der Ostflügel

Ich denke viel über Ellas Worte nach. Wie ist es möglich, dass sie zuvor den ungeheuren Zusammenhalt der Familie in höchsten Tönen lobt und keine fünf Minuten später ganz unverblümt damit herausrückt, dass sie jedem einzelnen von ihnen – oder auch ihnen allen gemeinsam – einen... – ich schlucke – einen Mord zutraut. Wie passt das zusammen? Zugegeben: Ich kenne keinen der Bewohner von Haven Hill wirklich und ehrlichweise ist Todd Courterton, zumindest in meiner Wahrnehmung, ein Unsympath wie er im Buche steht, aber nicht einmal ihm – schließlich ist er ja nicht nur Hausherr, sondern auch dreifacher Familienvater – würde ich zutrauen, jemanden kaltblütig zu töten. Noch dazu weil es sich bei dem Opfer um seine eigene, langjährige Frau handelt. Ich kaue auf meiner Unterlippe und kräusele überlegend die Stirn, doch gerade, als ich mich daran machen will, im Kopf die Bewohner von Haven Hill einzeln durchzugehen – von Henry über seinen Vater bis hin zum anderen Mr. Courterton – stemmt Ella schließlich die Hände in die Hüften und lässt verlauten: „Ja nu' verschwinde aber, mein Herzchen, die Küche ist ja doch kein Ort für jemanden wie dich. Nu' dalli, in der Kluft kannst du ja schließlich nicht den Großen Saal betreten." Sie macht eine wegwerfende Handbewegung in Richtung meines ockerfarbenen Wollkleides, das am Saum bereits Flusen zieht. Ich nicke und murmle eine leise Verabschiedung, bevor die Treppe aus der Küche hinaus in Richtung Atrium trete.

Die Korridore von Haven Hill sind lang und dunkel und vor allem eins: Eiskalt. Ich fröstele und verschränke die Arme vor der Brust, als ich den langen Flur im Erdgeschoss entlang haste, in diesen Räumen will ich mich in gar keinem Fall länger als nötig aufhalten. Gemälde von weißen Pferden und bartlosen Männern mit Schirmmützen auf der Jagd und Frauen in prachtvollen Kleidern starren auf mich herab und als ich an den Treppenaufgang ins Obergeschoss komme, verlangsame ich meinen Schritt. Oben liegen die Gemächer des Hausherren und seiner Frau, die Gemächer von Todd Courterton und das der verstorbenen – ich korrigiere – der ermordeten Lady Lavinja.

Ich habe das Obergeschoss noch nicht betreten, an meiner Ankunft hat es hier von uniformierten Polizisten nur so gewimmelt und die Zimmer der Mädchen liegen im Erdgeschoss unterhalb der Gemächer ihres Bruders, weshalb ich umso neugieriger bin, wie es da oben wohl aussieht. Vor allem jetzt, da es sich nicht nur um die Privaträume eines reichen Geschäftspaares handelt, sondern um einen Tatort, einen echten Leichenschauplatz, wie ich ihn sonst nur aus den Krimiromanen in der Bibliothek meines alten Internats kenne. Trotzdem muss ich drei Mal aus und wieder ein atmen, bevor ich einen Fuß auf den unteren Treppenabsatz setze und sich der erhöhte Absatz meiner Stiefel in den weichen Läufer gräbt, der in dunklem Rot über die hölzernen Stufen fließt. Die Dielen knarren unter meinen Sohlen, als ich in den oberen Korridor trete. Wenn überhaupt möglich, ist es hier oben noch leiser, als im unteren Teil von Haven Hill, die Stille erdrückt mich fast, als ich zögerlich den Flur erst nach links und dann nach rechts entlang schaue, um mich zu vergewissern, dass ich nicht erwischt werde. Eine fremde Frau in seinem Haus zu haben, während in den eigenen Reihen polizeilich ermittelt wird und man den Tod eines Familienmitgliedes verkraften muss, ist an sich verständlicherweise mehr als seltsam – doch wenn diese dann noch beim Spionieren in den privaten Räumen ertappt wird, ist ein Rauswurf die größte Wahrscheinlichkeit. Und auf das enttäuschte Gesicht von Mutter, wenn ich es nicht einmal zustande bringe, mich als Kindermädchen zu beweisen, kann ich gut und sehr gerne verzichten. Kurz wäge ich noch ab, ob es mir das wirklich wert ist, doch am Ende siegt meine Neugier: Unmöglich kann ich mir die Chance auf einen verlassenen Flur, der mir die Möglichkeit auf einen echten Tatort gibt, entgehen lassen. So schleiche ich auf Zehenspitzen, damit ja das dumpfe Geräusch meiner Absätze auf dem Teppich ausbleibt, in Richtung Ostflügel, von dem ich weiß, das ihn einst Lavinja Courterton bewohnt hat, gleich neben den Zimmern ihres Mannes.

Eine unangenehme Gänsehaut überzieht meine Arme unter dem kratzigen Stoff meines Wollkleides und ich zucke zusammen, als ich glaube, aus dem Augenwinkel eine Gestalt auszumachen, doch als ich mich umwende, starrt nur ein lebensgroßes Gemälde einer blassen jungen Frau auf mich hinab. Einen winzigen Augenblick bleibe ich stehen und mustere in der Stille des Korridors ihre weichen, sanften Züge und den leicht besorgten Blick ihrer bernsteinfarbenen Iriden, die, zurückhaltend und ängstlich wie die, eines Kaninchens, eine Spur zu weit aufgerissen sind. Ich muss nicht einmal nachdenken, um ganz genau zu wissen, um wen es sich bei der freundlich, aber schüchtern ausschauenden Dame im schwarzen Abendkleid handelt: Diese bernsteinfarbenen Augen sind mir schon vorher aufgefallen, in ganz Haven Hill fällt ein jeder durch die rabenschwarzen Haare, gepaart mit den giftgrünen Iriden auf, sogar die beiden Zwillingsschwestern fallen in dieses Schema. Nur Henry nicht. Bethany Courterton, die erste Frau von Todd Courterton, ist so ziemlich das Gegenteil von dem, wie ich mir jemanden vorgestellt habe, der freiwillig dreißig Jahre in der Abgeschiedenheit von Haven Hill verbringt und dessen Hausherren obendrein drei Kinder gebärt. Sie wirkt unsicher, fast scheu, aber sehr gutmütig und passt mit ihren blassen, farblosen Wangen und den stumpfen dunklen, am Ansatz bereits ergrauten Haaren nur wenig in die kühle Atmosphäre der restlichen Bewohner von Haven Hill. Sie wirkt kränklich und ich überlege, warum sie wohl nicht mehr auf Haven Hill lebt, ihren Mann und vor allem ihre Kinder hinter sich gelassen hat. Henry und auch die Zwillinge, nicht einmal die gesprächige Pearline, haben sie bislang mit noch keinem einzigen Wort erwähnt. Es ist das erste Mal, dass mir auffällt, dass auf Haven Hill mehr Worte geschwiegen, als gesprochen werden. Das erste, aber nicht das letzte Mal.

Zögerlich gehe ich weiter, vergesse dabei auf Zehenspitzen das Aufkommen meiner Absätze zu unterbinden und bleibe kurz erschrocken stehen, als ich ein Geräusch vernehme – von hinter mir? – bevor ich meinen Schritt verschnellere und auf das Ende des Korridors zu haste, wo ich grob das Zimmer der Lady vermute. Ich spüre mein Herz mit einem Mal unangenehm in meiner Brust pochen und ich muss meine Lippen festaufeinanderpressen, damit mein lautstarker Atem mich nicht verrät. Eilig und – zugegebenermaßen unvorsichtig – biege ich um besagte Ecke in den Ostflügel, als an einer Stelle im dunkelroten Läufer auf den ebenholzfarbenen Dielen eine Falte meinen Schritt stört und ich um ein Haar über eine alte cremefarbene Vase stolpere. Etwa hüfthoch und mit dunklen, blauen Ornamenten verziert bildet diese eine kleine Nische in der Wand hinter dem Knick im Flur und beginnt bedrohlich zu schwanken, als mein Knie im verlorenen Gleichgewicht dagegen stößt. Wie in Zeitlupe sehe ich das helle Porzellan bereits auf dem dunklen Boden zerschellen, in tausend kleine Einzelteile. Langsam, ganz langsam kippt die Vase auf den rotgetünchten Teppich zu und ich reiße erschrocken die Augen auf, doch noch bevor ich geistesgegenwärtig nach vorne hechten kann, um sie doch noch mit meinen Armen aufzufangen, schlingt sich mit einem Mal eine starke Hand um den schmalen Hals des teuren Keramikgebildes. Noch bevor meine eigenen Finger das Porzellan erreichen, haben andere die hohe Vase auf dem Teppich bereits wieder aufgerichtet. „Wo haben wir es denn so eilig hin, Mädchen mit den Mondaugen?" Vor mir steht, natürlich, Henry und er steht nicht nur vor mir, sondern so nah, dass ich für einen Augenblick den Atem anhalten muss, damit sich dieser nicht um ein Vielfaches beschleunigt. Noch während ich imstande war, selbst nach der umfallenden Vase zu greifen, hat er mir dies vorweggenommen und den anderen Arm um meine Hüfte geschlungen, um mich daran zu hindern anstatt ihrer zu Boden zu gehen.

Ungewöhnlich sanft, so wie ich es von Händen wie diesen nicht erwartet habe, legen sich Henrys Finger um meine Taille und zieht meinen Körperschwerpunkt zurück ins Gleichgewicht und damit noch näher an ihn heran. Seine bernsteinfarbenen Augen mustern meine vom Eilen geröteten Wangen und sein Blick jagt mir eine kühle, aber nicht unangenehme Gänsehaut über den Rücken, die mich leise zusammenzucken lässt. Doch um genau dies zu überspielen, erwidere ich unverwandt das Mustern seine Augen, als diese im dämmrigen Licht des Korridors auf meine treffen. „Ich... ich wollte nur...", stammle ich und verfluche mich innerlich dafür, mir keine gute Ausrede bereitgelegt zu haben und jetzt, dem unverhohlenen Blick von Henry Courterton ausgesetzt, fällt mir erst recht keine ein. Seine Finger um meine Taille ziehen sich noch ein wenig tiefer, hinab zu meinem Steißbein und unter seiner Berührung intensiviert sich die Gänsehaut nur noch mehr. „Soweit ich weiß, ist das Bücherzimmer, das du bezogen hast, im Erdgeschoss", wispert Henry leise, als er den Blickkontakt unterbricht und mit dem Gesicht so dicht kommt, dass ich seine Worte nur ob der Nähe seiner Lippen an meinem Ohr vernehmen kann. „Dahin, Luna, wolltest du doch..." Er lacht leise. „...oder nicht?" Die Anklage in seinen Worten ist unüberhörbar und ich bin mir ziemlich sicher, dass er ganz genau weiß, wie wenig es seinem Vater gefallen würde, wüsste dieser, dass die ungezogene Brut der Whites aus Mayfair, die er gütiger Weise als Kindermädchen bei sich aufgenommen hat, in seinen und den privaten Gemächern seiner toten Frau spioniert. Auf der anderen Seite klingt auch noch etwas anderes in dem tiefen Bariton von Henrys Stimme mit, etwas, dass ich nicht deuten kann, mir allerdings ein unerwartetes Gefühl der Wärme im Unterleib beschert.

Schnell trete ich einen Schritt zurück und erst, als ich hörbar ausatme, bemerke ich, dass ich die ganze Zeit über, die ich Henry in dessen tiefe ungewöhnlich helle Augen gesehen habe, den Atem angehalten habe. Ich spüre, wie Henrys Finger, noch während er seine Hände von meiner Hüfte nimmt, betont langsam über die ockerfarbene Wolle meines Kleides streicht und ich spüre, wie mein Becken unter seiner Berührung leise zittert. In der Hoffnung, dass Henry nicht bemerkt, wie ich auf seine unerwartete Nähe reagiere, streiche ich mir eine Strähne hinter das linke Ohr und erkläre, forscher als beabsichtigt: „Ja, genau da wollte ich hin. Muss mich wohl im Stockwerk geirrt haben, Henry. Kann ja nicht jeder seit Jahrzehnten eine mehrstöckige Villa mit Ost- und Westflügel bewohnen," gebe ich ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu verstehen und schenke ihm dann ein süffisantes Lächeln. „Danke für..." Ich mustere die hohe Vase, die noch immer neben uns steht, jetzt allerdings wieder gerade und aufrecht. Für's Helfen, hatte ich eigentlich sagen, aber ich werde einen Teufel tun und vor ihm zugeben, dass ich für einen winzigen Augenblick das Porzellan auf dem Boden zerschellen und mich bereits wieder nach Hause fahren gesehen habe. Also lasse ich den Satz in der Luft hängen und mache auf dem Absatz kehrt. „Nun denn, bis zum Dinner, Henry," lasse ich erklingen, bevor ich, etwas zu hastig, auf dem oberen Treppenaufgang verschwinde. Genervt von mir selbst auch nur einen Moment mich dem Blickkontakt seiner schönen Augen hingegeben zu haben, lasse ich das Obergeschoss und Henry hinter mir. Ich kenne Männer wie ihn nur zur Genüge und ich nehme mir vor einen Teufel zu tun und noch einmal den verfluchten Atem anzuhalten, nur weil er mir ein paar Worte ins Ohr wispert. Männer wie Henry gibt es in London und vor allem in Mayfair zu Hauf, Männer wie Henry wissen um ihr ansehnliches Äußeres und dass ihr Wohlstand ihnen einbringt, was sie verlangen. Gut, dass ich nie zu den Frauen gehört habe, die sich Männern wie Henry hingeben. Na gut, außer jetzt im oberen Stockwerk für einen winzigen Blickkontakt.

Und erst jetzt fällt mir auf, dass ich nicht die einzige deplatzierte Bewohnerin von Haven Hill im oberen Ostflügel gewesen bin. Erst jetzt fällt mir auf: Was macht ein Henry Courterton, der selbst alleine den oberen Westflügel bezieht, in den privaten Gemächern seiner ermordeten Stiefmutter?

oOo

Das Bücherzimmer, das – samt begehbarem Wandschrank und großzügig eingerichtetem Bad – den Mittelpunkt eines etwas ausquartierten Apartments im Erdgeschoss bildet, wird seinem Namen mehr als gerecht. Das Zimmer, das am Ende eines viel zu langen Korridors liegt und somit etwas abseits der restlichen Räume aus einem einzigen großen Erker geformt ist, ist vollgestellt mit alten Bücherschränken, denen man mehr als ansieht, dass bereits mehr als bloß die letzten beiden Kriege hinter ihnen liegen. Fein gravierte Ornamente schlingen sich, aus dunklem Mahagoni geformt, um dicke Ledereinbände, schmale in Leinen geschlagene Hefter und Wälzer, breit wie mein Handteller aus festem, eingetünchten Papier. Beide Längsseiten des Erkerzimmers werden von Regalen eingenommen, Reihe an Reihe, Buch an Buch, welche in einem breiten, behangenen Bett münden, einem Spalier ins Land der Träume gleich. Hinter den hohen Bettpfosten scheint dahinter das Tageslicht durch die bodenlangen Fenster – im Sommer sicherlich ansehnlicher, als der graue Novemberhimmel, der nun draußen alles Licht ausschließt.

Dunkle, bordeauxrote Vorgänge umspielen den hellen Fensterrahmen bis hinab zu den ebenholzfarbenen Dielen, die in der Mitte des Raumes von einem teuer aussehenden alten Brokatteppich bedeckt sind, in dem bei meiner Ankunft noch einige graue Staubflusen gehangen haben und der noch immer ein wenig muffig riecht. Pearline erklärte mir, kurz bevor sie und ihre Schwester mich den Korridor entlang hier ins Bücherzimmer leiteten, dass dieses seit Jahrzehnten kaum genutzt und deshalb als Abstellkammer umfunktioniert wurde. Wohl hatte ich bei dem Gedanken fortan für Wochen eine Abstellkammer zu bewohnen, pikiert die Nase gerümpft, doch hatte Addison, nachdem Pearline meine Reaktion sichtlich genossen hatte, dann freundlicherweise hinzugefügt, dass es sich lediglich um eines der Gästezimmer handelte, dass dazu dient all den Kram, den ihr Vater und vor allem Lavinja für zu wunderbar gehalten hatte, um ihn in den Keller zu verbannen und all die Bücher, die die Bibliothek von Haven Hill bereits in teureren, selteneren Versionen und Auflagen innehatte, aufzufangen.

So füllen die Regale neben Büchern und unerkennbarem Kleinkram unter anderem noch ein alter Globus, eine bereits etwas verstaubte Schmetterlingssammlung auf spitzen Drahtgestellen, ein verbeulter Koffer unter dessen halb geöffneter Klappe etwas hervorlugt, das nach verworrenen Tonspulen aussieht, ein etwas kleingeratener Plattenspieler mit fleckigem Klangrohr, die Büste einer Frau mit verträumten Blick in Richtung eines alten Rahmens gerichtete, dessen Inhalt bereits angelaufen und nur mit Mühe als Fotographie einer südländischen Küstenlandschaft zu erkennen ist. Doch scheinen all diese Gegenstände, ob groß oder klein einzig der Buchhalterung zu dienen, damit die dicht an dicht gereihten Einbände nicht aus den hohen Regalen fallen. An dem verbeulten Koffer lehnt Goethes deutsche Originalausgabe von Die Leiden des jungen Werthers, in das Drahtgestell der Schmetterlinge miteingeflochten ist Der Sturm von Shakespeare und würde man den kleinen Plattenspieler auch nur um einen Zentimeter verschieben, so fiele einem Moby Dick sogleich zu Füßen, dicht gefolgt von einem Stapel Charles Dickinson und einer Erstausgabe Sturmhöhe von der ich gerne gewusst hätte, ob sie in diesem Haus überhaupt jemand las. Bei dem Gedanken an Henry mit Emily Bronte in der Hand muss ich grinsen, doch das vergeht mir auch sogleich, als mir einfällt, dass das Bild von dem vorgespielten Romantiker, um das zu bekommen, was er will, eigentlich genau das ist, welches ich von ihm habe. Ich schnaube in die Stille des Raumes hinein und kräusele meine Stirn.

Ich selbst habe mir nie viel aus Büchern gemacht – ganz zum Leidwesen meiner Mutter, die mit einer stillen, gesitteten Tochter sicherlich hätte mehr anfangen können, als meinem zu Streichen und Scherzenaufgelegten Selbst – aber sogar auf mich haben die hohen Regalreihen, die bis unter die stuckverzierte Decke reichen etwas ungeheuer Beruhigendes. Gleich als ich das Bücherzimmer betrete und die schwere Holztür hinter mir ins Schloss fällt, seufze ich auf, von der allgegenwärtigen Stille der Bücher zur Ruhe gebracht und erleichtert, so viel Abstand wie möglich zu Henry wahren zu können. Ich werfe einen Blick auf die Uhr im Regal an der Längsseite und weiß, dass ich mich etwas beeilen muss, wenn ich pünktlich zum Dinner im Großen Saal kommen will, doch die Stille des Raumes verlangt, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und so ist mein Schritt nicht eilig hastend, sondern betont langsam, als ich zur Tür zum anliegenden Schrank hinüber gehe und mich durch die Kleiderbügel schlage, um etwas Passendes rauszusuchen.

Wenngleich ich Bücherwelten nur selten genug etwas abgewinnen kann, um wirklich dabei zu bleiben, widme ich mich den Abendkleidern, die Mutter für mich vor meiner Abreise nach Haven Hill besorgt hat, nur allzu gerne, ich glaube sogar, Kleider und teure Stoffe sind die einzige Schnittmenge, die die Interessen meiner Mutter und mir innehaben. Doch es geht nichts über das Gefühl von kühlem, seidigen Stoff in den Fingern, watteweichen Tüll um die Knie, nichts liebe ich mehr, als das dunkle Schwarz, das meine Hände in diesem Moment an der Kleiderstange erfassen und das mich sofort in seinen Bann zieht. Vorsichtig öffne ich den kleinen Reißverschluss an der Rückseite und schiebe meine langen Beine durch die Öffnung, bevor ich den schwarzen Stoff, bedacht nichts zu zerreißen, über meine schmalen Hüften ziehe und die langen Spitzen-Ärmel über meine Arme streife. Das Kleid ist hochgeschlossen, bildet oben einen sanften Kranz um meinen Hals, doch formt sich bis zur Taille hinab in nichts als Spitze und ist am Rücken dagegen weit geöffnet, sodass dieser fast gänzlich freiliegt und durch das verdeckte Dekolleté doch nicht den Eindruck nach Prüdheit erweckt. Der glatte, seidige Stoff des langen Rocks, der an der Taille an die Spitze ansetzt, streicht leicht, fast sanft um meine Beine und ich trete in das geräumige Bad neben an, in dem ich bereits am Tag meiner Ankunft meine Schmink- und Haarutensilien ausgebreitet habe – Ganz zum Staunen der Zwillinge. Ich entscheide mich für einen ungewöhnlich starken Lippenstift, dunkel wie die Dielen zu meinen Füßen, rot wie der Vorhang neben dem Fenster, rot, wie der Brokatteppich, rot, wie die Augen des Kaninchens vorhin mit Addison auf der Wiese, rot. Rot wie Blut. Ich weiß nicht, ob das in dunklem Humor lustig oder einfach nur makaber ist. Vermutlich beides.

Ich betrachte mich selbst im Spiegel und stecke meine Haare mit ein paar geübten Handgriffen und drei silbernen Nadeln mit blütenem Aufsatz hoch und ziehe vorsichtig ein paar Strähnen zu beiden Seiten wieder aus dem Zopf, um nicht zu ordentlich auszusehen: Es mag sich um ein Dinner im Hause der Courtertons handeln, das erste Dinner zudem, an dem die Familie nach einem tragischen Ereignis wieder beisammen kommt, doch zu gemacht auftreten will ich nicht, schließlich ist es nach allem ja nur ein Abendessen. Ein ganz gewöhnliches Abendessen. Oder etwa nicht?

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