Kapitel 6.1 - Was du geworden bist
gewidmet Leezetera,
weil es das erste Kapitel seit langem ist, das noch nicht kennst. xD Danke fürs Mitlesen! <3
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27. Tas' Saru 2146 n.n.O.
Es ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Wann immer meine Gedanken abschweiften, war mir, als würde ich wieder den Gesang der Meermenschen hören. Wieder und wieder. Ob es Ricco auch so ging? Immerhin hatte er letztens die Meermenschen ebenso gehört. Kurz war ich versucht, meine aktuelle Aufgabe einfach unerledigt zu lassen und den Krieger suchen zu gehen. Aber den Gedanken verwarf ich sofort wieder. Trotz allem, was wir mit Lucien erlebt hatten, gab es noch immer nichts, was wir zu bereden hatten. Dann müsste ich vielleicht eher mit Varon sprechen. Der würde mir vielleicht sogar verraten, wie es Ricco ging...
Aber auch mit all diesen Überlegungen konnten ich mich nicht belügen. In Wahrheit suchte ich nur einen Grund, um nicht das tun zu müssen, wofür ich eigentlich hier war. Wie sollte ich da nur diese verfluchten Segel einholen? Hätte ich Lisa doch gestern nur mal dieses Bitte abgeschlagen. Aber da ich das hier immerhin allein machen konnte, hatte ich doch zugestimmt.
Beklommen starrte ich auf die Überreste von Sörans Kahn. Das Wasser hier war nicht sehr tief, sodass sich sogar noch ein paar hellere Strahlen der Sonne bis auf den Grund des Sees vorkämpfen konnten, um das Wrack in ein unheimliches, grünes Zwielicht zu tauchen. Es wirkte sogar noch unheimlicher, weil das kleine Boot abgesehen von zwei großen Löchern in Bug und Heck völlig intakt aussah. So gewöhnlich mit den zwei kleinen, mit blauen und gelben Kreisen bemalten Segeln. So absolut typisch mit den spielerischen Schnitzereien in der niedrigen Reling und den beiden Luken, die in die fensterlosen, beengten Kajüten unter Deck führten. Trotzdem sah es hier unter Wasser aus wie ein abartiges Geisterschiff. Alles daran schrie danach, dass es hier ebenso wenig hingehörte, wie Fische in den Himmel.
Nur der Mast, an dem die zwei Segel des Kahns hingen, schien noch zu kämpfen. Er streckte sich stolz und störrisch Richtung Oberfläche, ja, ragte sogar noch ein gutes Stück aus dem Wasser heraus und hielt so die zwei Segel des Fischerkahns noch immer aufrecht und einsatzbereit.
‚Er ist sogar noch vom Land aus zu sehen. Ebenso wie die Schatten des Wracks, wenn die Sonne auf den See scheint.' Das hatte mir Lisa erzählt, als sie gestern in der Schneiderei kurz nach dem Rechten gesehen hatte, bevor sie wieder zu ihrer Tochter auf die Insel zurückgekehrt war. Immerhin machte Bars gute Fortschritte beim Laufen und sprechen lernen. Aber es würde wohl noch ein paar Zyklen dauern, ehe sie das Leben an Land genug verinnerlicht hatte. Erst dann war es ihr gestattet beliebig zwischen Land und Wasser zu wechseln. Laut Lisa freute sich Bars schon wieder aufs Wasser.
Ich würde mich aufs Land freuen.
Seufzend schob ich den Gedanken bei Seite und konzentrierte mich wieder auf meine eigentliche Aufgabe: Ich sollte diesem Mahnmal auch noch seine letzte Würde nehmen und die beiden Segel des Bootes einholen. Lisa meinte, es sei eine Verschwendung, es im Wasser verrotten zu lassen und ihr würden auf Anhieb mindestens zehn Dinge einfallen, wobei es nützlicher wäre, als ,eine Warnung zu hinterlassen'. So hatte sie es genannt.
Deshalb wurde der Kahn auch nicht abgebaut, sondern dort in relativer Strandnähe auf dem Grund liegen gelassen. Damit die Menschen an Land daran erinnert wurden, dass der Schwarm nicht mehr spielte. Aber dazu brauchte es keine Segel. Und nun schwamm ich hier mit einem Messer ausgestattet und hatte keine Ahnung, wie ich am Besten anfangen sollte.
Vielleicht bei den Tauen an der Spitze? Aber dann müsste ich halb aus dem Wasser raus und würde nicht mehr atmen können. Außerdem konnte ich mit meinen froschartigen Füßen kaum das Stück Mast, das aus dem Wasser herausragte, hinaufklettern. Also würde ich wohl doch erst einmal unten anfangen. Uff. Immer noch zögernd schwamm ich zu dem ersten der wirklich vielen, vielen Taue und Knotenpunkte, die die beiden Segel fest an den Mast banden. Das würde den halben Tag dauern.
Ich hatte bereits ein paar der vielen dünnen Taue durchschnitten, als ein Rufen durch meinen Geist schwappte: >>Senga! Du bist ja schon da!<<
Irritiert sah ich mich suchend um. Die Stimme sagte mir spontan nichts. Es dauerte einen Moment, eh ich die Gestalt erkannte, die da auf mich zuschwamm: Tiane.
Ich schluckte. Sie zu sehen war nicht schlimm, doch appelierte es an mein schlechtes Gewissen. Ich hatte mir schon seit der Schwarmversammlung, in der sie so unerwartet Partei für mich ergriffen hatte, vorgenommen, mit ihr zu reden und es immer noch nicht geschafft.
Um mich zu sammeln, tat ich das Erste, was mir einfiel: Ich legte die Hand aufs Herz und neigte den Kopf knapp nach vorne, die höfliche Begrüßung unter den Schwärmen.
Tiane zögerte kurz, dann erwiderte sie die vielleicht etwas zu förmliche Geste in gleicher Manier – und garnierte sie mit einem Lächeln, das mich sofort wieder aus dem Konzept brachte. Ich war die ausdruckslosen Gesichter der Flussmenschen und der meisten ihrer Partner hier unten mittlerweile so sehr gewöhnt, dass mir ihr Lächeln fast schon seltsam vorkam. Trotzdem erwiderte ich es. Und obwohl es sich nicht ganz echt anfühlte, wurde mir leichter ums Herz. Manchmal vergaß ich, dass ich eigentlich gerne lachte.
>>Du hast ja schon angefangen! Warum hast du nicht gewartet?<<, setzte Tiane ihre bisher einseitige Unterhaltung mit mir unbeirrt fort.
>>Äh. Wie?<<, antwortete ich nach wie vor wenig einfallsreich.
>>Na hat dir das keiner gesagt? Wir sollen diese albernen Segel zusammen abschneiden! Lisa hat mich gestern noch gefragt.<<
Ich blinzelte sie überrumpelt an. Nein, das hatte mir keiner gesagt. Wäre auch neu gewesen, wenn sie es getan hätten. Als wir dann begannen, weitere Taue zu lösen, schwankte ich schwankte zwischen Resignation, dass ich auch hier keine Zeit für mich hatte und Erleichterung, dass ich nicht länger allein ran musste. Doch umso länger wir schweigend nebenbeneinanderher arbeiteten, desto mehr überwog die Erleichterung, denn es war anstrengend.
Nach einigen Wellen friedlichen Zusammenarbeitens, räusperte ich mich schließlich leise – oder tat das Unterwasseräquivalent dazu: Ich pustete Luft aus meinen Kiemen heraus, sodass sich ein paar kleine Luftblässchen lösten und ihren Weg zur Oberfläche suchten. Wie geplant, warf mir Tiane einen fragenden Seitenblick zu, den ich mit einem vorsichtigen Lächeln erwiderte. >>Ich wollte dir noch erzählen<<, begann ich zögerlich, weil ich noch immer nicht wusste, wie ich ein Gespräch mit einer quasi Fremden anfangen sollte, die aber trotzdem irgendwie bekannt war. Am besten direkt sagen, was ich sagen wollte: >>Ich habe neulich deinen Vater gesehen. Als wir ... als ich ... naja ...<<
Tiane nickte und sah mich voll Neugierde und einen Hauch von Traurigkeit an. Es war faszinierend wie ausdrucksstark ihr Gesicht war. >>Und? Was hat er gesagt?<<
>>Naja – er hat sich eher mit anderen unterhalten, nicht mit mir. Aber dabei fiel dein Name und die Erwähnung, dass dein Bruder nun einen gesunden Sohn hat. Ich dachte, naja – dass du das gern wissen würdest wollen.<< Verlegen begann ich wieder das Tau vor mir mit meinem Messer zu zersäbeln. Es war wirklich meine Lieblingsarbeit. Der Widerstand des Wasser erschwerte das eh schon mühsame Zerschneiden der robusten Seile und die Fasern lösten sich nur äußerst widerwillig von einander. Darüber hinaus wurde die glatte Fläche des Segels von der seichten Strömung nervigerweise immer wieder gegen meinen Körper und mein Gesicht gedrückt.
Als ich das Segeltuch wieder bei Seite geschlagen hatte, fing ich Tianes glückliches Grinsen auf. >>War ja klar. Ich glaub, unsere Familie kann nur Jungs. Ich war da die Ausnahme. Mein Vater und mein Opa hatten auch nur Brüder. Ich glaub, mein Uropa auch.<<
Ich grinste. >>Das ist halt so, wenn man was Besonderes ist.<<
Tiane lachte. >>Danke, danke. Und genau deshalb werde ich mit dir zum Segeltuchschneiden abgestellt. Wir sind was Besonderes.<<
Einen Moment lang hörte ich damit auf, an meinem Seil herumzuschnippeln, dankbar für die kurze Pause, in der ich meine Hände etwas lockern konnte. >>Das ist eine Art es auszudrücken. Was hast du ausgefressen?<<
Auch Tiane hatte aufgehört zu arbeiten und ihr Messen achtlos zwischen die Taue gerammt, wo es jetzt stecken blieb und darauf wartete, irgendwann wieder benutzt zu werden. Sie hatte anscheinend genauso wenig Lust wie ich auf diese Arbeit. >>Seit dieser dummen Seeblockade kann ich nicht mehr arbeiten und nun kann ich all das machen, was anfällt und worauf kein anderer Lust hat.<<
Wieder lächelte ich. Mit Tiane war das überraschend einfach. Trotzdem gaben mir ihre Worte zu denken. >>Arbeitest du in einem der Dörfer?<<, fragte ich neugierig. Immerhin hatte Zac auch als Tischlergeselle in einer dörflichen Schreinerei gearbeitet.
>>So in etwa. Ich bin Portraitzeichnerin. Also war es, ehe wir hier festgesetzt wurden.<<
Oh. Das hatte ich nicht gewusst. Gleichzeitig wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte und begann mich wieder mit meinem Tau zu beschäftigen. Die Arbeit machte nicht von allein weiter. Trotzdem wollte ich dieses Gespräch nicht von der Strömung davon fließen lassen und versuchte es mit einer neutralen Frage: >>Und vermisst du es? Die Arbeit mit den Menschen meine ich? Oder war es doch eher schwierig?<<
Zacs Berichte waren ja doch eher negativ gewesen. Aber Tiane zuckte nur mit den Achseln. >>Sicher waren nicht alle begeistert. Aber zum einen bin ich grundsätzlich immer noch Mensch, auch wenn ich mich für Ering entschieden habe. Das hat mir einige Sympathiepunkte gebracht. Zum anderen sind die, die ein Problem mit mir und meiner Familie haben, nicht mit ihren Aufträgen zu mir gekommen. Daher konnte ich mich ehrlich gesagt kaum beklagen. Naja, außer, dass die Aufträge in den letzten Zyklen merklich weniger geworden sind.<<
Ich nickte das ab. Wenn man daran dachte, wie sich die Lage in der Vergangenheit immer weiter zugespitzt hatte, war das nicht verwunderlich. Zu meiner Überraschung ließ Tiane das Thema nicht fallen: >>Schlimmer ist eigentlich, dass ich meine Eltern nicht mehr sehen kann. Und meine Brüder. Ich würd auch den Kleinen so gern mal sehen! Meine Beiden fragen schon immer nach ihren Großeltern und ihren Onkeln. Ich weiß nicht mehr, was ich ihnen darauf antworten soll ohne sie anzulügen oder traurig zu machen.<<
Das stimmte. Ich hatte schon lange keine „Besucher" mehr im See gesehen – Menschen, die von Varona das „Gastrecht" verliehen bekommen hatten. Irgendwann wurde mir mal erklärt, dass Varona mit ihren Eary-Fähigkeiten die Magie der Flussmenschen so abändern konnte.
Ein Wasserkuss band den Betroffenen dann nicht an einen einzelnen Flussmenschen oder gar den ganzen Schwarm, sondern er oder sie erhielt lediglich die Fähigkeit, eingeschränkt über die Gedankenverbindung zu kommunizieren und im Wasser zu überleben, ohne aber weiteren Anpassungen wie Schwimmhäute oder Froschpaddel statt Füße zubekommen. Außerdem brauchte der Gast genau wie ich ein vollwertiges Schwarmmitglied, das ihn ins Wasser „einlud" oder aber zurück an Land „verabschiedete".
Eigentlich war es ganz nett, weil das bedeutete, dass die Familien und Freunde sich noch immer gegenseitig besuchen konnten und die Entscheidung für einen Flussmenschen kein endgültiger Abschied von allem, was einem lieb und teuer ist, bedeutet. Abgesehen mal von der Tatsache, dass solche Besuche seit der Schwarmversammlung auch verboten waren. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass die Lage ganze Familien auseinander riss.
Irgendwie fühlte ich mich schuldig.
>>Das tut mir leid.<<, antwortete ich schließlich leise. Schweigsam starrte ich auf das nächste Tau, das ich gerade begonnen hatte zu bearbeitete, als sich das Segel wieder einmal an mir vorbei nach oben in mein Gesicht zu schieben versuchte. Genervt schlug ich es bei Seite. Ob das Ding an der Oberfläche schwimmen bleiben würde? Jedenfalls fühlte sich der Segelstoff selbst wasserabweisend an. Vielleicht probierte ich es nachher einmal aus, wenn wir es eh irgendwie zusammenlegen mussten.
Plötzlich zog etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich, ein Gefühl der Leere in meinem Magen. Als hätte ich mich im Dunkeln eine Treppe hinunter getastet und am Ende vergessen, dass da noch eine Stufe war. Unwillkürlich suchte mein Blick die Umgebung ab. Ja, da war ein kleiner Punkt, der sich rasch auf uns zubewegte.
Auch die Frau an meiner Seite konzentrierte sich auf ihn, wobei ihre Schwimmbewegungen energischer und ihr Blick abfälliger geworden war. >>Was willst du denn hier?<<, rief sie dem Neuankömmling schließlich kühl entgegen.
>>Jedenfalls nicht mit dir reden, Tiane<<, hallte Zacs trockene Antwort in meinem Kopf wieder.
>>Nein? Nicht noch irgendwelche unfreiwilligen Wasserküsse oder Entführungen, die du zu beichten hättest?<< Tianes Ton war so schnippisch und so bitter, dass sich mir der Magen zusammenzog.
Oder war es ein Echo von Zacs Gefühlen, die ich durch das Gespür fühlte? Unschlüssig blinzelte ich zu dem Flussmann herüber. Sein Gesicht war absolut unbewegt. Doch seit mir Uhna mein Gespür für Zacery bewusst gemacht hatte, war ich sensibler dafür geworden. Wann immer er in der Nähe war, hatte ich dieses flaue Gefühl im Magen, das mich unangenehm daran erinnerte, dass ich besser die nächste Strömung erwischte, um möglichst schnell wegzukommen. Ganz zu schweigen von den aufblitzenden Emotionen, die mir schwer fielen, zuzuordnen.
So wie jetzt, als er so scheinbar gleichgültig antwortete: >>Selbst wenn es so wäre, wärst du nicht die Erste, der ich es erzählen würde.<<
Unwillig verdrehte ich die Augen. >>Boar Zac!<<, schnappte ich wütend. >>Kannst du auch Mal freundlich sein? Wenigstens ein mal?<<
Wut, von der ich nicht sicher war, ob es meine oder seine war, zog sich durch meine Adern. >>Wenn sie mir einen Grund gäbe, nett zu sein – gerne! Aber ich habe es satt, mich von allen anfeinden zu lassen.<<
>>Verdient. Nach dem, was du verzapft hast!<<, mischte sich Tiane wieder ein.
Ich stutzte. Mir war nicht unbedingt aufgefallen, dass Zac angefeindet wurde – aber ich vermied ja auch nach Möglichkeit jede Nähe zu ihm.
Zac wiederum ignorierte sie nun vollständig und wandte sich direkt an mich, diesmal wieder mit einem beherrschteren, freundlichen Ton: >>Hast du einen Moment, Senga? Ich würde gern kurz etwas besprechen.<<
Intuitiv schüttelte ich den Kopf. Ich hatte nicht die geringste Lust mit ihm zu reden. Doch Zac sah mich weiterhin mit seinen irislosen grau-blauen Augenflächen durchdringend an. >>Bitte?<<
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