Kapitel 11.2 - Kein Wässerchen trüben
„Senga? Kommst du?", hörte ich Trells Stimme dicht an meinem Ohr und ich zuckte zusammen. Trotzdem tastete meine Hand automatisch nach seiner, ehe wir zusammen weiter ins Wasser gingen, hin zu dem Steg, auf dem Jarik uns schon erwartete. Weiter hinter mir hörte ich dabei das leise Platschen vieler Füße, die nun ebenfalls ins Wasser kamen. Schließlich sollten nicht nur das Hochzeitspaar im Wasser stehen, sondern auch ihre Gäste. Ob die Leute hier auch im Winter heirateten? Oder nahmen sie die Traditionen dann nicht ganz so genau?
Als Trell und ich endlich auf Höhe des Priesters zum Stehen kamen, war es weitaus tiefer, als nur knietief, wie Papa angekündigt hatte. Tatsächlich stand ich bis zur Hüfte im Wasser. Und als ich in Jariks belustigt funkelnde Augen sah, war ich mir fast sicher, dass er sich mit Absicht so weit weg vom Ufer positioniert hatte. Wie witzig. Nicht.
„Lore fließe mit dir, Senga."
Ich atmete tief durch und verkniff mir meine sarkastischen Antworten. Stattdessen nickte ich und war dankbar um die Kühle, die mir das Wasser brachte. Vielleicht war auch das Jariks Absicht gewesen. „Danke", murmelte ich schließlich leise und starrte auf das kühle Nass, das um meine Hüften plätscherte.
Noch immer hörte ich nichts.
„Nun gut – dann fangen wir mal an", sagte der Priester leise und schaute direkt zu mir. „Trell hat mir ein paar Details erzählt, die ich in einer kurzen Ansprache verwenden werde. Schade, dass du keine Zeit hattest, um bei unserem Vorgespräch dabei zu sein."
Ich zwang ein Lächeln auf mein Gesicht und ignorierte den Vorwurf in der Stimme des Mannes. „Ich fand es auch schade. Doch da war noch so viel zu tun", heuchelte ich Bedauern. „Aber ich bin sicher, dass Trell alles erzählt hat, was nötig ist."
Kurz fragte ich mich, was Trell wohl erzählt hatte. Immerhin würde Jarik „unsere Geschichte" traditionsgemäß für alle Hochzeitsgäste zusammenfassen, damit jeder eine persönliche Bindung zu diesem Tag und auch zu uns aufbauen konnte. Andererseits war es mir auch wieder egal. Ich kannte von diesen Leuten sowieso nur Papa und Hannah.
„... haben sich unter ungewöhnlichen Umständen kennengelernt. Keiner hätte wohl gedacht, dass sie sich einander zusprechen würden, als Trell das erste Mal Markus' Haus ..."
Während die Rede des Priesters an mir vorbei schwappte, registrierte ich, dass wohl jeder etwas mit Papas Namen anfangen konnte. Es erstaunte mich immer wieder, wie viel Einfluss er in ein paar Zyklen sammeln konnte. Ob er die Wut gegen den Schwarm nur geschürt oder auch gesät hatte?
„... In der Zeit viele Gemeinsamkeit erkannt und Gefühle füreinander wachsen lassen..."
War wohl gut, dass ich nicht bei dem Gespräch dabei gewesen war. Ich hätte Trells Zeit bei uns ein wenig anders beschrieben. Wieder dachte ich daran, wie unangenehm mir Trell damals gewesen war. Wollte ich das wirklich? Hatte ich wirklich keine Wahl? Doch egal wie oft ich mir diese Frage stellte, ich kam immer zu dem gleichen Schluss. Wenn das alles enden sollte bevor es weiter eskalierte, hatte ich sie nicht.
„ ... Und dann, als Trell bereit war, ihr einen Heiratsantrag zu machen, kam alles anders, als ein Monster aus dem Fluss die arme Senga mit sich schleppte ..."
Innerlich krampfte sich bei dem Wort ‚Monster' alles in mir zusammen. Das war nicht richtig, sie so zu nennen. Unwillkürlich lauschte ich wieder in den See. Diese anhaltende Stille hätte mich beruhigen sollen. Tat sie aber nicht. War wirklich niemand da?
Doch ich schob den Gedanken rigoros bei Seite und schallt mich innerlich eine Närrin. Das hier war trotz allem meine Hochzeit. Ich sollte wenigstens zuhören. Doch als ich mich wieder auf den Priester konzentrieren wollte, sah ich einen kleinen Mann den Pfad hinunter hetzen. Da kam aber einer spät. Andererseits redete der Priester auch so lange, dass er bisher wohl nichts nennenswertes verpasst hatte. Hätte ich das gewusst, wäre ich auch erst jetzt gekommen.
„ ... neue Hoffnung entflammte das Herz unseres tapferen Reckens, als ihn ein paar Zyklen später Markus aufsuchte und um Hilfe bei Sengas Rettung bat ..."
Was mich aber verunsicherte war, dass der fremde Papas und Hannahs Aufmerksamkeit regelrecht zu fesseln schien, als er durch das flache Wasser auf sie zu patschte. Nicht einmal seine Schuhe hatte er dafür ausgezogen. Sie beugten sich mit konzentrierten Gesichtern zu ihm hinüber, während er ihnen hastig etwas zuzuflüstern schien. Als ich wieder zu Trell sah, hatte auch er das Dreiergespann mit gerunzelter Stirn im Blick.
Entschlossen drückte ich seine Hand. „Wer ist das?", flüsterte ich leise und ignorierte den strafenden Seitenblick des Priesters.
„Mach dir keine Gedanken, Senga. Heute Abend sind wir auf dem Weg nach Hause", murmelte mein Bräutigam leise. Das war weder hilfreich, noch beantwortete es meine Frage. Wer war wichtig genug, um Papa und Hannah am Tag meiner Hochzeit abzulenken? Der Gedanke fraß sich in mein Herz und meinen Kopf.
„...trotz schwerster Verletzungen konnte Markus nicht aufgeben. Er wollte weiter für die Freiheit seiner Tochter kämpfen..."
Ich wollte Jariks mittlerweile leicht erhobener Stimme zuhören, wirklich. Aber es ging nicht. Trells Worte kreisten immer wieder in meinem Kopf. Und mit jeder Runde wurden die Antworten offensichtlicher – und ich wütender. „Papa plant noch immer einen Angriff oder, Trell?", zischte ich leise.
Noch während ich den Satz aussprach, wusste ich, dass es wahr war. Schlagartig fielen die Puzzleteile an ihren Platz. „Deshalb will er mich so schnell von hier weg haben. Deshalb will er bleiben. Deshalb will er mit mir nicht über diese ‚Lieferung' reden."
Es waren keine Fragen mehr, die ich stellte. Es waren Tatsachen.
„Senga!", zischte mein Bräutigam drängend und Jarik räusperte sich mahnend. Doch weder Trell noch ich achteten auf ihn.
„Und er hat dir such gesagt, dass du nicht mit mir darüber reden sollst."
Ich sah Trell direkt in die Augen, doch er wich meinem Blick aus. Er konnte nicht mit mir reden. Anscheinend konnte das niemand.
„... so schafften es Markus und Trell viele gute Seelen in den Gemeinden wachzurütteln. Damit sie sich endlich wehrten! Und sie hatten Erfolg!..."
Ich linste wieder zu dem Mann herüber, der noch immer intensiv mit Papa sprach. Und in diesem Moment kam mir die Erkenntnisse, die ich bisher nicht wahr haben wollte: Es war alles umsonst. Es war egal, was ich tat. Ob ich Trell nun heiratete oder mich im Meer ertränkte. Sie würden den Schwarm angreifen. Meinen Schwarm. Achs und Uhna. Varona und Sina. Die Quappen. Sirek. Gropp. Tiane. All die anderen.
Und es gab nichts, das ich tun konnte. Ich wusste ja nicht einmal, was Papa vorhatte. Er redete nicht mit mir darüber. Aber vielleicht konnte ich ja mit Trell sprechen. Vielleicht konnte er Papa davon überzeugen, es einfach sein zu lassen. Wenn wir nach der Hochzeit nur genug Zeit hätten. Vielleicht-
Trell wusste, was Papa plante.
Der Gedanke stand mir so deutlich vor Augen, wie das Glitzern der Sonne auf der glatten Wasseroberfläche. Selbst wenn Trell es mir nicht sagen wollte, wusste er es trotzdem.
Und es gab einen Weg, wie ich an dieses Wissen herankommen könnte. Aber konnte ich das wirklich? Wieder flackerte mein Blick zu dem fremden Mann und Papas Gesicht, das genauso ausdruckslos war, wie das eines Flussmenschen unter Wasser.
Ich hatte keine Wahl. Ich musste es wissen.
„Senga?"
Doch ich ignorierte Trells drängende Stimme. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Wasser um mich herum, stellte mir vor, ich wäre ganz untergetaucht. >>Niemals gebrochen. Niemals entzweit.<<, schickte ich eine ‚Flaschenpost' in die Strömung des Wassers. Es war einer der traditionellen Verse der Schwarmeinführung. >>Ein Versprechen für die Ewigkeit.<< Ob ich wollte oder nicht hatten sie sich seit meiner Zeremonie fest in meinem Geist verankert. Genau wie meine Schwarmzugehörigkeit. >>Ich fordere die Loyalität unseres schwarms.<< Ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete oder nicht, aber mit einem Mal, hatte ich das Gefühl, vor Publikum zu stehen und die Aufmerksamkeit vieler auf mich zu ziehen. Ich schluckte schwer. Meine Entscheidung war getroffen.
>>Wir sind beim Hochzeitssteg. Holt uns. Beide.<<
„:.. Lore schickte ein Wunder, als Senga vor drei Tagen unbeschadet und wohlbehalten plötzlich wieder in unsere Mitte zurückkehrte..."
Mir war schlecht. Mein Verrat rauschte in meinen Ohren, meinen Kopf und ich hatte das immense Bedürfnis, einfach ohnmächtig zu werden. Was, wenn sie mein Rufen doch nicht gehört hatten? Was, wenn sie es gehört hatten und trotzdem niemand kommen wollte? Oder was, wenn sie gleich hier auftauchten? Hatte ich das Richtige getan?
„...daher freue ich ... umso ...., heute mit euch ... stehen... zusammen..."
Und ausgerechnet jetzt wurde Jarik langsam fertig. Dabei verstand ich kaum noch seine Worte, nur der Tonfall war anders, feierlicher. Gleich würde ich irgendetwas tun müssen. Ich wusste nur nicht mehr was. Verzweifelt blickte ich in Trells fragende, dunkle Augen.
>>Ein Versprechen für die Ewigkeit.<<, hallte es plötzlich in meinem Kopf.
Sie hatten mich gehört.
„Es tut mir leid", wisperte ich leise.
Noch während sich die Verwirrung auf Trells Gesicht abzeichnete, brach das Chaos los.
Es kündigte sich fast schon unscheinbar mit einem kaum merklichen Wackeln der Absperr-Netz-Stöcke an. Doch jeder, der das sah – also alle – wusste, was das bedeutete.
„Senga! Trell! Aus dem Wasser!"
Ich zuckte bei Papas Gebrüll zusammen. Wie mechanisch wandte ich mich dem Steg zu, um wie immer das zu tun, was irgendwie von mir erwartet wurde. Doch dann blieb ich abrupt stehen und blickte ausdruckslos direkt in Papas verzerrtes Gesicht. Mit einem mal realisierte ich, dass ich das nie wieder gut machen konnte. Es gab kein zurück mehr.
„Senga, was?!" Diesmal war es Trells Stimme, die gedämpft zu mir durchdrang, als er mich am Arm packte, um mich mitzuziehen. Zwecklos. Im Gegensatz zu ihm wusste ich, dass es zu spät war.
Da tauchte Sina hinter ihm auf.
Sina, mit ihrem eng anliegendem Schwimmoberteil und den vielen, dünn geflochtenen, Zöpfen, die ihr wild über die Schultern fielen, sah wie die Inkarnation der gefährlichen Flussfrau aus. Das Haifischlächeln in ihrem Gesicht machte den Eindruck nicht besser. Der Dolch in ihrer Hand auch nicht. Vermutlich hatte sie damit gerade das Netz zerschnitten. Obwohl ich das wusste, beruhigte es mich nicht.
„Verschwinde, Fischweib!", knurrte mein Bräutigam plötzlich und positionierte sich schützend zwischen mich und der Flussfrau, während er mich noch immer versuchte, in Richtung Steg zu schieben. Eine Geste, die mir meinen Verrat noch deutlicher vor Augen führte. Doch es gab kein zurück. Ich hatte eine Entscheidung getroffen.
Noch während ich auf dem Steg hinter mir die davon hastenden Schritte des Lore-Priesters hörte, grinste Sina nur noch breiter. Vage war mir bewusst, dass alle Gäste begannen, durcheinander zu schreien. Doch ich verstand keine Worte mehr, sie gingen zwischen dem beständigen Rauschen in meinen Ohren einfach unter. Sinas breiter werdendes Grinsen brannte sich dagegen in meinen Kopf ein, während sie auf uns zuschwamm und den erstarrten Trell in einer einzigen, fließenden Bewegung, ihren Dolch direkt an den Hals legte.
Trells Griff um meinen Arm wurde so fest, dass es weh tat, sonst rührte er sich nicht, als die Flussfrau meinem Bräutigam fast schon sanft ihre andere Hand auf die Wange legte und ihm einen Kuss auf den Mund hauchte. Das war meine Entscheidung gewesen.
>>Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so einen hübschen Mann von seiner Hochzeit entführen würde ...<<, hörte ich Sinas Stimme in meinem Kopf kichern.
Ihre Hand war verspielt erst Trells Wange und dann seinen Hals hinunter gewandert, während die andere ihm noch immer den Dolch an die Kehle hielt. Deshalb konnte ich sie auch hören. Sie war über Trell mit mir in einer Gedankenverbindung. Und sie gab das ganze Chaos seiner Gedanken und Gefühle, das nun aus ihm herausbrach ungefiltert an mich weiter. Nun musste ich mit den Konsequenzen meiner Entscheidung leben.
Mir wurde schlecht. Sein Entsetzen war ein Spiegel dessen, was ich erlebt hatte, als Zac mich ungefragt mitgenommen hatte. Aber es gab kein zurück. >>Nimm ihn mit.<<, murmelte ich Sina zu und eine neue Welle von Grauen brach über mich herein, als Trell die Tragweite dieser Worte verstand. Ruckartig löste ich mich aus seinem Griff und ließ sein Entsetzen hinter mir.
Sina wartete nicht länger und griff nach Trells zitternden, zusammensackenden Oberkörper. Seine Verwandlungsschmerzen hatten eingesetzt. Einen Moment später waren die beiden unter Wasser verschwunden und ich blieb allein zurück.
Ohrenbetäubende Schreie kreischten in meinen Ohren. Intuitiv drehte ich mich um, doch ich hatte Schwierigkeiten, das Bild, das sich mir bot, zu begreifen. Mit wachsendem Entsetzen starrte ich auf den Strand. Jedes Detail, das ich erfasste, machte es schlimmer.
Obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, waren in der Realität nur ein paar Augenblicke vergangen. Diese hatten jedoch gereicht, die gesamte Hochzeitsgesellschaft in ein größtmögliches, kreischendes Chaos zu stürzen. Denn die Menschen flohen nicht länger nur vor dem, was im Wasser lauerte, sondern auch vor einem silbernen Schrecken, der zu ihnen ans Land gekommen war.
Suriki war zwischen die Menschen gefahren.
Nur war er nicht mehr die kleine Echse auf Varonas Schultern. Groß wie ein Pferd und geschmeidig wie eine Schlange bewegte sich der Drache zielsicher zwischen den fliehenden Menschen. Mit Varona auf dem Rücken glichen die zwei den Schreckensbildern, die in längst vergangenen Zeiten verewigt worden waren. Zum ersten Mal verstand ich, warum Eary nicht nur respektiert, sondern auch gefürchtet wurden.
Aber was tat Varona da? Und warum? Und – ich begriff es, als ich wieder dieses hohe, langgezogene Kreischen hörte, das sich regelrecht in meine Ohren zu brennen schien. Surikis langer, silbrig geschuppter Schwanz ging nicht wahllos zwischen den Menschen nieder. Seine funkelnden Klauen schlugen nicht nach jedem Körper, der in seiner Nähe war. Ebenso wenig wie sein Maul nach allen Gliedmaßen haschte, die er nur irgend erreichen konnte. Im Gegenteil – er verfehlte jedes Mal.
Es waren nichts als Drohungen gegen die Fliehenden.
Außer gegen einen. Einen Menschen jagde er erbittert. Und als ich ein zweites Mal hinsah, erkannte ich auch wen: Lucien. Einen Herzschlag später hatte Suriki den panisch davon hetzenden Jungen eingeholt und sich fast schon liebevoll auf ihn niedergelassen.
„Senga!" Papas Stimme brachte mich zu meinen eigenen Problemen zurück. Denn während alle vom Strand wegrannten, war er ins Wasser gehastet und stürzte jetzt direkt auf mich zu. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich seine Verzweiflung sah.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich Papa an und wich einen Schritt vor ihm zurück.
Abrupt blieb Papa stehen und schüttelte verständnislos den Kopf.
Tonlos formten meine Lippen ein einziges Wort: Entschuldigung.
Dann drehte ich mich um und tauchte ins Wasser ein. Nur ein paar Meter vor mir sah ich Achs mit ausdruckslosem Gesicht auf mich warten.
Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Und ich würde mit deren Konsequenzen leben.
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Lichtis Quatschecke:
Aaaaaah! Ich habe mich so, so sooooooo sehr auf dieses Kapitel gefreut! Jetzt bin ich auf eure Meinungen gespannt! :D
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