Kapitel 10.2 - Des Schneiders alte Kleider
Unter der Weite des strahlend blauen Himmels kam mir die Stille zwischen uns noch erdrückender vor. Schließlich räusperte ich mich leise, um den Kloß aus meinem Hals zu vertreiben und Worte zu finden. Irgendwelche Worte. Mir war eigentlich egal, was ich sagte, solange ich die Stille nicht länger ertragen musste. „Danke, dass du dich bei Papa für eine schönere Zeremonie eingesetzt hast", murmelte ich schließlich und war selbst überrascht, was da aus meinem Mund herauspurzelte.
Trell war es anscheinend auch, denn es dauerte einen Moment ehe er antwortete. „Das – das", er unterbrach sich und zögerte, ehe er weitersprach. „Gern geschehen."
Ich lächelte verhalten – bis mir einfiel, womit er Papa unter Druck setzen wollte. „Aber du... äh ... welche Abmachung hast du dazu mit meinem Vater getroffen?"
Wieder legte sich eine unangenehme Stille über uns. Doch diesmal war ich nicht bereit, diese aufzubrechen, obwohl mir jeder Schritt, den wir auf den laut knirschenden Kies zurücklegten, wie eine kleine Ewigkeit vorkam.
Schließlich gab Trell auf: „Dein Vater hat angeboten, dass – sollten wir heiraten – ich die Werkstatt übernehmen kann, sobald er sie nicht mehr braucht. Bis dahin könnte ich als sein Angestellter zu einem fairen Lohn bei ihm arbeiten."
Ich nickte knapp. Das klang lukrativ, vor allem für Trell. Aber auch für Papa. Und ich? Dieser Deal würde auch meine eigene finanzielle Situation absichern. Aber nicht meine Unabhängigkeit. Wollte ich das? Früher hätte ich es nicht schlimm gefunden. Aber nun hatte die Vorstellung für immer von jemandem so abhängig zu sein einen schalen Beigeschmack. Schließlich kannte ich mittlerweile nur zu gut das Gefühl, einen Ort nicht mehr verlassen zu können.
„Senga?", fragte Trell schließlich leise, als sich das Schweigen zwischen uns immer weiter in die Länge zog.
Doch ich wollte ihm keine Antwort geben, konnte es nicht. Ich musste erst darüber nachdenken. Irgendwann. Irgendwie. Eigentlich bald. Also flüchtete ich mich in ein gezwungenes Lächeln: „Hm?"
„Jetzt, da wir einmal unter uns sind-"
Er zögerte und ich sah alarmiert in seine Richtung. In letzter Zeit hatte ich öfter schlechte Erfahrungen gemacht, wenn es darum ging, ‚mit jemanden unter sich zu sein'. Andererseits wollte ich das vorherige Thema auch nicht weiter vertiefen und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, konnte es alles in allem kaum noch schlimmer werden – oder? „Nun sag schon", überwand ich mich schließlich, zu dieser Aufforderung, da er ansonsten wohl wirklich nicht weitersprechen würde. Langsam war ich auch neugierig. „Du kannst nicht einfach anfangen und dann mitten im Satz aufhören!"
Trell schnaubte belustigt. „Du hast dich wirklich verändert. Aber ja. Ich-", er holte tief Luft. „Ich muss mich bei dir entschuldigen. Das, was ich damals getan habe, am Frühlingsquell, kurz bevor ..."
Er sprach nicht weiter. Musste er auch gar nicht. Wir wussten beide, was er meinte: Den Moment, als er mich an einem Baum eingekesselt und mir einen Kuss aufgezwungen hatte. Damals, als ich vor ihm in den Wald geflüchtet war und die Irrlichter getroffen hatte. Zac, der mich vor ihnen gerettet hatte, nur um mich dann kurz darauf selbst zu entführen. Ja. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, hätte das ein oder andere ohne diesen Moment wirklich anders kommen können. Oder auch nicht. Wer wusste das schon? Trotzdem nickte ich. „Ja. Das war dumm."
Trell nickte. „Ich wollte eigentlich „unpassend" sagen, aber-"
„Nein", unterbrach ich ihn ebenso kühl. „Es war dumm. Und übergriffig. Und das ist noch nett von mir ausgedrückt."
Als ich ihn jetzt ansah, zuckte ein mattes Lächeln um seine Lippen. „Du hast recht. Und heute tut es mir leid, dass ich die Situation so falsch eingeschätzt habe. Da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens. Das macht es nicht besser, aber es ist vielleicht eine Erklärung."
Er sah mich wieder aus seinen dunklen Augen an und im Gegensatz zu früher konnte ich diesen Blick nun geradeheraus erwidern. Ich hatte keine Angst mehr vor ihm. Ich wollte keine Angst mehr vor ihm haben. Und vor allem wollte ich nicht mehr alles einfach hinnehmen, was mir unangenehm war. Doch trotz dieses Vorsatzes kam ich nicht aus meiner aktuellen Situation raus. Also nickte ich wieder, um deutlich zu machen, dass ich seine Entschuldigung registriert hatte. Wie ich damit umgehen wollte, wusste ich noch nicht.
Um mal wieder vom Thema abzulenken, versuchte ich es also mit etwas unverfänglicherem: „Glaubst du, sie haben da ein Kleid? Schneidereien haben selten Kleider auf Vorrat, da sie ja eher auf Auftrag arbeiten." Ich zögerte. „Also zumindest war es bei uns so gewesen."
Ich merkte selbst, wie meine Worte zunehmend leiser wurden, soviel zu unverfänglicheren Themen. Die Erinnerung an meine Ausbildung bei Schneidermeisterin Thora und ihrer Gesellin Giselle schnürten mir fast die Luft ab. Nicht, dass ich und Giselle sonderlich gut miteinander klar gekommen wären. Aber meine Probleme von damals fühlten sich so simpel und unbedeutend an, im Vergleich zu dem Chaos, was mich jetzt umgab.
Doch Trell ging darauf nicht ein. Auch er wirkte erleichtert über die neue Wendung unseres Gesprächs. „Da hast du prinzipiell sicher recht. Aber als ich Tante Isalie – also die Schneidermeisterin, zu der wir gerade gehen – gestern Abend von unserem ... äh ... Anlass erzählt habe, hat sie ein bisschen rumgefragt."
Überrascht musterte ich Trell von der Seite. Ich hatte mir bisher kaum Gedanken über seine Familie gemacht. „Hast du noch mehr Verwandte hier?", fragte ich teils aus Neugier, teils weil ich das Gespräch nicht sterben lassen wollte.
„Nein."
Ich blinzelte. Obwohl er entspannt neben mir ging, hatte seine Stimme einen seltsam bissigen Unterton. Das gezwungene Lächeln, das er mir zuwarf, als er mich kurz von der Seite her ansah, machte es nicht besser. „Mein Vater und meine Brüder wohnen ziemlich verteilt. Aber leider nicht dicht genug, als dass sie es rechtzeitig schaffen könnten."
Er schien es ehrlich zu bedauern, sodass ich noch weniger verstand, warum er vorher so reagiert hatte. „Das ist – schade", versuchte ich es vorsichtig. Vage erinnerte ich mich, dass er einmal von seinen Geschwistern gesprochen hatte. „Es war sicher nicht einfach, mit drei älteren Brüdern aufzuwachsen."
Diese Bemerkung zauberte wieder ein echtes Lächeln auf Trells Gesicht. „Naja. Wir hatten unsere Streitigkeiten. Aber am Ende können wir uns aufeinander verlassen", kurz war da soetwas wie ein Kichern und kurz fragte ich mich, woran er gerade dachte. „Ich hoffe ja, dass du sie bald kennen lernst", fuhr er dann vorsichtiger fort. „Trotz allem. Du würdest sie sicher mögen. Sie sind zwar älter, aber auch ein ziemlich wilder Haufen."
Ich schmunzelte. Die Art wie er über seine Familie sprach, ließ ihn sehr viel weniger furchteinflößend wirken, als ich ihn bisher wahrgenommen hatte. Gerade wollte ich noch einmal nachhaken, als Trell mit einer Hand nach rechts deutete. „Wir sind da." Mit einem Mal wirkte der junge Mann neben mir wieder angespannt und ich gewann den Eindruck, dass er zwar gern seine Brüder hier gehabt hätte, aber auf die Frau hinter dieser Tür gut verzichten konnte.
Tante Isalie begrüßte Trell mit einer herzlichen Umarmung, die dieser nur sehr steif erwiderte. „Ach Junge! Das ist das Mädchen?", sie warf mir einen kurzen Blick zu, doch Trells Anwesenheit schien sie im Moment mehr zu vereinnahmen. „Ich freu mich so für dich! Weiß Mheiri eigentlich schon davon? Sie würde sicher-"
„Nein", unterbrach Trell den aufkommenden Redeschwall seiner Tante resolut. „Und ich bitte dich, ihr nichts zu sagen. Diese Frau-", die plötzliche Wut ließ seine Stimme beben. „hat jedes Anrecht verloren, irgendetwas aus meinem Leben zu erfahren."
„Aber-"
Trell zwang sich abermals zu einem Lächeln. Es sah fast überzeugend aus. Doch ich sah, wie sich hinter seinem Rücken, seine Fingernägel tief in seinen Handballen gruben. „Senga!", sagte er plötzlich und trat einen Schritt bei Seite, damit ich nicht länger hinter seinem Rücken versteckt blieb. „Darf ich dir meine Tante Isalie vorstellen?"
Ich nickte und lächelte höflich.
„Sie war so gut, eine kleine Auswahl an Kleidern zu organisieren. Vielleicht schaust du da mal durch, ob etwas Schönes für dich dabei ist? Ich würde einfach später wiederkommen und dich abholen. Ich wollte noch zu Jarik, dem hiesigem Lore-Priester."
„Ähhh..."
Doch noch ehe ich wirklich antworten konnte, hatte er mir schon kurz auf die Schulter geklopft, seiner Tante einen Abschiedskuss auf die Wange gehaucht und war fast schon fluchtartig zur Tür hinaus gestürzt. Völlig überfordert starrte ich auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Dann auf die Schneidermeisterin. „Das kam plötzlich", murmelte ich noch immer überrumpelt.
Isalie lächelte traurig. „Ach der Kleine. Ich hatte ja gehofft, dass die Walz ihm ein bisschen Abstand bringt."
„Zu dieser Mheiri?", hakte ich in einem Anflug von Neugierde nach. Dabei ignorierte ich die Tatsache, dass sie ihn ,Kleiner' nannte, obwohl er die meisten Männer um mindestens einen halben Kopf überragte. Das war wohl das ewige Los der Jüngsten.
„Huch? Hat er dir nichts von ihr erzählt?", fragte seine Tante überrascht und winkte mich dabei mit in die hinteren Räume zu kommen. Während ich ihr folgte, erzählte sie munter weiter: „Das wundert mich ehrlich gesagt auch nicht. Er ist nicht gut auf sie zu sprechen, weißt du? Die anderen Jungs haben ja alle mehr oder minder ihren Frieden mit ihr gemacht, aber Trell? Trell kann ihr einfach nicht verzeihen." Nebenbei holte sie fünf verschiedene Kleider von einer Stange herunter. „Hier schau mal. Mehr habe ich auf die Schnelle leider nicht zusammen bekommen." Plötzlich blickte sie auf und musterte mich kritisch. „Wobei ich glaube, dass wir das hier aussortieren können. Der rote Kragen würde sich zu sehr mit deinen Haaren beißen. Und das hier auch. Das ist einfach zu weit. Das umzunähen, da reicht die Zeit bis morgen einfach nicht."
Fasziniert beobachtete ich, wie sie resolut die beiden aussortierten Kleider wieder weg brachte. Gleichzeitig war ich jetzt wirklich neugierig. Um dennoch wenigstens den Anschein von Interesse für den Grund meines Hierseins zu wahren, nahm ich mir das oberste Kleid und schüttelte es einmal aus, um es kritisch hoch zu halten. Es war ein schlichtes, aber ordentlich gearbeitetes waldgrünes Kleid, das jedoch mit dezenten, gelben Blumenmustern bestickt war und einen modischen aufgestellten Kragen besaß. Trotzdem erinnerte mich die Farbe an das Kleid, das ich bei der Schwarmeinführung getragen hatte. Bei dem Gedanken regte sich ein Knäuel an widerstreitenden Gefühlen in mir, das ich unmöglich entwirren konnte. Rasch legte ich das Kleid bei Seite.
„Das nicht?", halte Isalies Stimme skeptisch nach. „Ich dachte, dass das die Farbe deiner Augen so schön zur Geltung bringt."
Unschlüssig, was ich darauf sagen sollte, zuckte ich nur mit den Achseln. Während ich nach dem nächsten himmelblauen Kleid griff, versuchte ich das Gespräch wieder auf diese mysteriöse Person zu lenken: „Was hat Mheiri denn nun getan?"
Subtil war noch nie meine Stärke gewesen. Doch während ich daher früher lieber still geblieben war, traute ich mich mittlerweile, meine Gedanken öfter direkt zu äußern.
Isalie warf mir dafür jedoch einen langen Blick zu. „Eine ganz Neugierige, was? Aber gut. Ist vielleicht besser, wenn du es weißt. Trell wird den Mund wohl eh nicht auf kriegen." Sie holte tief Luft, als müsste sie sich innerlich für die folgenden Worte wappnen. Ich befürchtete langsam das Schlimmste. „Mheiri ist meine Schwester und Trells Mutter. Sie hat ihn und die ganze Familie schon vor langer Zeit verlassen um mit einem anderen Mann ein neues Leben anzufangen. Seitdem weigert Trell sich, mit ihr zu reden."
Einen Moment lang starren wir beide schweigend auf das blaue Kleid in meinen Händen. „Ich sag ja nicht, dass das richtig oder gut war", fuhr die Schneidermeisterin plötzlich fort, als müsse sie ihre Schwester vor mir verteidigen. „Aber das ist jetzt schon über achtzehn Jahre her. Irgendwann muss man es auch mal ruhen lassen."
Achtzehn Jahre. Da musste Trell vielleicht vier gewesen sein.
Die Vorstellung, dass Papa irgendwann hätte beschließen können, mich bei Hannah zurück zu lassen, um irgendwo mit jemand anderen ein völlig neues Leben anzufangen, schnürte mir die Kehle zu. Tante Isalie hatte recht. Achtzehn Jahre waren eine lange Zeit. Aber ich konnte trotzdem verstehen, dass Trell nicht einfach so abschließen konnte.
„Ich glaube, ich nehme das blaue Kleid hier", murmelte ich leise. Das war kein Thema, worüber ich länger reden wollte.
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Lichtis Quatschecke:
Falls es wen interessiert: Es gibt sogar einen indirekten One shot über den Moment, als Mheiri die Familie verlassen hat. :D
Wenn ihr wollt, lest doch mal in dem Buch "Tropfen im Regen" - in dem Kapitel "Rote schuhe" nach. :D
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