Kapitel 71
Tonio 4
Andreas fuhr in das Dorf, dessen Namen Tonio ihm genannt hatte, fand auch das Haus, das der Junge beschrieben hatte.
Er hatte schlimme Vorstellungen von den Wohnverhältnissen gehabt, doch er wurde überrascht. Alles war blitzsauber und gepflegt. Der Mann war zum Glück außer Haus, aber die Frau zerfloss schier vor Erleichterung, als er erzählte, dass es ihren Kinder gut ging.
Sie wäre sicher schön gewesen, wenn nicht blaue Flecken und Wunden ihr Gesicht übersät hätten.
Andreas sprach lange mit ihr. Sie erzählte, dass sie die Tochter des Gutsherrn hier am Ort war, die die Eltern aber verstoßen hatten, als sie den Mann kennengelernt hatte, den sie unbedingt hatte heiraten wollen.
Der hatte auf ein Erbe gehofft. Doch die Eltern hatten alles der Kirche vermacht. Danach hatte er zu trinken begonnen, hatte sie regelmäßig geschlagen.
Andreas erzählte von Chris und Sarah, die die Kinder adoptieren wollten. Ihm brach das Herz, als sie bitter zu weinen begann. Er hatte ein verdammt schlechtes Gefühl bei diesem Job!
Da war eine Mutter, deren Kinder vor einem Jahr weggelaufen waren. Aber sie war eben eine Mutter!
Sarah und Chris hatten zwar Geld im Überfluss, konnten den Kindern alles bieten, aber sie waren nicht die Eltern!
Er fasste einen Entschluss, der zwar nicht mit den Freunden abgesprochen war, aber den sein Gewissen ihm vorgab.
„Könnten Sie sich vorstellen, Ihren Mann zu verlassen, wenn wir Sie finanziell unterstützen? Dass sie mit Ihren Kindern ein ruhiges Leben führen könnten? Dass ich die drei zu Ihnen zurückbringe?" fragte er leise.
Emilia sprang auf, lief im Zimmer auf und ab. Misstrauisch sah sie den Deutschen an.
„Warum sollten Sie das tun?" fragte sie.
„Weil Tonio ein verflixt toller Junge ist? Weil es Ihre Kinder sind? Weil Sie das Recht haben, in Ruhe und Frieden als Familie zu leben?" antwortete er.
Emilia war sicher, dass der Padre ihr den jungen Mann geschickt hatte, direkt vom Himmel!
„Das wäre wundervoll!" erklärte sie leise. „Ich könnte zu einer Tante gehen, die wohnt ungefähr 100 Kilometer von hier. Da findet er mich nicht!"
„Gut! Dann fahren wir jetzt da hin! Ich kann Sie auch bei der Scheidung vertreten!" schlug er vor. „Kostenlos natürlich, Sie müssten Ihren Mann nie wieder sehen. Wir können ihm sicherheitshalber auch eine monatliche Summe zahlen, damit er sie in Ruhe lässt!"
Emilia wischte sich mit der Hand über die Augen, zuckte vor Schmerzen zusammen. Gestern hatte er wieder ausnehmend schlechte Laune gehabt!
Das Essen hatte nicht geschmeckt, das Bier war zu Ende, das Fernsehprogramm Mist!
Es wäre ein Traum, in Sicherheit leben zu können, mit ihren Kindern.
„Warum haben Sie ihn nicht schon lange verlassen?" fragte Andreas vorsichtig.
„Ich habe nie gelernt, mich zu wehren! Nicht gegen meinen Vater, nicht gegen meinen Mann! Ich habe ihn geheiratet, um von einem gewalttätigen Mann wegzukommen, und kam vom Regen in die Traufe! Da konnte ich nicht einfach nach Hause zurück. Dann hat er sich aber auch an meinen Kleinen vergriffen, und zum Glück ist Tonio fortgelaufen!" Sie weinte bittere Tränen.
Sie packte ein paar Sachen ein, Andreas fuhr sie in das etwa hundert Kilometer entfernte Dorf.
Er war hin- und hergerissen, als er zurück fuhr.
Etwas verunsichert kam er bei Chris und Sarah an.
Die beiden bemerkten, dass er sehr bedrückt war. „Machen die Eltern Probleme?" fragte Sarah ängstlich.
Er erzählte von der schönen Frau aus gutem Haus, die ihr Leben so in den Sand gesetzt hatte, weil sie sich den falschen Mann ausgesucht hatte.
Er erzählte ihr auch seine Gedankengänge, obwohl er nicht recht wusste, wie sie sein Handeln aufnehmen würden. Aber er war ja ein Mensch und kein Apparat, der auf Knopfdruck arbeitete.
Sarah kam ins Grübeln, sah Chris an. Er konnte ihre Gedanken lesen.
Sie rief Tonio.
„Deine Mama hat deinen Papa verlassen. Sie ist zu einer Tante gezogen. Ihr seid ihre Kinder!"
Chris sah sie liebevoll an. Er hatte gewusst, dass sie ein unglaublicher Mensch war, aber so viel menschliche Größe hatte nicht einmal er sich vorstellen können!
Er wusste, dass sie Tonio liebte, und dass sie auch die Zwillinge vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen hatte.
Aber sie fühlte auch als Mutter. Und sie würde es nie übers Herz bringen, einer anderen Mutter ihre Kinder wegzunehmen!
Und er konnte es genau so wenig.
Über Tonios Wangen strömten Sturzbäche von Tränen. Seine Mama war seine Mama! Ohne Papa hätten sie ein schönes Leben!
Nicht so, wie in diesem Haus vielleicht, aber sie wären zusammen!
Chris brauchte keine Antwort. Sarah und Andreas hatten recht Es war vermessen, einer Frau ihre Kinder wegzunehmen, so lange es andere Möglichkeiten gab.
Das wäre wider die Natur!
Er stand auf. „Na, dann bringen wir euch mal zu ihr!" erklärte er ruhig.
Zusammen mit Andreas und den drei Kindern machte er sich auf den Weg.
Sarah blieb mit Laura zurück. Sie erklärte der Kleinen, dass Tonio, Carlos und Carla zu ihrer Mutter fuhren, dass sie ihnen helfen würden, damit sie ein gutes Leben haben konnten.
Laura sah sie mit der Weisheit einer Fünfjährigen an. „Ihr seid toll, Papa und du!" sagte sie.
Da wusste Sarah, dass sie richtig gehandelt hatten.
Chris versicherte sich, dass die Kinder es gut haben würden bei ihrer Mutter. Die Tante war eine lustige, lebensfrohe Spanierin, die ihn lachend anschmachtete. Tonio fiel seiner Mutter weinend um den Hals.
Die strich ihm wortlos über die Haare. Tränen liefen über ihr Gesicht. Er streichelte vorsichtig ihre Wunden. „Es tut mir Leid , Mama, das ich dich mit ihm alleine gelassen habe! Aber ich war erst zehn! Ich musste mich um die Kleinen kümmern!" schluchzte er.
„Danke, mein Großer!" flüsterte sie immer wieder. Die Zwillinge standen etwas verunsichert daneben. Sie konnten sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Doch als die sie in die Arme nahm und abküsste, wussten sie, dass sie sich anfühlte, dass sie duftete wie eine Frau, die sie einmal sehr lieb gehabt hatten.
Die Tante brachte Brot und Käse, Oliven und Wein. Sie drückte Chris an sich. Zum einen, weil sie mal einen so hübschen jungen Mann an sich drücken wollte, zum anderen, weil sie tiefe Dankbarkeit für den Deutschen fühlte.
„Gott segne Sie und Ihre Familie!" sagte sie ernst.
Er küsste ihre Hände. „Danke, Señora! Das kann jeder brauchen!" Eine Stunde später verabschiedeten sich die beiden Männer. Sie hatten abgesprochen, dass Chris monatlich 2000 Euro überweisen würde. Für ihn eine lächerliche Summe, für die spanische Familie ein Vermögen und ein großes Stück vom Glück, eine Zukunft!
Sie fuhren schweigend ein ganzes Stück.
Dann begann Chris zu sprechen. „Danke, Andreas!" sagte er mit belegter Stimme. „Ich habe nicht nachgedacht! Es gab da diese drei Kinder, und ich wollte ihnen helfen! Aber, dass es da eine Mutter gab, die ihre Kleinen vermisste, habe ich einfach nicht überrissen! Ich nicht, und Sarah auch nicht! Wir wollten nicht irgendwelche Kinder für uns, schon gar nicht auf diesem Weg! Wir wollten ihnen nur eine Chance geben!"
Andreas fuhr an den Straßenrand. „Chris! Ich habe euch niemals eigennützige Motive unterstellt! Aber als ich die Mutter sah, dachte ich, ich kann nicht in eurem Sinn tätig werden. Und ich wusste, dass ihr mich versteht!"
Die Männer nahmen sich in die Arme.
„Jetzt lass mich aber los! Schwul bloß nicht mit mir rum!" wehrte sich Chris nach einiger Zeit.
Lachend gab Andreas ihn frei. „Gott bewahre, Alter!"
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