Tonio 3
Endlich hörte Sarah, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte und stürzte zur Türe.
Tonio stand im Flur, Chris kam dahinter herein, hatte zwei Kinder auf den Armen, die er ächzend auf dem Sofa absetzte.
„Gut, dass meine Armmuskeln so trainiert sind!" stöhnte er und nahm sie in diese Prachtexemplare von trainierten Armen.
„Ich habe ein wenig für Familienzuwachs gesorgt!" berichtete er und strahlte sie an. Er war überglücklich. Er hatte zwei Vierjährige durch die halbe Stadt geschleppt, zitterte vor Erschöpfung, aber er schwebte irgendwie vor Zufriedenheit!
Er hatte etwas Gutes getan, etwas wirklich Gutes. Er hatte drei Kinder nach Hause gebracht, die seit einem Jahr in einem Bretterverschlag gelebt hatten!
Tonio hatte auf dem ganzen Weg über geredet. Das war gut für Chris gewesen, weil er die Last auf seinen Armen nicht wahrgenommen hatte.
Und es war gut für den Jungen, weil er seine Last loswerden konnte.
Seit die Schleusen geöffnet waren, konnte er nicht mehr aufhören zu erzählen.
Er berichtete, wie er die Zwillinge schnell angezogen hatte, einen großen Rucksack gepackt hatte.
Dann waren sie losgelaufen. Die Kleinen waren bald müde geworden, er hatte Carlo ein Stück getragen, war zurückgelaufen, hatte Carla geholt. So hatten sie es irgendwie bis in die Stadt geschafft.
Sie hatten sich hinter Büschen versteckt, hatten sich ausgeruht, etwas gegessen.
Dann waren sie durch die Straßen gegangen, er hatte gehofft, irgendjemand würde auf sie aufmerksam werden, aber die Menschen waren einfach weitergegangen.
Die ersten Nächte haben sie in einem halbverfallenen Haus verbracht, doch da waren Ratten, und immer wieder waren Steine von der Decke gefallen.
Sie waren weiter gezogen, er hat gebettelt und Essen geklaut.
Dabei hat ihn Georgio erwischt. Als er die Geschwister angesehen hatte, hatte er ganz gierige Augen bekommen.
Tonio war schnell weggelaufen, hatte die Kleinen praktisch hinter sich her geschleift. Sie hatten sich in diesem Hof, in diesem Holzverschlag versteckt und waren da geblieben.
Georgio hat Tonio wiedergesehen, als er auf Betteltour war.
„Wo sind denn die hübschen Kleinen?" hatte er gefragt und ihn fest in Würgegriff genommen.
Tonio hatte gekratzt und gebissen, da hat Georgio ihn niedergeschlagen.
„Ich lass dich nicht mehr aus den Augen!" hatte er gesagt. „Dann finde ich sie schon!"
Er hatte eine Weile überlegt, den Jungen verschlagen angesehen. „Außer, du arbeitest für mich! Dann lasse ich sie in Ruhe!"
Seitdem hatte Tonio den Lockvogel gespielt, hatte den Kindern, die abgeholt wurden, Tabletten gegeben, damit sie ruhig waren. Und hatte kaum geschlafen, weil er genau wusste, was er tat!
Chris erzählte Sarah eine Zusammenfassung der schrecklichen Geschichte. Sie drückte ihn an sich.
„Wenn ich dich noch mehr lieben könnte, Chris Sandmann, würde ich das seit heute tun! Aber mehr geht einfach nicht!" flüsterte sie.
Carlos und Carla konnten ihre Blicke nicht von den Erwachsenen nehmen. Tonio hatte ihnen immer wieder von den beiden erzählt, auch von dem wunderschönen Haus, aber alles war noch besser als in den Geschichten!
Sarah nahm schließlich die Kleinen bei der Hand. „Wir gehen duschen!" sagte sie zu Tonio.
Der nickte und lächelte. „Ich vertraue dir!" hieß das.
Chris sucht einstweilen ein paar Anziehsachen zusammen. Die Zwillinge waren etwas kleiner als Laura.
Dann überlegten sie, wo die Kinder schlafen sollten.
„Ich denke, wir legen sie heute mal ins Ehebett, damit sie zusammen bleiben können!" schlug er vor. „Und wir kuscheln uns dann ins Gästezimmer!"
„Und morgen bist du dann ausnahmsweise mal noch da?" fragte sie Tonio, als er im Bett zwischen den Kleinen lag.
Er grinste sie an. „Jetzt brauche ich ja nicht mehr wegzulaufen!"
„Das hättest du von Anfang an nicht gemusst! Du hättest nur reden müssen!" antwortete sie.
„Dazu musste ich euch aber erst vertrauen!" Nach diesen philosophischen Worten schlief er ein.
Sarah wunderte sich über die Weisheit des Jungen. Müde ging sie ins Gästezimmer. Chris schlief schon, brummelte nur und lächelte im Schlaf, als sie sich an ihn kuschelte. Sein Arm fasste um sie herum und hielt sie im Klammergriff fest.
„Wie in der ersten Nacht!" dachte Sarah lächelnd. Aber wenigstens schnarchte er nicht! Nie! Damit hatte er damals recht gehabt.
Am nächsten Morgen wurde es etwas hektisch im Hause Sandmann. Laura hatte zu den Eltern zum Kuscheln gewollt, fand aber in deren Bett Tonio und zwei fremde Kinder.
Sie erschrak fürchterlich!
Wo waren denn Mama und Papa?
Sie fing an zu weinen. Tonio sprang aus dem Bett und tröstete sie.
„Pst! Deine Eltern sind oben in meinem Zimmer!" erklärte er.
Chris hörte seine Tochter weinen, stürzte hinunter, fand sie bei Tonio.
Im ersten Moment blieb ihm das Herz stehen.
Doch dann erinnerte er sich an die Worte des Jungen: „Ich werden nie einem Kinde etwas tun!"
Er musste Vertrauen zu dem Elfjährigen haben, sonst hatte alles keinen Sinn!
Er nahm Laura auf den Arm. „Entschuldige Süße! Wir hätten dir Bescheid geben müssen!"
Sie klammert sich an ihn. „Wer sind denn die Kinder?"
„Das sind die Geschwister von Tonio! Wir haben sie heute Nacht hergebracht!" erklärte er.
„Bleiben die jetzt da? Bleibt Tonio auch da?" Laura wunderte sich, dass der spanische Junge auch am Morgen noch bei ihnen war.
Tonio hielt die Luft an. Der nächste Satz des Mannes würde das Schicksal von ihm und den Zwillingen besiegeln.
„Ja! Ich hoffe schon, dass sie sich nicht wieder verkrümeln!" Er sah den Jungen an, der ihn angrinste.
Laura sah die Kleinen an, die etwas verschreckt im Bett ihrer Eltern lagen. Am Abend waren sie zu müde gewesen, um so etwas wie Angst oder Verunsicherung zu empfinden. Sie hatten sich in dem weichen, duftenden Bett an ihren großen Bruder gekuschelt und waren sofort eingeschlafen.
„Bleibt ihr da? Bleibst du jetzt endlich mal da?" fragte Laura Tonio.
„Ich denke schon! Wenn wir dürfen!" antwortete der Junge.
„Warum meinst du denn, schleppen mein Papa und Enrico dich immer wieder hierher? Weil sie sonst nichts zu tun haben, oder was?" haute sie ihm hin. Sie hatte das Puzzleteil „große Klappe" von beiden Elternteilen abbekommen.
Sarah hatte sich endlich auch aus dem Bett gewälzt. Sie hörte den letzten Satz Lauras, musste ordentlich lachen.
Chris nahm sie in die Arme. Er war immer noch fasziniert, wie sie auf den Familienzuwachs reagiert hatte. Er kannte keinen Menschen, der sich so verhielt wie sie!
Keine Fragen, nie Einwände, immer spontan zu allem bereit!
Dann machte sich die Großfamilie auf, um zu frühstücken.
Doch Tonio hatte den Kühlschrank wieder ordentlich leergeräumt. Die Sachen waren alle in dem Verschlag zurückgeblieben.
Aber die Lebensmittel würde schon jemand finden, da war er sicher. Solche Plätze waren begehrt!
So lange sie dort gewohnt hatten, war die Unterkunft tabu für andere, das war das Gesetz der Straße gewesen. Es würde sich schnell rumsprechen, dass die Hütte leer war.
„Bin ich froh, wenn uns keiner mehr das Essen klaut!" bemerkte Laura.
Tonio strich ihr über den Kopf und lächelte sie an.
„Dann gehen wir zwei Männer mal einkaufen!" Er nahm den Jungen bei der Hand und sie zogen los.
Tonio standen die Tränen in den Augen.
Warum war sein Vater nicht so gewesen?
Sie hatten in dem Dorf in der Nähe von Barcelona ein Haus gehabt, sie hätten ein schönes Leben haben können!
In dem Metzgerladen sah er sich mit großen Augen um. So viel Schinken! So viel Salami!
„Such du aus, was ihr gerne mögt!" forderte Chris ihn auf.
„Wir essen alles!" antwortete Tonio. Doch dann bestellte er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Laden Wurst und Käse.
Chris wunderte sich, wie aufgeweckt und sprachgewandt der Junge war, so wie er aufgewachsen war. Nachdem sie Brot, Butter und Marmelade besorgt hatten, machten sie sich auf den Heimweg.
Tonio war seit dem Morgen sicher, er würde jede Minute aus einem Traum aufwachen.
Er hatte es geschafft! Er hatte die Zwillinge beschützt, und der Mann und die Frau hatten sie zu sich geholt. Er konnte in einem Geschäft Essen einkaufen, einfach so!
Er hatte neue, saubere Sachen an, die Kleinen auch. Sie schliefen in einem Bett, hatten eine Toilette, fließendes Wasser und eine Dusche!
Ein Wunder war geschehen! Sein Leben hatte sich verändert, sie drei würden eine Chance bekommen!
„Warst du eigentlich in einer Schule?" fragte Chris auf dem Nachhauseweg.
Tonio, der die Einkäufe unbedingt alleine tragen wollte, weil er ja das andere Essen weggeschleppt hatte, keuchte leicht.
Nein, aber meine Mama war sehr klug. Sie hat mit mir gelernt, wenn Papa weg war. Und der Pfarrer hat uns oft Bücher gegeben. Dann ist Papa immer sehr böse geworden, wenn er die gefunden hat. Aber der Padre ist letztes Jahr gestorben, dann hatte Mama niemanden mehr, der auf sie aufgepasst hat!"
Chris versuchte, sich das Leben dieser Familie vorzustellen, aber seine Phantasie reichte wohl nicht aus. Er musste mit Sarah darüber sprechen.
Fröhliches Kinderlachen empfing die beiden. Sie hielten kurz inne, sahen sich an. Beide waren überglücklich, als sie die Stimmen von drei Kindern und einer Frau hörten.
Chris hielt seine Hand hin, Tonio klatschte ihn zufrieden lächelnd ab.
Dann saß die deutsch-spanische Familie um den Esstisch und ließ sich das Frühstück schmecken.
Chris fasste nach Sarahs Hand. „Ich liebe dich!" hieß das.
Sie erwiderte den Druck. „Ich liebe dich auch!" hieß das.
Für beide war es vollkommen klar, dass diese Kinder bei ihnen bleiben würden. Nicht eine Sekunde hatten sie an der Intention des anderen gezweifelt.
Chris hatte die Kinder nach Hause gebracht, Sarah würde alles tun, damit sie sich bei ihnen zuhause fühlten.
Da brauchte es nicht einen einzigen Satz, um irgendetwas zu erklären.
Dann riefen sie Andreas an. Sie waren sich schon klar darüber, dass sie nicht einfach Kinder von der Straße holen konnten, um sie bei sich aufzunehmen. Es musste alles rechtlich einwandfrei ablaufen.
Der Freund kam vorbei sofort vorbei. Sie besprachen all die rechtlichen Dinge, die bei einer Adoption zu beachten wären. Es würde nicht einfach werden, da die leiblichen Eltern ja noch lebten.
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