Kapitel 68
Tonio 1
Tonio schien überrascht.
Was war denn das für ein Paar?
Sie hatten doch Kinder gesucht!
Kleine Kinder! Wollten sie jetzt ihn haben, weil die anderen weg waren?
Er hatte den Zusammenhang zwischen dem Auftauchen von Chris und Sarah und dem Polizeieinsatz nicht überrissen.
Warum ließ Enrico zu, dass sie ihn mitnahmen?
Tränen standen in seinen Augen!
Aber er musste mitgehen!
Es gab keinen Ausweg!
Kurz flackerte ein Gedanke in seinem verwirrten Gehirn auf.
Warum hatte die Polizei die beiden nicht mitgenommen?
Wahrscheinlich waren sie wichtige Leute, denen nicht einmal die Polizei etwas anhaben konnte.
Mit gesenktem Kopf trottete er neben den beiden her, Chris hielt seine Hand umklammert.
Warum lächelte der perverse Hurensohn ihn auch noch an?
Und sie, die aussah wie ein Engel und die einen totquatschen konnte, lächelte den Wichser auch noch verliebt an!
Das war eine Situation, wie er sie noch nie erlebt hatte.
Mit einem Taxi fuhren sie ein paar Straßen weiter.
An jeder Ampel überlegte Tonio, ob er einfach rausspringen sollte.
Aber der Mann hielt immer noch seine Hand fest.
Außerdem durfte ihm nichts passieren!
Vielleicht zahlte der Mann auch ihm etwas, weil ja Georgio ausgefallen war, um zu kassieren! Dann konnte er ein paar Tage Essen kaufen, bis sich ein Nachfolger für den Zuhälter gefunden hatte, für den er arbeiten konnte.
Im Wohnzimmer stand Tonio verkrampft vor den beiden.
Jetzt gleich würde es losgehen!
Er zog schon mal sein Hemd aus, öffnete seine Hose.
Chris sah ihn an, spürte plötzlich einen fürchterlichen Stich in seinem Herzen, als er den Jungen da stehen sah, die Augen krampfhaft auf den Boden gerichtet, der dabei war, sich auszuziehen.
„Nein!" schrie er auf.
Der Schmerz machte ihn beinahe atemlos.
„Nein, Tonio! Deshalb haben wir dich nicht mitgenommen! Wir haben doch die Polizei verständigt! Bitte, zieh dich an! Das darfst du nicht denken!" Die Tränen strömten über sein Gesicht.
Gott im Himmel!
Der Junge hatte gedacht.......!
Was mag in diesem Kopf vorgegangen sein.
Wie hatten sie so unsensibel sein können!
Er konnte ja nicht wissen, was sie geplant gehabt hatten!
Sarah strich Tonio über den Kopf. „Nein, Kind!" sagte sie nur.
Sie legte den Arm um ihn. „Jetzt komm erst einmal duschen!"
Chris ging mit, merkte aber, dass sich Tonio wieder verkrampfte. „Ich wasche nur deine Klamotten!" erklärte er. „Wir haben nichts frisches zum Anziehen für dich, verstehst du?"
Sarah warf durch die Türe die Sachen raus, Chris steckte sie in die Maschine.
Sie verließ das Badezimmer, wollte dem Kind seine Intimsphäre lassen.
Unten machte sie ein paar Brote zurecht.
„Ich bin fertig!" hörte sie von oben eine Stimme. Sie gab ihm einen kurzen Bademantel von ihr, über den er wenigstens nicht stolpern würde.
Wie ein hungriger Wolf stürzte Tonio sich auf das Essen, verschlang alles, ließ aber Chris nicht aus den Augen.
So ganz war er noch nicht überzeugt, dass er so glimpflich davon kommen würde.
Der holte seine Gitarre.
Musik wirkte oft Wunder.
Er setzte sich auf einen Stuhl und fing an zu spielen.
Tonio lauschte entrückt.
Jemand, der so schön spielen konnte, würde vielleicht doch kein böser Mensch sein!
Er setzte sich zu Sarah aufs Sofa, hielt aber so viel Abstand wie möglich.
Langsam fielen ihm die Augen zu.
Immer wieder schreckte er hoch.
Er durfte nicht schlafen!
Er musste wachbleiben!
Er musste weg von hier!
Er musste zurück.
Dann piepste die Waschmaschine.
Chris holte seine frischgewaschenen und getrockneten Sachen heraus und legte sie neben ihn.
„Möchtest du schlafen gehen?" fragte die Frau mit ihrer sanften Stimme. „Wir haben oben ein Gästezimmer!"
Schlafen! dachte Tonio.
In einem Bett!
Nur ein paar Stunden!
Dann würde er zurückgehen.
Er nickte kaum merklich.
Sarah nahm seine Kleidungsstücke und ging in Richtung Treppe.
Als Chris aufstand, verkrampfte sich Tonio wieder.
Chris zog sich das Herz zusammen.
Er setzte sich wieder hin. „Tonio! Du brauchst keine Angst haben! Wir haben selber eine kleine Tochter! Wir würden niemals einem Kind etwas antun! Du musst uns vertrauen!" bat er.
Vertrauen! dachte Tonio. Einem Erwachsenen konnte man nicht vertrauen!
Oben zeigte Sarah dem Jungen sein Bett, drehte sich dann um, um ihn alleine zu lassen. Seine Kleidungsstücke legte sie auf den Sessel.
„Wo ist eure Tochter?" fragte er.
„Bei Freunden!" antwortete sie.
„Wegen mir?" fragte er.
„Nein! Wir wussten ja nicht, dass du zu uns kommen würdest!" antwortete sie.
Zu uns! Wie schön sich das anhörte! „Weil, ich tue keinem Kind etwas! Nie!"
„Aber Tonio! Du hilfst Georgio, etwas Schlimmes zu tun!" wandte sie ein.
„Ja! Aber ich muss es tun für...!" Gerade noch bremste er ab.
Beinahe hätte er alles verraten.
„Für?" fragte Sarah.
„Für Essen!" wand er sich heraus.
„Gute Nacht!" sagte Sarah und ging nach unten.
Sie konnte im Moment nicht mehr.
Ja!
Für Essen!
Für Geld!
Für die Befriedigung!
Es gab tausend Gründe, aus denen Kindern so etwas angetan wurde, und es sollte keinen einzigen geben!
Unten nahm Chris sie in den Arm.
Sie weinten sich erst einmal den ganzen Schmerz von der Seele.
Langsam konnten sie aber auch Genugtuung empfinden über das, was ihnen gelungen war.
Es waren mindestens dreißig Kinder, denen sie hatten helfen können, vorerst zumindest!
Tonio schlief sofort ein.
Nach einigen Stunden wachte er auf.
Er lauschte ins Haus hinein.
Er zog sich an und öffnete leise die Türe, lauschte noch einmal.
Dann schlich er nach unten.
Er war gut darin, unsichtbar und unhörbar zu sein.
Das hatte er im letzten Jahr gelernt.
Blitzschnell sah er sich um.
Da lag ein Beutel, daneben eine Börse.
Er nahm das Geld heraus, dann füllte er den Beutel mit so vielen Lebensmitteln aus dem Kühlschrank, wie hineinpassten.
Er probierte, die Haustüre zu öffnen, sie war natürlich verschlossen.
Die Fenster waren alle vergittert.
Doch es gab noch eine Türe zum Garten.
Er hob den Hebel.
Draußen kletterte er über die Gartenmauer, stets bedacht, seine Schätze nicht zu verlieren.
Einer der wichtigsten war ein Stück Seife aus dem Badezimmer, das in seiner Hosentasche steckte.
Er lief eine Stunde quer durch die Stadt, bis er sein Ziel erreicht hatte.
Am Morgen fand Sarah das Bett im Gästezimmer leer.
Irgendwie war sie nicht einmal sonderlich überrascht darüber.
„Er ist weg!" sagte sie zu Chris, der gerade den Frühstückstisch deckte.
Sie hatten nicht viel geschlafen in dieser Nacht, hatten sich im Arm gehalten, hatten geredet.
Hatten sich getröstet.
Hatten sich gelobt.
„Du hast toll reagiert, als der mich geschnappt hat!" meinte sie.
„Und du erst, wie du ihm das Messer aus der Hand gekickt hast!" gab er zurück.
„Da hat sich das jahrelange Fußballtraining doch bezahlt gemacht!" stellte sie fest.
„Bist du sicher, dass es Fußball war und nicht Rugby?" zog er sie auf. „Seine Nase hat ziemlich geknirscht!"
„Da kann ich nur sagen: Augen auf bei der Berufswahl!" hielt sie dagegen.
Sie lachten sich die Anspannung und die Angst um den anderen von der Seele.
Und dann liebten sie sich hungrig, durstig nach Leben.
Sie waren sich schon bewusst, dass das Ganze auch hätte schief gehen können!
Sie hatten Glück gehabt, sie hatten gut reagiert, aber so sicher war ein guter Ausgang nicht gewesen.
„Meine Geldbörse hat er geplündert und den Kühlschrank so ziemlich geleert!" berichtete Chris. Er ärgerte sich nicht weiter, hatte sogar etwas wie Hochachtung vor dem kleinen Kerl.
Irgendwie erinnerte er ihn an sich als Jungen, mit all dieser Rebellion im Blick.
Er machte aus den Resten ein paar Schnitten zurecht.
„Aber irgendetwas ist komisch an der Sache!" Sarah versuchte sich zu erinnern, was ihr gestern so seltsam vorgekommen war.
„Er hat gesagt, er würde nie einem Kind etwas tun, aber das müsste er machen für..., dann hat er gestockt, und hat gesagt: Für Essen! Mir kommt das so vor, als hätte er etwas anderes sagen wollen, als gäbe es da eine Person, die seine Hilfe braucht!"
Später telefonierte sie lange mit Enrico.
Er versprach ihr, sich ganz besonders nach Tonio umzusehen.
„Wieder einmal!" erklärte er mit Galgenhumor. „Der Kerl wird langsam zum Full-Time-Job!"
„Du weißt, dass du jede Unterstützung bekommst, die du brauchst! Finanziell und persönlich!"
„Ja! Persönlich aber bitte in Zukunft nur aus der Ferne! Mir zittern heute noch die Knie! Wenn dir etwas passiert wäre, hätte Chris mich einen Kopf kürzer gemacht!"
„Mach dir keinen Sorgen! Ich habe sieben Leben wie eine Katze!" antwortete sie.
Enrico kannte ihre Bücher, wusste von ihren Abenteuern. „Und wie viel hast du schon verbraucht? Ich tippe mal auf sechs!"
Sarah lachte versöhnlich. „Nein, wir gehen nicht mehr auf Verbrecherjagd! Ich verspreche es dir!"
Dann ließ sie sich die Adressen der Familien geben, zu denen die Kinder gebracht worden waren. Manche hatten zwei oder drei aufgenommen.
Sarah wollte ihnen zum einen persönlich danken und auch einen Geldbetrag vorbeibringen, zum anderen wollte sie versuchen, mit den Kindern zu sprechen, um etwas über ihre Schicksale zu erfahren, natürlich in Begleitung einer Psychologin.
Sie holten Laura von der Kita ab, die ihre Ängste ganz und gar vergessen zu haben schien.
„Na, habt ihr Spaß gehabt gestern Abend?" Sie war sicher, die Eltern waren wieder einmal tanzen gewesen.
Chris musste sich sehr zusammenreißen, um keinen hysterischen Lachanfall zu bekommen.
„Ja, könnte man so sagen!"
„Und dann habt ihr wieder die ganze Nacht gelacht!"
Das war eine Feststellung.
Sie wusste schließlich, wie lustig die Eltern es fanden, tanzen zu gehen.
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