Kapitel 31
Die Flucht 2
Sarah
Sarah hatte sich aufgebrezelt für die Sendung und sah umwerfend aus. Ein kurzes enges Kleid im Blau ihrer Augen, ziemlich dekolletiert, das Chris ihr einmal eingeredet hatte.
„Besser kann man deine Kurven nicht verpacken!" hatte er grinsend erklärt. „Und sie sind dann auch ganz schnell wieder ausgepackt!"
Die Verkäuferin hatte sich kringelig gelacht über den aufgedrehten langen Kerl, der so schwer verliebt war.
Sie hatte es noch nie getragen, sie war nicht mehr dazu gekommen, die Ereignisse hatten sie beide überrollt.
Ihr Haar hatte sie etwas kürzen und durchstufen lassen, es fiel in Wellen bis auf ihren halben Rücken, glänzte in allen Gold- und Blondtönen. Etwas blauer Lidschatten ließ ihre riesigen Augen noch größer erscheinen, ein wenig roter Lippenstift konturierte ihre vollen Lippen leicht.
Selbstbewusst nahm sie neben dem Moderator Platz, stellte die endlos langen Beine mit den Highheels anmutig nebeneinander. Ihr Kopf war hocherhoben, fast ein wenig arrogant, wie auch das strahlende falsche Lächeln, das sie ihm schenkte.
Er war im Moment etwas verunsichert neben so viel weiblicher Schönheit, räusperte sich, suchte nach Worten in seinem Kopf. Eigentlich hatte er eine zurückhaltende Frau erwartet, die durch die Ereignisse um ihren Verlobten etwas demütig geworden war. Die er wieder ein wenig piesacken konnte. Das war schließlich sein Markenzeichen.
Als er die Worte in seinem Kopf wieder gefunden hatte, begann er seinen Job: Angreifen, herausfordern, wenn es ging, fertig machen.
Er setzte sich gerade hin. „Sarah, Sie haben ein neues Buch geschrieben. Wie man sagt, ist es sehr ehrlich!"
Sie durchbohrte ihn mit Blicken, änderte aber nichts an ihrem süßen Lächeln. „Ich würde die Anrede Frau von Steinhausen vorziehen. Sarah nennen mich meine Freunde. Und - alle meine Bücher waren sehr ehrlich, aber das ist mein persönlichstes."
Er grinste überheblich. „Sie zählen mich also nicht zu ihren Freunden? Dabei kann ich nichts dafür, dass Ihr Sänger Drogen genommen hat!"
„Er hat Dope geraucht und vor Konzerten manchmal Aufputschtabletten genommen, das ist richtig! Das habe ich auch verurteilt, das hätte Deutschland auch verurteilen können, in Ordnung! Aber es wurden Tatsachen verdreht, wie ich es mir nie hätte vorstellen können! Zum Beispiel Sie in Ihrer Sendung.."
„Aber!" wollte er sie unterbrechen, wie er es immer gerne machte.
„Sie halten jetzt die Klappe! Haben Sie mich eingeladen, damit ich rede, oder damit Sie noch einen Schauplatz für Ihre Selbstdarstellung bekommen?"
„Aber!" versuchte er es noch einmal.
„Was an: Klappe halten! haben Sie nicht verstanden? Wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, stehe ich auf und gehe!"
Das Publikum johlte. „Lass sie reden!" wies ihn der Regisseur an.
„Also, scheinbar habe ich doch das Wort!" fuhr sie fort. Zum Publikum sagte sie: „Ich danke Ihnen!"
„Wo waren wir? Ja, bei Ihrer Sendung und der Auswahl Ihrer Gäste. Ich möchte nur an ein paar Beispielen zeigen, wie man Zuseher manipulieren kann. Sie haben Carina eingeladen, eine Nachbarin meines Verlobten, eine 23 Stunden am Tag zugedröhnten Kunststudentin. Die erzählt für ein paar Euro alles, was man hören will!"
Sie berichtete von Carinas Intrige nach der Trennung damals.
„Zweiter Punkt, der mir gerade einfällt. Sie hatten Rocco zugeschaltet, einen der besten Menschen, die ich kenne und einen der wenigen Menschen, die mich noch Sarah nennen dürfen. Er arbeitet als Sozialarbeiter und Streetworker im Hamburg, er hatte mich auf dieser verhängnisvollen Fete für mein Buch gelobt, und ich habe ihm erzählt, dass ich ein Jahr in der Drogenszene recherchiert habe.
Sie haben ihn gefragt: „War Sarah in der Drogenszene unterwegs?"
Er hat geantwortet: „Ja, aber..."
Sie sind ihm ins Wort gefallen. „Also stimmt es, dass Sarah ein Jahr lang in der Drogenszene war?"
Er hat geantwortet: „Ja, aber nur...!"
Dann haben Sie ihn weggeschaltet und gesagt: „Danke! Mehr wollten wir nicht wissen!"
Rocco war am Boden zerstört, hat versucht mit dem Sender Kontakt aufzunehmen, hat die Zeitungen seiner Stadt informiert, niemand hatte Interesse, die Sache gerade zu rücken!
Und so ging es laufend! Ich weiß zum Beispiel nicht, woher Sie wussten, dass Chris' Halbbruder versucht hatte, Gras zu rauchen, was ihm übrigens fürchterlich schlecht bekommen ist, wie ich mittlerweile erfahren habe, aber Sie hatten die Frechheit, Mitschüler eines 14jährigen, die ihn gar nicht kannten, zu befragen. Sie haben den Jungs Worte in den Mund gelegt, die sie nicht verstanden haben, haben sie mit Fachbegriffen niedergemacht, bis sie alles bestätigten, was Sie hören wollten. Nämlich, dass Chris seinen kleinen Bruder zum Drogenkonsum animiert hatte! Sie haben 16-, 17jährige benutzt, missbraucht, und deren Eltern haben das Ganze zugelassen, weil sie die hohe Summe, die sie einstecken konnten, überzeugt hatte.
Ich könnte auch noch die Printmedien angreifen. Ich könnte die Fans angreifen, die Shitstorms ausgelöst hatten! Aber das ist vorbei! Vergangenheit!
Was ich hier und heute erreichen will, ist, dass mit Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, fair umgegangen wird! So fair, wie Sie alle von Ihrer Zunft sich wünschen, dass man mit Ihren Kindern umgeht!
Was ich erreichen muss, ist, dass Menschen hinterfragen, was sie lesen, hören oder sehen.
Dass sie Leuten wie Ihnen Ihre Lügen um die Ohren hauen. Dass die Shitstorms der Zukunft sich gegen die richten, die sie verdient haben."
Sie sprach noch eine halbe Stunde. Der Moderator versuchte hin und wieder einen Einwand, wurde von ihren blitzenden Augen erdolcht, ließ sie schmunzelnd weiterreden.
Sie brachte weitere Beispiele, wie die Tatsachen bewusst verdreht wurden, beklagte sich, dass sie keine Plattform erreichen konnten, um sich zu rechtfertigen.
Sie zitierte den Artikel, der sie persönlich als Schriftstellerin mit in den Strudel gerissen hatte.
„Drei vollkommen aus der Luft gegriffene Fragen, und mein Verlag schmeißt mich raus, die Bücher verschwinden aus den Regalen. Ich habe alle wichtigen Literaturpreise Deutschlands und ein paar europäische bekommen. Und dann stellt ein Mensch, der wahrscheinlich in der Schule eine Fünf in Deutsch hatte, drei Fragen, und ich bin eine drogensüchtige Frau, sexuell abhängig von einem Junkie, der er ein paar Lieder geträllert hat, außerdem eine Betrügerin, die Stiftungsgelder unterschlagen hat!
Chris hat Musik studiert, mit Auszeichnung abgeschlossen, seine Diplomarbeit über neuzeitliche Komposition ist Lehrwerk an den Konservatorien Europas. Er ist ein begnadeter Gitarrist, hatte Angebote von den größten Orchestern.
Er ist kein Tingel-Tangel-Sänger, den Hinz und Kunz anpissen können. Und außer einer Handvoll von Leuten haben alle den Stab über ihm gebrochen, ohne auch nur einmal zu hinterfragen!"
Damit stand sie auf und verließ das Studio. Das Publikum raste vor Begeisterung.
Der Moderator saß vor der Kamera wie ein begossener Pudel. Als er sich einigermaßen gefangen hat, wusste er, er konnte sein Gesicht nur wahren, wenn er gute Miene zum tollen Spiel der Kleinen machte!
Er stand auf, klatschte mit den Zuschauern mit.
Er konnte auch ein Grinsen nicht unterdrücken. „Hat mich jetzt eine Springflut erwischt?" fragte er selbstironisch. „Ich glaube, Chris Sandmann, die Frau gönne ich Ihnen!"
Dann kam der Abspann.
Der Regisseur klopfte ihm auf die Schultern. „Gut gemacht! Manchmal muss man auch Schelte einstecken. Dieses Mal war sie ja auch nicht ungerechtfertigt. Auf den jungen Mann hatten sich schon alle sehr eingeschossen."
Sarah atmete tief durch, als sie vor der Türe des Studios stand. Das hatte sein müssen, das hatte sie loswerden müssen. Sie hatte ihr Buch mit keiner Silbe erwähnt, hatte das auch nicht vorgehabt. Sie war nicht auf Werbetour unterwegs, sondern auf Rachefeldzug!
Und heute hatte sie ausgeteilt!
Heute hatten andere eingesteckt!
Kurz dachte sie an Chris.
Ob er es gesehen hatte?
Wo er wohl steckte?
Ob es sie in seinem Leben noch gab?
Doch dann verbat sie sich diese Gedanken.
Die würden nur wieder endlose Tränenströme nach sich ziehen, und eigentlich hatte sie es satt zu weinen.
So fucking satt!
Ihre Eltern waren im Studio gewesen, hatten den Auftritt ihrer Tochter erlebt, waren stolz auf sie wie noch nie.
„Das ist mein Mädchen!" hatte ihr Vater zu seinem Sitznachbarn gesagt.
„Glückwunsch!" hatte der geantwortet.
„Das muss Ihre Tochter sein!" stellte der Mann neben Birgit fest, der sie schon eine Weile angeflirtet hatte. „Sie ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten, die kleine Schönheit!"
Die Mutter lächelte den Fremden an. Tom hatte die Worte nicht gehört, aber es hätte ihm auch nichts ausgemacht Im Gegenteil! Er war noch immer so stolz auf sie!
„Ja, das ist unsere Sarah! Unser Sonnenschein!" antwortete sie strahlend.
Vor dem Studio nahm sie ihre Kleine in die Arme. „Super gemacht, Mädchen!"
Sarah war noch vollkommen aufgedreht. „Das war voll krass! Das war einfach nur geil!" haute sie raus und benutzte die von ihr am meisten gehassten Adjektive. Aber manchmal waren Dinge einfach nur krass oder geil!
Ihr Vater lachte. Ein anderer hätte ein ordentliches Stirnrunzeln von ihr bekommen!
Chris
Chris starrte auf die leeren Seiten. Sie hatte nicht gewusst, wie die Geschichte endete. Das hieß, sie war auch für sie noch nicht zu Ende.
Er rief im Computer die erwähnte Home-Page auf. „Das Ende der Geschichte werde ich zu gegebener Zeit hier veröffentlichen!" las er.
Das hieß, auch ihre Geschichte ohne ihn war nicht weitergegangen, hieß, es gab keinen neuen Mann in ihrem Leben.
Das, was er am meisten befürchtet hatte, war nicht geschehen. Sie hatte sich nicht neu verliebt!
Er war sicher, dass sie ehrlich zu ihren Lesern gewesen wäre.
Und jetzt?
Was sollte er tun?
Denn handeln musste er!
Nach diesem Buch konnte er nicht so weiter machen!
Sie hatte ihrer beider Geschichte geschrieben, hatte sie ihm geschenkt!
Er durfte diese Gabe nicht ablehnen!
Und, fuck, er wollte auch nicht!
Er konnte nicht mehr!
Er zog gerade sein Handy aus der Hosentasche, da rief Monika aus dem Wohnzimmer nach ihm.
„Chris! Schnell! Sarah ist im Fernsehen!" Sie konnten über einen Receiver deutsches Fernsehen empfangen.
Als sie gehört hatte, dass Sarah in der Talkshow zu Gast wäre, hatte sie die Sendung gestoppt.
Chris raste zu ihr. Sie rümpfte etwas die Nase. „Eine Dusche würde auch nicht schaden! Ist bestimmt schon wieder einen Monat her, oder?"
Doch dann war alles nebensächlich. Seine Augen klebten an ihr, an seiner Schönen, ja, seiner!
Wow, sah sie toll aus!
Er erkannte das Kleid, musste lächeln. Das hätte eigentlich mir vorbehalten sein sollen, kleines Biest! dachte er.
Seine Ohren mussten sich anstrengen, so schnell zu hören, wie sie quasselte. Monika ließ ihn nicht aus den Augen. So viel Liebe hatte sie noch nie in den Augen eines Mannes gesehen!
Als die Sendung zu Ende war, stellte Monika den Ton leise.
Er sah sie an. „Sie war toll, oder? Sie hat ihn platt gemacht! Sie hat den Hurensohn in Grund und Boden gequatscht! Das kann sie gut, oder?"
Die Tränen hatten von selbst aufgehört zu laufen, das Grinsen war zurückgekommen!
„Ja, quatschen kann sie verdammt gut!" Er sah seine Vermieterin an. „Können wir das nicht zurückspulen? Kann ich es mir nochmal ansehen?" bat er.
Monika erfüllte seinen Wunsch, suchte den Anfang. „Ich lass dich dann mal alleine!" sagte sie und verließ das Zimmer. „Danke!" rief Chris ihr nach. „Für alles!"
Auch dir da oben! flüsterte er. Vielleicht gibt es dich ja doch!
Und dann sah er zum zweiten Mal, wie ein wütender Engel einen Moderator zerlegte.
Bei manchen Szenen, wenn sie besonders süß aussah, ließ er zurücklaufen, sah sie sich ein drittes und auch ein viertes Mal an.
Und da sie fast immer besonders süß aussah, saß er die halbe Nacht vor dem Apparat.
Dann ging er selig lächelnd in sein Zimmer und textete ihr.
„Kannst du mir noch einmal verzeihen?"
Er wartete eine Weile - keine Antwort. Da realisierte er erst, dass es drei Uhr morgens war.
Trotzdem sprach er auch noch auf die Mailbox und aktivierte seine wieder.
Schlafen konnte sie ein andermal!
Sarah
Sarah fiel ins Bett. Der Abend hatte viel Kraft gefordert. Ihre Eltern hatten sie nach Hause gebracht, waren noch bei ihr geblieben, hatten ihr ein Glas Wein eingeschenkt, sie gezwungen, auch noch ein zweites zu trinken.
Dann war sie langsam ruhiger geworden. Um Mitternacht war sie schlafen gegangen. Wie immer gehörten ihre letzten Gedanken Chris, wie auch ihre ersten jeden Morgen.
Um drei Uhr hörte sie im Traum das Brummen ihres Handys, das eine Textnachricht ankündigte.
Das war schön, dass sie wieder einmal eine Nachricht bekam.
Vielleicht von Chris?
Sie sah ihn auf sich zukommen, doch wie so oft in ihren Träumen lief er in letzter Sekunde an ihr vorbei.
Aber dieses Mal erwischte sie ihn am Arm und hielt in fest.
Lächelnd drehte er sich um.
Sie kämpfte sich aus dem Traum, kontrollierte aus reiner Gewohnheit ihr Gerät. Sie hatten sich neue Nummern zugelegt, als der Sturm begonnen hatte zum Orkan zu werden. Nicht viele Menschen kannten diese.
Im Halbschlaf sah sie das Blinkzeichen. Blitzschnell griff sie danach, öffnete den Ordner.
„Kannst du mir noch einmal verzeihen?" las sie. Auf der Mailbox der gleiche Satz.
„Muss ich wohl!" textete sie zurück.
Da läutete das Handy. „Wir könnten ja auch reden miteinander!" schlug er vor. „Oder hast du keine Worte mehr übrig, nachdem du den Typen so zusammengefaltet hast?"
„Für dich werden sie schon noch reichen, du Idiot! Hast du die Sendung gesehen?" fragte sie und ihr Herz raste.
„Viermal hintereinander! Das Buch habe ich auch gelesen!" gestand er. „Und ich wüsste verdammt gerne, wie es weitergeht!"
„Das musst du entscheiden, Chris! Du bist abgehauen!" Ihre Stimme war kurz davor zu kippen.
„Als du abgehauen bist, habe ich dich zurückgeholt!" Er wollte nicht, dass sie weinte, und er wollte auch nicht schon wieder heulen.
„Wo bist du?" brachte sie noch heraus.
„In Barcelona!" antwortete er.
„Ich texte dir meine Ankunftszeit!" sagte sie und legte auf.
Chris grinste, die Tränen blieben in seinen Augen.
Sein spontanes Mädchen!
Sie hatte sich nicht verändert.
Am nächsten Tag stand er um 15 Uhr in der Ankunftshalle. Der Flug war für 16.30 angekündigt. Der riesige Strauß roter Rosen wurde langsam ziemlich schwer. Seine Armmuskeln waren etwas untrainiert seit einigen Monaten.
Er grinste seit Stunden. Sein Mädchen kam, um ihn heimzuholen!
Vielleicht bleiben wir ja auch hier! dachte er. Eine Weile zumindest! Wir sind frei, wir sind jung, wir sind zusammen und hier ist noch Sommer!
Denn den zu Hause haben wir ja wieder einmal gründlich versaut!
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