Kapitel 29
Der Absturz
Das Unheil begann relativ harmlos mit einem Pärchen in den Zuschauermassen. Carina war mit ihrem neuesten Lover da, hatte Chris noch immer nicht ganz überwunden, der da oben mit der bayerischen Bitch turtelte.
„Das ist schon eine Süße!" meinte Pit vollkommen wertfrei.
Carina verdrehte die Augen. „Aber eine ganz schöne Furie!"
„Echt jetzt?" Er war wie sie ziemlich zugedröhnt.
Carina erzählte die Geschichte von Chris' missglückter Geburtstagsfeier. „Und dann ist sie für zwei Monate verschwunden gewesen!" schloss sie.
Ein paar Tage später erzählte Pit einem Mädchen, das ihm auch sehr gut gefiel, das aber voll auf diesen Chris abfuhr, Carinas Geschichte.
Nur, dass da der Sänger völlig zugedröhnt war und Sarah angebrüllt und fertig gemacht hatte, weil er mit einer anderen rummachen wollte.
Die Kleine erzählte vollkommen aufgelöst die Story von ihrem Traummann weiter, der seine Freundin misshandelt hatte, weil sie ihm keinen Stoff besorgt hatte.
Als das Ganze über mehrere Stationen bei einem Klatschreporter ankam, war Chris schwer drogenabhängig, verpulverte das Geld seiner Frisch-Verlobten für Koks, war unter Drogen Auto gefahren und hatte seinen Führerschein verloren, schlug Sarah regelmäßig, die ihm voll verfallen war.
Als Andreas an einem Januarmorgen das Blatt aufschlug, blieb ihm das Herz stehen. Zwei Prozent Wahrheit waren zu einer unglaublichen Lügengeschichte aufgebauscht worden.
„Woher haben Sie diese Scheißinformationen?" brüllte er den Redakteur an.
„Informantenschutz!" antwortete der nur und grinste sich eines. Na, wenn der Manager des Sonnyboys so reagierte, war wohl wirklich was dran!
„Ich verlange eine Gegendarstellung!" brüllte Andreas.
„Gut! Dann soll der junge Mann einen Haartest machen lassen, dann bringen wir das!" schlug der Zeitungsmann vor.
Andreas legte wortlos auf. Er wusste nicht, wie lange das, was der Junge genommen hatte, nachzuweisen wäre. Da musste er sich erst erkundigen.
Und vor allem musste er mit Chris und Sarah sprechen!
Er fuhr gleich zu den beiden. Sarah öffnete verschlafen die Türe. Andreas schob sie zur Seite, ging in die Wohnung. „Hol Chris!" sagte er nur.
Sarah erschrak. So hatte sie den Manager noch nie erlebt!
Als sie beide den Artikel gelesen hatten, mussten sie zuerst lachen, zu verrückt war die Geschichte.
Doch Andreas wies sie zurecht. „Das ist nicht lustig, Leute! Das Liebespaar der Nation hat eine Menge Neider! Für die ist das das gefundene Fressen!"
Chris erkannte die Dramatik noch immer nicht. „Dann mache ich halt diesen blöden Test! Das ist ja schon ewig her!"
Doch das Ergebnis fiel nicht so positiv aus, wie alle gehofft hatten. Reste von Drogen wurden noch immer nachgewiesen.
Der Konsum lag zwar lange zurück, aber er hatte eben stattgefunden!
Mittlerweile hatte sich die Story verselbstständigt. Täglich riefen Journalisten und Fernsehteams an, wollten Stellungnahmen von den beiden, bis sie nicht mehr an die Telefone gingen.
Sie hatten gehofft, das Ganze würde bald wieder einschlafen, aber das Gegenteil war der Fall.
Everybodys Liebling war zum Buhmann der Nation geworden.
Als erstes nahmen die Musiksender das Video aus dem Programm. Chris platzte vor Wut.
„All die Kokser spielen sie, und mich haun sie raus!"
Aber bei ihm lagen die Dinge anders. Er war als Saubermann unterwegs gewesen und hatte doch auch Drogen genommen! Da war es egal, wie lange, wie oft, wie viel, was!
Seine Fans verziehen nicht!
Als nächstes stürzte die CD in den Charts im freien Fall ab.
Sarah musste viel Aufbauarbeit leisten. Sie fühlte sich so verdammt schuldig! Hätte sie auf dieser Fete nicht so einen Tanz gemacht, wäre es nie zu dieser Katastrophe gekommen!
Chris zerfleischte sich selbst. Hätte er auf dieser Fete diesen verdammten Joint nicht angefasst, wäre es nie zu diesem verdammten Mist gekommen.
Andreas versuchte, Interviews mit den beiden zu organisieren, damit alles ins richtige Licht gerückt werden konnte. Doch er stieß mittlerweile nur auf verschlossene Türen.
Er versuchte es bei den Fernsehsendern, nichts! Kein Interesse! Alle, die ihn jahrelang hofiert hatten, ließen Chris fallen wie eine heiße Kartoffel!
Der schlimmste Tag war der Geburtstag seines Vaters. Sie hatten sich gefreut, einmal rauszukommen aus ihren vier Wänden, andere Gesichter zu sehen, abzuschalten. Sie hatten sich gefreut auf eine lustige Runde.
Lachend waren sie vor dem Haus seiner Familie angekommen, bepackt mit Geschenken für seinen Dad, aber auch für Nicole und die Zwillinge.
Die Frau seines Vaters öffnete, Chris strahlte sie an, wollte sie umarmen.
Doch sie wich seltsamer Weise zurück. Sie lächelte auch nicht. Eher sah sie wütend aus, hatte verweinte Augen.
„Ich möchte nicht, dass ihr weiter Kontakt mit meinen Kindern habt!" stieß sie hervor und traf Chris beinahe tödlich.
„Aber ihr werdet doch diesen Mist nicht glauben?" fragte Sarah entrüstet.
Nicole sah sie ernst an. „Ich habe gestern Gras bei Max gefunden! Er hat mich angebrüllt, dass Chris das auch geraucht hätte, und dass er ein großer Musiker geworden ist!"
„Lass mich mit ihm reden!" bat Chris leise.
„Nein, es ist besser, du verschwindest aus seinem Leben! Dann wird er einsehen, dass du nicht der Superheld bist, für den er dich im Moment hält!" Damit schlug sie ihm die Türe vor der Nase zu.
Die beiden sollten nicht die Tränen sehen, die über ihr Gesicht liefen, ebenso wie ihrem Mann, der alles vom Küchenfenster aus beobachtet hatte. Sie nahm ihn in den Arm.
„Es ist besser so, glaub mir!" versuchte sie ihn zu trösten.
„Wenn du meinst!" antwortete er. „Aber reden würde vielleicht auch helfen!" Damit drehte er sich um und ging in sein Arbeitszimmer.
Max und Marie kamen angelaufen. „Sind Chris und Sarah da?" fragten sie gleichzeitig.
„Nein!" antwortete Nicole. „Die kommen nicht! Die haben etwas anderes vor!"
Die Zwillinge gingen enttäuscht in ihre Zimmer.
Es wurde Pauls trostlosester Geburtstag. Nur ein paar Monate mit seinem Sohn waren ihm vergönnt gewesen.
Chris deponierte die Geschenke auf den Treppen. Es war ein fast normaler Tag gewesen, als sie sich aufraffen hatten können, in die Stadt zu gehen und sie zu besorgen.
Eine neue Kladde für Marie, ein Gitarren-Übungsheft für Max, ein Kochbuch für Nicole und einen Hausmantel und ein paar Bücher für Paul. In die Päckchen für die Zwillinge hatten sie ein paar Geldscheine gesteckt.
Im Auto brach Chris dann zusammen. Er sank in seinem Sitz nach vorne und heulte wie ein Schlosshund. Er trommelte wütend auf das Armaturenbrett, bis seine Hände schmerzten.
Sarah brach schier das Herz.
„Wir fahren nach Regenburg!" beschloss sie. Er nickte nur. Vielleicht wurde es dort besser.
Hier durchbohrten sie ihn auf der Straße mit Blicken, spuckten vor ihm aus, wechselten die Straßenseite.
Nur selten wagten sie sich noch vor die Türe. Ihr wunderbares Leben war in sich kollabiert. Sie liebten sich, sie begehrten sich nach wie vor, doch wenn sie miteinander schliefen, schien es manchmal wie ein Kampf gegen Dämonen zu sein.
Wenn es nicht bald ruhiger um sie wurde, wenn sie nicht bald wenigstens einen Teil ihres Lebens zurückbekämen, würden sie sich auch noch verlieren.
Sie fuhren am Morgen los, nachdem sie sich die halbe Nacht umklammert gehalten hatten und die Kissen mit ihren Tränen durchweicht hatten. Den Rest der Nacht hatten sie in finsteren Albträumen verbracht, aus denen sie abwechselnd hochgeschreckt waren.
Am Frühstückstisch küsste er sie. „Danke, dass du so zu mir hältst!" sagte er leise. Sarah konnte es kaum ertragen, diesen einst vor Leben sprühenden Mann, der vor Kreativität nur so strotzte, so gebrochen zu sehen.
„Man könnte glauben, du bist ein Kinderschänder, wie die sich aufführen!" schimpfte sie.
„Ich glaube, das ist das einzige, was sie mir noch nicht vorgeworfen haben!" meinte er bitter.
„Betonung liegt auf noch!" merkte sie an.
„Na, du kannst einen so richtig aufbauen!"
„Denen traue ich mittlerweile alles zu!" Sie kochte schon wieder vor Zorn.
Sie würgten ein wenig Brot hinunter, schütteten Kaffee in sich hinein und machten sich auf den Weg.
Unterwegs rief Chris Florian an, informierte den Freund, dass sie erst einmal nach Regensburg fuhren.
„Viel Glück!" wünschte Florian. „Und bleib in Verbindung mit uns!"
Sarah fuhr betont langsam. Ein weiteres Bußgeld wollte sie nicht riskieren. Wusste Gott, was die Presse daraus wieder machte!
Sie stand immer noch fassungslos dem Geschehen gegenüber. Nie hätte sie so etwas für möglich gehalten.
Dann musste sie die Sache mit seiner Familie doch noch einmal ansprechen. „Glaubst du, dass dein Vater Nicoles Meinung teilt?"
Er zuckte mit den Schultern. „Wir kennen uns zu wenig! Ich kann es echt nicht sagen!"
Er lächelte sie an. „Aber es ist schon toll, wie tapfer du dich hältst!" sagte er leise.
„Ich denke halt immer, dass es ohne meinen Auftritt auf der Fete nicht so weit gekommen wäre!" gab sie zu bedenken.
„Sarah! Wie oft denn noch! Ich habe dieses Scheißzeug genommen! Und irgendwann wäre alles aufgeflogen, wäre ein Zusammenbruch gekommen!" Er hatte es ihr immer wieder zu erklären versucht. Aber sie geißelte sich nach wie vor. Er wollte das nicht mehr! „Bitte, Süße! Hör damit auf, ja?"
Als sie tankten, nahm niemand Notiz von ihnen. Das tat verdammt gut! Sie bezahlte mit ihrer Karte, ihr Name war nicht so bekannt wie seiner.
Im Restaurant tranken sie Kaffee und aßen eine Kleinigkeit, sogar mit Appetit. Es schien leichter zu werden, je weiter sie von Hamburg wegkamen.
In Regensburg angekommen, fühlten sie sich fast wieder wohl.
Zum ersten Mal seit langer Zeit liebten sie sich voll Lust, kam ein wenig von der Leichtigkeit zurück.
Am nächsten Tag fuhren sie zu ihren Eltern, die sie herzlich in die Arme schlossen.
„Mannomann! Euch gehen sie aber nach!" Ihr Vater war fassungslos, wütend, aufgebracht!
Später berichtete Chris von Nicoles Reaktion. Da packte Birgit die totale Wut. „Ist die verrückt? Total verrückt? Nur weil sie mit ihrem Sohn nicht klarkommt, schmeißt sie dich raus? Die ist doch irre!"
In ihrem Kopf formte sich ein Plan. Chris tat ihre Fürsprache sehr gut. Sie hielten vollkommen und bedingungslos zu ihm und ihrer Tochter.
Am nächsten Tag saß Birgit neben Tom im Zug. Am Abend läutete sie Sturm am Haus von Chris' Familie.
Zwei Stunden später verließen sie das Haus wieder, ließen sich von einem Taxi ins Hotel bringen.
Zwei Stunden lang hatte sie Nicole den Kopf gewaschen, sie beschimpft, Paul eine Memme genannt, der zum zweiten Mal seinen Sohn aus Bequemlichkeit geopfert hatte, oder vielleicht auch zum dritten Mal. Denn während der langen Kontaktstille zwischen den beiden hatte er sich auch nicht gerade darum gerissen, seinen Sohn zu sehen.
Es war für die Familie schon ein ruhigeres Leben gewesen ohne Chris, was auch Nicole immer wieder subtil betont hatte.
„Und wagt es nie wieder, meine Tochter und Chris so zu behandeln!" schrie sie, bevor sie das Haus verließen.
Sie hatte sich auch Max vorgeknöpft. „Und du bist so blöd, dass du glaubst, wenn du Gras rauchst, wirst du ein guter Musiker? Chris wurde trotz Gras so perfekt, weil er sehr begabt ist! Dope führt nie nach oben, immer nur nach unten! Merk dir das! Das hätte dir eigentlich deine ach so tolle Mutter auch erklären können!"
Zu Paul sagte sie noch: „Such deine Eier! Ich hoffe, du findest sie bald!" Er musste fast grinsen über die Furie, die eigentlich seinen Part übernommen hatte.
Als Tom und Birgit weg waren, versuchte die Familie einen Weg aus der Tsunamikatastrophe, die sie getroffen hatte, zu finden.
Sie redeten die halbe Nacht, am Ende musste Nicole eingestehen, dass sie falsch gehandelt hatte, und das schon seit Jahren. Bei ihren Kindern hatte sie sehr verloren. Seit Jahren hatte sie ihnen eigentlich diesen tollen Bruder vorenthalten, aus einer Art von Eifersucht heraus.
Einen friedlichen Tag verbrachten Chris und Sarah in ihrem Haus. Dann fanden sie im Briefkasten einen Ausdruck: „Wir wollen keine Junkies in der Nachbarschaft!"
Die Verurteilung hatte sie eingeholt. Einen Tag später war ihr Haus rundum besprüht mit „Junkies raus"!
Sie fuhren in die Stadt. Niemand sprach Sarah an, alle, die sie kannten, sahen in eine andere Richtung. Sie wollten im Kneitinger essen, Hilde erklärt kurzangebunden, dass alle Plätze reserviert waren. Ihre Stadt verleugnete sie.
Die Schutzglocke um sie herum war mit einem Schlag zerplatzt.
Aber das Tal war noch lange nicht erreicht.
Nachdem die Medien Chris Sandmann zerlegt hatte, als er zermalmt im Staub lag, war er uninteressant für sie geworden.
Doch da gab es ja noch eine Berühmtheit, die Schriftstellerin an seiner Seite.
Mit einer kleinen Meldung in einem Boulevardblatt begann es.
„Die Autorin und der Junkie! Warum hält Sarah von Steinhausen so zu ihrem Junkie-Freund? Ist sie ihm hörig, wie Insider der Szene behaupten? Ist sie selbst abhängig von Betäubungsmitteln?"
Nur drei Fragen – keine Antworten, aber die Folgen waren fatal.
Andere spannen den Faden weiter.
Ein paar Wochen später war die Nation überzeugt, dass sie die Spendengelder, die sie auf ihren Lesereisen oder beim Verkauf der signierten Bücher angeblich für die Stiftung sammelte, für den Drogenkonsum ihres Freundes und von ihr selbst Zweck entfremdete.
Dass ihr Kampf gegen Drogensucht, ihr Engagement für die Stiftung, dass ihr ganzes Leben eine einzige Lüge gewesen war.
Dass sie wahrscheinlich Chris Sandmann auf einer Drogenparty kennengelernt hatte, weil sie aus ihrem ersten Treffen immer so ein Geheimnis gemacht hatten.
Der Verlag kündigte ihr die Zusammenarbeit auf, die Buchhandlungen nahmen ihre Bücher aus den Regalen – alles, ohne ein einziges Mal mit ihr zu sprechen, ohne auch nur einmal ihre Version anzuhören.
Ihre Welt glaubte den Presseberichten, machte sich nicht die Mühe zu hinterfragen! Nicht ein einziges Mal!
Da brach Chris vollends zusammen.
So lange sie ihn fertig machten, konnte er überleben.
Mit ihr an seiner Seite würde er es schaffen!
Er hatte Scheiße gebaut, nun musste er eben dafür bezahlen.
Aber als sie auf seine Süße losgingen, war das zu viel!
Er konnte nicht zulassen, dass der beste Mensch der Welt so gedemütigt wurde wegen eines Fehlers, den er selbst gemacht hatte!
Er musste sie verlassen!
Er war nicht gut für sie!
Er hatte ihr Leben zerstört!
Er musste dafür sorgen, dass sie es zurückbekam!
Sie würde über ihn wegkommen!
Sie würde einen anderen Mann kennenlernen!
Aber sie würde nicht darüber wegkommen, nicht mehr schreiben zu können!
Er durfte nicht zulassen, dass man sie zerstörte, dass er sie zerstörte!
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