Kapitel 22
Regensburg 4
Engumschlungen gingen sie durch die Straßen der wunderschönen Altstadt. Dann führte sie ihn in ein Lokal, in dem man bis um zwei Uhr frühstücken konnte.
„Original Bayerische Weißwürste! Was ist das?" fragte er interessiert, als er die Speisekarte las.
„Du kennst keine Weißwürste? Jetzt prallen aber die Kulturen aufeinander." Sie lachte. „Die musst du probieren!" Sie sah auf die Uhr. „Zum Glück ist es erst halb Zwölf! Nach dem Zwölf-Uhr-Läuten darf man die nämlich nicht mehr essen!"
„Aha!" Er sah sie verständnislos an. Es waren ihm ja schon einige Gerüchte über die Bayern zu Ohren gekommen.
„Hallo, Sarah!" Der junge Mann wollte Chris offensichtlich übersehen, wollte lieber sie genauer ansehen. „Dein neues Buch ist echt Klasse!"
„Du liest Liebesromane?" fragte sie überrascht.
„Wenn du sie geschrieben hast!" Er warf ihr schmachtende Blicke zu.
Chris räusperte sich.
„Danke, Johnny! Also, wir hätten gerne zweimal Weiße und zwei Haferl Kaffee!"
„Semmeln oder Brezen?" fragte der junge Mann.
„Brezen natürlich!"
Chris war gespannt, was ein Haferl war. Er hatte so Assoziationen mit einem Nachtpott!
Doch es kamen zwei große Tassen.
Gut, etwas gelernt!
Als diese Weißwürste kamen, die man nach zwölf Uhr nicht essen durfte, warum auch immer, war er doch etwas unangenehm überrascht. Da schwammen zwei pimmelartige Dinger im Wasser.
„Und? Sind die schon tot, oder muss man die fangen und ermorden?" fragte er vorsichtig.
Sarah lachte Tränen. Der Hamburger Jung hatte noch nie Weißwürschte gegessen!
„Also, die musst du zutzeln! Schau so!" Sie stach eines der Dinger mit der Gabel an, er zuckte zusammen, dann strich sie einen braunen Brei auf dem Teller. „Das ist Weißwurscht-Senf!" erklärte sie.
„Also Mostrich?"
„So was Ähnliches, ja! Da tunkst du die Wurscht ein und zutzelst sie aus der Haut!" Er sah ihr fasziniert zu.
„Und das machen Männer auch? Ich meine, Hetero-Männer?"
Sarah konnte vor Lachen kaum schlucken. „Ja, in Bayern schon!"
„Seltsames Alpenvolk!" antwortete er, und seine Augen blitzten vor Schalk.
Dann versuchte er, eine „Wurscht auszuzutzeln", wie sie es nannte. Er lachte sich dabei zwar halb tot, aber wider Erwarten schmeckt es sehr gut.
„Mh! Schmecken tut's ja gut! Aber kann man die „Wurscht" nicht anderes essen? Dieses Zutzeln ist schon ein wenig pervers!"
Sarah hatte Bauchschmerzen vor Lachen! „Doch du kannst sie auch der Länge nach aufschneiden, und ihr die Haut abziehen!"
Er sah sie mit gerunzelter Stirne an. „Ihr seid ein rabiates Volk, ihr Bayern!"
Irgendwie schafften sie es, das Frühstück zu überleben, ohne an Lachkrämpfen zu ersticken.
„Hat's geschmeckt?" fragte Jonny, als er den Tisch abräumte.
„Geschmeckt hat es schon! Aber die Art der Nahrungsaufnahme war etwas ungewöhnlich!" zog Chris den offensichtlich verliebten Typen auf.
„Ha?" fragte Jonny. „Wo hast du den denn aufgegabelt?"
„Also aufgegabelt habe ich ihn in Regensburg, aber er kommt aus Hamburg!" erklärte sie.
„Ah! Ein Fischkopf! Alles klar! Der kennt bloß Aal in Senfsoße!"
Chris lachte. „Ein Kenner der nordischen Küche! Schmeckt übrigens lecker! Kriegst du nächstes Mal!" versprach er.
„Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?" fragte sie.
„Eindeutig Letzteres!" versicherte Jonny.
Als Chris zahlen wollte, kam der Chef höchstpersönlich.
Ein verdammt gutaussehender Typ!
Ob sie? schoss es Chris durch den Kopf.
„Das geht aufs Haus! Unser schöner Superstar hatte doch Geburtstag, wenn ich mich recht erinnere!" erklärte der Schleimer.
Also hat sie! Was der wohl für eine Macke hat? Die „Wurscht" drehte sich in seinem Magen um.
Chris! Reiß dich zusammen! Du hattest mit Sicherheit mehr Frauen als sie Männer!
Aber ich führe sie nicht in Lokale, die einer von meiner Exen gehören!
Er war ziemlich angefressen.
„Hallo, Bill! Hast du dir das Lokal jetzt auch gekrallt?" Ihr sarkastischer Ton beruhigte Chris ein wenig. Sie hatte wohl nicht gewusst, dass er der Besitzer war.
„Darf ich vorstellen: Chris Sandmann!"
Bill unterbrach sie. „Ich kenn den Typen schon, danke!"
Sie sprach trotzdem weiter. „Und das ist Bill! Seine Macke ist, dass er seinen wechselnden Freundinnen seine Ehefrau unterschlägt!"
Chris fand ihre Ehrlichkeit großartig!
Ja, ich hatte was mit ihm, aber er ist ein Arschloch! hatte das geheißen. Sie hatte seine Ahnungen gefühlt, hatte die aber gleich entkräftet.
„Danke für die Einladung, BillyBoy!"
Ob sie wusste, dass das der Name eines Kondoms war? dachte Chris lächelnd.
Aber ihrer Intelligenz nach, mit Sicherheit!
Lachend zog sie ihn ein Stück weit vom Lokal weg. „Jetzt läuft er wieder eine Stunde mit einem roten Kopf rum, weil ich ihn BillyBoy genannt habe! Aber das passt halt gar so gut!" Sie sah ihn ein bisschen unsicher an. „Ich wusste nicht, dass das Lokal jetzt ihm gehört! Sonst wäre ich natürlich nicht mit dir hierhergekommen!"
Er grinste sie an. „Na, so haben die Pimmel-Würste wenigstens nichts gekostet!"
Sarah hielt sich wieder einmal den Bauch. An der nächsten Straßenecke saß ein Bettler.
Chris zog einen Schein aus der Tasche – er trug sein Geld immer in die Hosentasche gestopft.
„Da! Kauf dir ein Paar Weißwürschte und zutzle sie aus!" Er sah sie strahlend an. „Ich kann schon gut Bayrisch, oder?"
Lachend zogen sie durch die Stadt. Plötzlich standen sie vor der Bank, an der alles angefangen hatte.
„Hier war das?" fragte er.
„Ja! Genau!"
Er sah sich um. „Und du bist ganz alleine mitten in der Nacht da am Fluss entlanggelaufen?" Ihm wurde nachträglich eiskalt vor Angst um sie. „Das lässt du aber in Zukunft, ja? Du hast jetzt jemanden, für den du verantwortlich bist!"
„Aber aus Recherchezwecken muss ich schon hin und wieder losziehen!" warnte sie ihn.
„Dann recherchierst du eben im Swinger Club! Und ich bin dann immer schon da! Du kannst mich interviewen, ausprobieren, was du willst!"
„Stimmt! Den Swinger Club! Den hatte ich ganz vergessen!"
„Ist auch gut so!"
„Sagt der Hamburger Junge, der wahrscheinlich seine halbe Jugend auf der Reeperbahn zugebracht hat!"
Er grinste sie nur frech an. „Alles brauchst du auch nicht zu wissen!"
Sie schüttelte lachend den Kopf. „Nein, alles will ich auch wirklich nicht wissen!"
Sie setzten sich auf die bewusste Bank. Kurz darauf kam eine Gruppe von etwa 14jährigen Mädchen vorbei. Eine warf einen Blick auf das Liebespaar, stockte, flüsterte den anderen etwas zu. Die schüttelten den Kopf, gingen weiter, sahen zurück, tuschelten.
„O Gott!" stöhnte Chris. „Die Fanmassen überrollen mich!"
Die Mädchen schienen zu verhandeln, schickten eines los.
„Bist du der Chris Sandmann?" fragte sie.
„Ja!" gab der lächelnd zu. Die Kleine schien sehr aufgeregt zu sein.
Sie hüpfte aufgeregt auf und ab, wedelte mit der Hand vor dem Gesicht.
„Und du bist seine Sarah?"
„Ja!" Es tat gut, diese Frage einfach bejahen zu können. Sie war seine Sarah!
Die Kleine wurde noch aufgeregter, die anderen kamen zurück.
„O mein Gott! Wir sind ja alle total krass verknallt in ihn! Aber er ist auch ein bisschen alt! Wir sind so froh, dass ihr euch wieder vertragt! Dass du ihm verziehen hast! Was hat er denn getan?"
Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Wahrscheinlich hat er einmal ein Bier zu viel getrunken! Oder hat Fußball geguckt! Oder hat zu lange gedattelt! Da wird meine Mama auch immer sauer, dann küsst der Papa sie ganz fest, dann hat sie ihn wieder lieb!" Sie hüpfte wieder auf und ab, die anderen machten es genauso.
Sarah und Chris lachten Tränen über die aufgedreht Bande.
„Dürfen wir ein Foto machen? Das glaubt uns sonst niemand!" fragte eine andere.
Sarah wurde ernst. „Ihr dürft ein Foto mache, aber nur für euch, ja? Ihr dürft es nicht ins Internet stellen und es auch mit niemandem teilen! Denn es gilt das Recht auf das eigene Bild, das heißt, dass wir beide entscheiden dürfen, wer das Foto sehen darf, okay?"
Die Mädchen schienen verstanden zu haben, denn sie nickten ernst.
Dann gab es eine Fotosession. Touristen gingen vorbei, sahen den Mädchen lächelnd zu.
„Das ist der Chris Sandmann, und das ist seine Sarah, die schreibt Bücher!" wurden sie informiert.
Manch einer oder eine konnte mit den Namen etwas anfangen und blieb stehen, die anderen gingen weiter. Nach einer Weile hatte sich eine ganz gemischte Gruppe um die Bank versammelt. Einer fing an zu singen: „Du wirst immer mein Engel sein, mein wütender Engel sein!"
Chris sang die Strophen, sein Publikum stimmte in den Refrain ein. Er hielt seinen Engel im Arm, auf dieser Bank in ihrer Stadt, auf der alles angefangen hatte und war glücklicher als je in seinem Leben.
Sie sangen noch ein paar der bekanntesten Hits zusammen, wildfremde Menschen tanzten dazu auf dem Weg an der Donau.
Er strahlte mit seiner Süßen um die Wette. Musik verband die Menschen! So hatte er es erlebt, als er in den Fußgängerzonen der Republik gespielt hatte, damals noch hauptsächlich Cover-Songs, aber auch schon das eine oder andere eigene Lied. Damit hatte er sich sein Studium verdient, und, wenn er gute Tage gehabt hatte, auch den Kühlschrank zu Hause aufgefüllt.
Er hatte es vermieden, seiner Mutter Geld zu geben, da das nur in Alkohol umgesetzt wurde. Damals war sie schon schwer abhängig gewesen, was er seinem Vater angekreidet hatte, was ihn aber auch vom Alkohol weghielt.
Diese Gedanken gingen durch seinen Kopf, während er hier auf dieser Bank saß und sang.
Vorbei! dachte er. Ich war 18! 19! Ich hätte nichts tun können!
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