Kapitel 7
Nachdem das Festessen in der Großen Halle zu Ende gegangen war, machte sich Cassian auf den Weg zu den privaten Gemächern seines Vaters. Er fühlte sich seltsam aufgewühlt nach dem Gespräch mit Harry. Die dunklen Geheimnisse, die sie einander anvertraut hatten, lasteten schwer auf seinem Geist. Er wusste, dass er darüber nachdenken musste, doch im Moment wollte er nur noch etwas Vertrautes – und Severus war genau das. Als er durch die Tür trat, blickte Severus Snape von einem Stapel Pergamente auf, die er auf dem Schreibtisch vor sich hatte. Seine Augen verengten sich leicht, als er seinen Sohn sah.
»Ich hatte eigentlich erwartet, dass du direkt in den Gryffindor-Gemeinschaftsraum zurückkehrst«, sagte er, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Neugier. »Habe ich richtig gesehen, dass du beim Essen eine Zeit weg warst?« Cassian zog seinen Umhang ab und setzte sich auf den Sessel am Kamin, wo das Feuer leise knisterte. Er wusste, dass sein Vater immer aufmerksam war, wenn es um ihn ging.
»Ja, ich... bin während des Essens kurz verschwunden«, gab er schließlich zu. Er spürte Severus' durchdringenden Blick auf sich und wusste, dass eine einfache Erklärung nicht ausreichen würde.
»Und wohin bist du verschwunden?«, fragte Severus, ohne den Blick von seinem Sohn abzuwenden. »Ehe du später mit Potter zurückgekommen bist.« Cassian zögerte kurz. Er wollte nicht direkt verraten, wie schlimm es Harry bei den Dursleys ging, denn das war Harrys Geschichte, nicht seine. Aber gleichzeitig konnte er es auch nicht ignorieren.
»Ich... habe Harry gesucht«, begann er langsam. »Er war nicht in der Großen Halle. Die anderen meinten, dass er diesen Tag nicht mag, also dachte ich, ich sollte nach ihm sehen.« Severus hob eine Augenbraue.
»Und?« Cassian biss sich auf die Lippe, überlegte, wie viel er sagen sollte.
»Es geht ihm nicht gut, Dad«, sagte er leise, seine Augen auf den Kamin gerichtet. »Er hat mir ein bisschen von seiner Zeit bei seinen Verwandten erzählt. Ich g-glaube, es ist schlimmer als die meisten denken.« Severus' Miene verhärtete sich, und seine Augen verengten sich leicht.
»Schlimmer? Was meinst du damit?«, fragte er, seine Stimme plötzlich schärfer. Cassian schüttelte schnell den Kopf und hob die Hand, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Ich kann nicht mehr sagen, es ist nicht meine Geschichte. I-ich habe ihm versprochen, es für mich zu behalten.« Er sah seinem Vater entschuldigend an, doch bevor Severus weiter nachhaken konnte, wechselte Cassian schnell das Thema. »Aber während wir geredet haben, habe ich ihm von meiner Mutter erzählt.« Severus' Stirn legte sich in Falten.
»Du hast... von deiner Mutter erzählt?« Seine Stimme war leiser, fast überrascht. Cassian nickte, und seine Finger spielten nervös mit der Naht seines Umhangs.
»Ja«, sagte er langsam. »Es hat sich einfach... richtig angefühlt, es ihm zu erzählen. Wie du mich damals zu dir geholt hast. Wie sie mich immer allein gelassen hat.« Seine Stimme klang ruhig, aber in seinen Augen lag eine Spur von Traurigkeit, die Severus sofort auffiel. Er starrte seinen Sohn an, und für einen Moment war es, als würde er die Vergangenheit vor sich sehen. Er erinnerte sich daran, wie er Cassian damals in dieser heruntergekommenen Wohnung gefunden hatte, verwahrlost, hungrig, allein. Die Wut und der Schmerz von damals kehrten mit einem Mal zurück, als ob die Wunden nie wirklich verheilt waren. Er hatte immer gehofft, dass Cassian diese Zeit vergessen hätte, dass er die Erinnerungen an seine Mutter und die Vernachlässigung hinter sich lassen konnte. Doch jetzt, da sein Sohn darüber sprach, wurde ihm klar, dass Cassian sich an mehr erinnerte, als er je gedacht hatte.
»Ich dachte, du hättest das alles vergessen«, sagte Severus leise, mehr zu sich selbst als zu Cassian. Cassian schüttelte den Kopf, sein Blick blieb auf das Feuer gerichtet.
»Vergessen kann man so etwas nicht, Dad«, sagte er ruhig. »Aber ich habe es lange weggeschoben. Ich wollte nicht daran denken. Nicht an sie. Aber h-heute kam es einfach hoch.« Severus lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete seinen Sohn schweigend. Er hatte immer versucht, Cassian vor der Dunkelheit seiner Vergangenheit zu schützen, hatte gehofft, dass die Jahre in Hogwarts, fernab von Mary und ihrem chaotischen Leben, ihm ein neues Leben ermöglichten. Doch nun sah er, dass diese Wunden tief in dem jungen Mann saßen.
»Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest«, sagte er schließlich, seine Stimme sanft und voller Bedauern. »Ich hätte mehr tun sollen, früher...«, Cassian schüttelte den Kopf.
»Du hast alles getan, was du konntest«, sagte er ernst. »Du hast mich gerettet, Dad. Das ist das Wichtigste.« Er sah seinen Vater an, und in seinem Blick lag eine tiefe Zuneigung und Dankbarkeit, die Severus' Herz berührte. Severus nickte langsam, ergriff jedoch die Gelegenheit, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Und Potter... er weiß davon?«
»Ja«, antwortete Cassian. »Er war... überrascht. Aber es hat uns irgendwie nähergebracht. Er hat mir auch von seinen Schwierigkeiten erzählt.« Severus sah Cassian lange an, dann nickte er.
»Ich verstehe«, sagte er. Cassian atmete erleichtert aus. Er wusste, dass es schwer für Severus war, die Kontrolle abzugeben und nicht weiter nachzufragen. Schließlich stand er auf und ging langsam zum Ausgang.
»Gehst du zurück zum Gemeinschaftsraum?«, fragte Severus ruhig. Cassian nickte.
»Ja, ich denke, ich sollte. Aber danke, dass du zugehört hast, Dad.« Severus nickte lächelnd. Cassian war fast schon an der Tür, als er plötzlich innehielt. Etwas beschäftigte ihn, etwas, das er nicht mehr ignorieren konnte. Er drehte sich langsam um und sah seinen Vater an, der immer noch am Tisch saß und in Gedanken versunken war.
»Dad?«, fragte er leise, seine Stimme zögernd. Severus blickte auf, überrascht, dass sein Sohn noch nicht gegangen war.
»Ja?«, fragte er, seine dunklen Augen ruhig, aber aufmerksam. Cassian trat einen Schritt zurück in den Raum, seine Hände spielten nervös mit dem Stoff seines Umhangs.
»Kannst du mir... mehr über meine Mutter erzählen?«, fragte er, und seine Worte hingen für einen Moment in der Luft. »Ich weiß eigentlich gar nichts über sie. Nicht wirklich. Wie... wie ihr beide zueinander standet.« Severus erstarrte. Das war eine Frage, die er nie hatte beantworten wollen. Die Erinnerungen an Mary McDonald, an die Umstände, unter denen Cassian gezeugt wurde, lagen tief vergraben – dort, wo sie ihm am wenigsten wehtaten. Er hatte es vermieden, über sie zu sprechen, hatte gehofft, dass Cassian niemals fragen würde. Doch nun stand sein Sohn vor ihm, mit ernsten Augen und der offensichtlichen Bitte, die Wahrheit zu erfahren. Und Severus wusste, dass er es ihm schuldig war.
»Cass«, begann er langsam, seine Stimme schwer und nachdenklich, »ich weiß nicht, ob du wirklich hören willst, was ich dir zu erzählen habe. Es ist keine schöne Geschichte.« Cassian zuckte mit den Schultern, aber in seinem Blick lag Entschlossenheit.
»Ich denke, ich habe ein Recht darauf, es zu wissen«, sagte er leise. Severus seufzte und ließ seinen Blick für einen Moment in die Flammen des Kamins gleiten, als ob er dort Antworten finden könnte. Schließlich hob er den Kopf und begann zu sprechen, seine Stimme ruhig, aber distanziert, als ob er die Worte von sich selbst trennte.
»Deine Mutter hieß Mary McDonald«, sagte er und sah, wie Cassians Augen sich leicht weiteten. »Sie war eine Gryffindor-Schülerin und eine gute Freundin von Lily Evans.« Severus machte eine Pause und sah kurz in Cassians Gesicht. »Lily war...« Er stockte, als die Erinnerung an seine Jugend und an die besondere Beziehung zu Lily Evans in ihm aufstieg. »Sie war meine beste Freundin.« Cassian nickte, er hatte von der engen Freundschaft zwischen seinem Vater und Harrys Mutter gehört. Aber er ahnte, dass noch mehr dahinter steckte.
»Während unserer Schulzeit wurde Mary von einem Slytherin-Schüler namens Mulciber angegriffen«, fuhr Severus fort, seine Stimme härter, als er den Namen des Angreifers aussprach. »Es war... eine schreckliche Tat. Er benutzte dunkle Magie, um sie zu verletzen, und sie hat sich nie vollständig davon erholt. Damals, als es passierte, habe ich es vor Lily heruntergespielt. Ich dachte, es sei nicht so schlimm. Und das...«, Severus' Stimme wurde brüchig, als er sich an diesen Moment erinnerte, »das hat unsere Freundschaft schwer belastet.« Cassian sah seinen Vater schweigend an, während er langsam begriff, wie tief diese Wunde saß.
»Später tat es mir unendlich leid«, fuhr Severus fort, seine Augen auf den Boden gerichtet. »Aber ich konnte es nicht ungeschehen machen. Es gab viele Dinge, die ich bereute... und Mary war eines davon.«
»Nach unserem Abschluss traf ich sie zufällig wieder. Es ging ihr sehr schlecht. Sie fand keine Arbeit, war körperlich und emotional erschöpft. Ich fühlte mich schuldig ... sehr schuldig. Und ich wollte etwas wiedergutmachen, auch wenn ich wusste, dass es nicht genug war.« Severus' Stimme war nun leise, fast tonlos.
»Ich half ihr ein wenig. Besorgte ihr eine Wohnung, eine Arbeitsstelle. Ich dachte, ich würde damit alles regeln können.« Cassian sah ihn aufmerksam an, die Spannung im Raum wuchs mit jeder weiteren Enthüllung.
»Es war keine Liebe zwischen uns«, sagte Severus leise, und seine Augen sahen in die Ferne. »Aber wir waren beide jung und verloren. Eines Nachts... nun, wir schliefen miteinander. Dabei wurdest du gezeugt, aber sie wusste es lange Zeit nicht. Ich hatte mich nach dieser Nacht nicht mehr um sie gekümmert. Ich dachte, ich hätte genug getan, um ihr auf die Beine zu helfen.« Er machte eine Pause, und Cassian schluckte schwer, als er realisierte, wie wenig er bisher über seine Herkunft wusste.
»Eines Tages«, fuhr Severus fort, »stand sie plötzlich mit dir in der Apotheke, in der ich arbeitete. Du warst nur ein Baby, kaum drei Monate alt. Sie hielt dich in ihren Armen, und ich wusste sofort, dass du mein Sohn warst. Es... war ein Schock.« Cassian konnte die schwere Schuld in der Stimme seines Vaters spüren, und ihm wurde bewusst, wie wenig er über die inneren Kämpfe seines Vaters gewusst hatte.
»Ich erkannte dich sofort als meinen Sohn an«, sagte Severus leise, »aber ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Ich hatte mein eigenes Leben und meine Ausbildung. Und Mary... sie war nicht in der Lage, sich wirklich gut um dich zu kümmern. Deshalb habe ich dich so oft wie möglich an den Wochenenden geholt, dich zu mir gebracht, bis ich dich schließlich ganz zu mir nahm.« Severus verstummte, und für einen Moment war nur das Knistern des Feuers zu hören. Cassian konnte sehen, wie schwer es für seinen Vater war, über diese Vergangenheit zu sprechen.
»Es tut mir leid, Cass«, sagte Severus schließlich, seine Stimme leise und voller Bedauern. »Ich hätte mehr für dich tun müssen. Und auch für Mary. Vielleicht wäre sie heute noch am Leben, wenn ich mehr für sie getan hätte.« Cassian fühlte, wie ihm die Kehle eng wurde. Er hatte nie gewusst, wie sehr diese Geschichte auch seinen Vater belastete.
»Dad... wie schon gesagt, du hast getan, was du konntest«, sagte er leise, und seine Stimme zitterte leicht. »Am Ende hast du mich gerettet.« Severus sah ihn an, und für einen Moment war es, als ob all die unausgesprochenen Emotionen zwischen ihnen im Raum lagen.
»Ich habe dich nie im Stich lassen wollen«, sagte er schließlich, und in seiner Stimme lag eine Ehrlichkeit, die Cassian tief berührte. Er nickte langsam.
»Ich weiß, Dad«, sagte er leise. »Und ich bin froh, dass du mich geholt hast. Wirklich.« Severus stand auf, ging zu Cassian und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich werde immer für dich da sein«, sagte er ernst. »Egal, was passiert.« Cassian lächelte schwach und nickte.
»Danke, Dad.« Severus ließ die Hand, die er auf Cassians Schulter gelegt hatte, langsam sinken. Für einen Moment schwiegen beide, in Gedanken versunken. Doch Severus, der stets ein Mann war, der nach Antworten suchte, konnte die Frage, die ihm auf der Zunge lag, nicht länger zurückhalten.
»Cassian«, begann er zögernd, sein Blick ruhiger, aber durchdringend, »du hast gesagt, dass Potter bei seinen Verwandten...« Er machte eine kurze Pause, als würde er nach den richtigen Worten suchen. »...dass es ihm dort schlecht ergangen ist. Ich habe dich schon einmal gefragt, aber du bist ausgewichen. Was genau weißt du über seine Zeit dort?« Cassian spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Er wusste, dass diese Frage noch einmal kommen würde. Sein Vater war niemand, der Unklarheiten duldete, schon gar nicht, wenn es um Harry Potter ging. Doch Cassian hatte Harry versprochen, sein Geheimnis zu wahren. Es war nicht seine Aufgabe, diese Geschichte zu erzählen, so sehr es ihn auch quälte, dass sein Vater die Wahrheit noch nicht kannte. Er hob den Kopf und begegnete Severus' forschendem Blick.
»Dad«, begann er vorsichtig, »ich weiß, dass du mehr wissen willst, aber ich kann dir nicht alles sagen.«
Severus' Augen verengten sich leicht, doch er blieb still, wartete, dass Cassian weiter sprach. »Es ist nicht meine Geschichte, die ich erzählen darf«, fuhr er leise fort. »Ich habe Harry versprochen, dass ich nichts weiter sage. Und ehrlich gesagt... vielleicht solltest du ihn selbst fragen.« Severus' Miene verhärtete sich, und für einen Moment herrschte Stille. Der Tränkemeister war es nicht gewohnt, dass jemand ihm auswich, vor allem nicht sein eigener Sohn. Doch gleichzeitig spürte er die Entschlossenheit in Cassians Worten und den Respekt, den er vor Harrys Geheimnis hatte. Das konnte er verstehen, auch wenn es ihn ärgerte, keine klaren Antworten zu bekommen.
»Selbst fragen?«, wiederholte Severus mit einem leicht sarkastischen Unterton. »Potter wird mir sicherlich nicht freiwillig von seinem Leben bei diesen Muggeln erzählen.« Cassian seufzte und zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht nicht sofort. Aber... vielleicht musst du es versuchen. Du wirst es nie erfahren, wenn du nicht fragst.« Severus schwieg einen Moment und musterte seinen Sohn mit nachdenklichem Blick. Er wollte nachhaken, mehr wissen, aber er sah die Entschlossenheit in Cassians Augen, die unmissverständlich war. Schließlich nickte er langsam.
»Gut«, sagte er leise. »Ich werde es in Betracht ziehen.« Cassian atmete innerlich erleichtert auf.
»Danke, Dad.« Severus nickte nur und setzte sich wieder in seinen Sessel, die Stirn in Falten gelegt. Cassian wusste, dass sein Vater die Sache nicht einfach ruhen lassen würde – nicht, wenn es um Harry Potter ging. Doch er war froh, dass Severus zumindest akzeptierte, dass er nicht derjenige war, der diese Geschichte erzählen sollte.
»Geh jetzt«, sagte Severus schließlich, seine Stimme etwas weicher. »Es ist bald Sperrzeit.« Cassian stand wieder auf, nahm seinen Umhang und ging langsam zur Tür. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal zu seinem Vater um.
»Gute Nacht, Dad«, sagte er leise.
»Gute Nacht, Cassian«, erwiderte Severus, doch seine Gedanken waren längst woanders. Ganz plötzlich wanderten seine Gedanken wieder zu dem Tag, als er seinen Sohn das erste Mal gesehen hatte.
Rückblick – Februar 1978
Es war ein kalter, windiger Tag in der Winkelgasse. Die düsteren Wolken hingen tief am Himmel, und ein feiner Nieselregen trieb durch die Straßen. Severus Snape war in Eile, wie so oft. Seine Arbeit in der Apotheke nahm ihn voll und ganz in Anspruch, besonders weil sie die Jahre in Hogwarts und seine eigenen Verluste vergessen machte. Die Winkelgasse war zu dieser Zeit seine Welt – eine Welt, die er zwar nicht liebte, aber die ihm zumindest eine gewisse Struktur und Ordnung gab. Er hatte Mary McDonald seit Monaten nicht mehr gesehen, vielleicht sogar ein ganzes Jahr, eher sogar länger. Nach jener Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, hatte er sich bewusst distanziert. Es gab keine Zukunft für sie beide, das war ihnen beiden klar. Was auch immer er für sie empfunden hatte, es war von Schuld und Mitleid getrieben, nicht von Liebe. Er hatte gehofft, dass sie ihren Weg machen würde, nachdem er ihr geholfen hatte, auf die Beine zu kommen. Doch er hatte sich getäuscht. An jenem verregneten Tag war er gerade auf dem Weg zurück zur Apotheke, als er plötzlich eine vertraute Gestalt vor dem Schaufenster stehen sah. Mary. Ihr abgemagerter Körper war in einen abgetragenen Wintermantel gehüllt, und in ihren Armen hielt sie ein Bündel – ein Baby. Severus blieb wie erstarrt stehen, als sie sich langsam zu ihm umdrehte. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen müde und ausgezehrt, und doch war da etwas in ihrem Blick, das ihn noch mehr erschreckte als ihre Erscheinung.
»Severus«, sagte sie leise, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, das vom Wind fortgetragen wurde. Ihre Arme zogen das Baby enger an ihre Brust, als wollte sie es vor dem Regen schützen. Severus starrte auf das Kind in ihren Armen, unfähig, sich zu rühren.
»Mary«, sagte er, und seine Stimme klang kälter, als er es beabsichtigt hatte. »Wer ist das?« Mary hob das Kinn leicht an und sah ihn direkt an, eine Entschlossenheit in ihren Augen, die ihm fremd war.
»Das ist dein Sohn, Severus«, sagte sie ruhig. »Cassian Lucian Snape.« Severus spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Sein Sohn. Das kleine Bündel, das Mary in ihren Armen hielt, war sein Sohn. Das Kind, das er nie geplant hatte, das er nie gewollt hatte, zumindest nicht in dieser Form. Mary trat einen Schritt auf ihn zu und zog das Tuch etwas zurück, das das Gesicht des Babys verdeckte.
»Ich habe ihm deinen Namen gegeben«, sagte sie leise. »Er sollte wissen, wer sein Vater ist. Er sollte den Namen seines Vaters tragen.« Severus blickte hinab auf das kleine Gesicht des Kindes. Der Junge sah ihn mit großen, dunklen Augen an, die ihn sofort an seine eigenen erinnerten. Ein Schauer durchfuhr ihn, als er in diese Augen blickte – so wachsam, so neugierig, und doch so unschuldig. Cassian. Sein Sohn.
»Warum kommst du jetzt damit zu mir?«, fragte er schließlich, seine Stimme rau und angespannt. »Warum hast du mir nicht früher gesagt, dass...« Mary unterbrach ihn mit einem müden Lächeln, das nichts von Freude hatte.
»Ich habe es selbst lange nicht gewusst«, sagte sie ehrlich. »Und als ich es herausfand... nun, ich dachte, du würdest dich nicht interessieren.« Severus fühlte, wie sich sein Kiefer anspannte. Es war, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Sein Sohn. Das Baby war klein, verletzlich – und gehörte ihm. Ein Teil von ihm. Es war nicht geplant, nichts davon, und doch stand er nun hier, gezwungen, sich dieser neuen Realität zu stellen. Jetzt, wo er vor seinem Sohn stand, fühlte er etwas, das er nicht erwartet hatte: Verantwortung. Eine tiefe, schwere Verantwortung, die ihm auf den Schultern lastete. Cassian Lucian, der Name hallte in seinem Kopf wider. Cassian – stark und dennoch ungewöhnlich. Lucian – klar, abgeleitet von »Licht«. Es passte nicht zu der Dunkelheit, die er in seinem eigenen Leben immer wieder gespürt hatte.
»Was willst du von mir?«, fragte er schließlich und zwang sich, die Worte auszusprechen. Mary schüttelte den Kopf, und ihr Blick wurde sanfter.
»Ich will nichts von dir«, sagte sie leise. »Aber er verdient es, dich zu kennen. Du hast mir geholfen, und dafür bin ich dir dankbar. Aber ich kann das nicht alleine.« Severus sah erneut auf das kleine Gesicht in ihren Armen. Das Baby rührte sich, machte einen leisen Laut, und etwas in Severus' Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Cassian Lucian Snape. Der Name klang seltsam in seinen Ohren, doch er wusste, dass es keine Flucht vor dieser Wahrheit gab.
»Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte Severus schließlich, seine Stimme hart, aber entschlossen. »Ich werde tun, was nötig ist.« Mary nickte langsam, ihre Augen glitzerten feucht. Sie wusste, dass Severus kein Mann vieler Worte war, aber in diesem Moment hatte er alles gesagt, was sie hören musste. Sie würde nicht ewig für Cassian da sein können, das spürte sie. Aber Severus – er würde sich kümmern. Ohne ein weiteres Wort nahm Severus das Kind vorsichtig in seine Arme. Der kleine Junge klammerte sich instinktiv an ihn, und zum ersten Mal spürte Severus die Last und das Gewicht seines Sohnes in seinen Armen. Es war eine Last, die er nie geplant hatte zu tragen, doch jetzt, in diesem Moment, wusste er, dass er sie nicht mehr ablegen konnte.
Cassian Lucian Snape – sein Sohn.
Rückblick Ende
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