36. Aufgegeben und vorbei
"Soll ich gehen?", fragt Rosalia mit einem leichten Schmollmund.
"Ich würde jetzt sagen nein aber ich schaue mal nach, wer das überhaupt ist."
Sie nickt verständnisvoll und ich laufe die Treppen runter, zur Tür. Mir stockt der Atem, als ich sehe, dass Amber in meinem Türrahmen steht. Mein Vater überlässt den Besuch mir und geht wieder zurück ins Wohnzimmer, wo gerade eine Sportsendung läuft. Ich gehe vorsichtig auf die Blondine zu.
"Hallo."
"Hallo ... Was möchtest du von mir?", will ich wissen aber auch nicht zu harsch direkt klingen.
Sie sieht kurz zur Seite, ehe sie mich mit ernster Miene wieder ansieht. "Das, vorhin im Krankenhaus ..."
Ihre Stirn beginnt sich zu runzeln, anstatt dass ihr Mund sich weiterbewegt und mir erklärt, was sie hier zu suchen hat. Woher weiß sie überhaupt wo ich wohne?!
"... Ich sage es nur ungern aber es hat mich nicht kalt gelassen, was du getan hast."
"Oh", platzt es erstaunt aus mir raus, "okay ..."
"Bilde dir jetzt aber auch nicht zu viel drauf ein, klar?!", zerstört sie abrupt den Moment. Diese Amber ist mir schon eher bekannt, als die von vor ein paar Sekunden.
"Nachdem du gegangen bist haben meine Eltern mich darüber aufgeklärt, was überhaupt ab geht. Nathaniel kann echt nerven und er ist der absolute Langweiler aber ich liebe ihn trotzdem. Er ist schließlich nicht nur mein Bruder, sondern auch mein Zwilling."
Ich habe all meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet und muss versuchen nicht umzufallen, weil ich kaum fassen kann, wie sie wie ein ausgewechselter Mensch vor mir steht und erzählt.
"Jedenfalls finde auch ich es ziemlich unfair Nathaniel für etwas das Wort gegeben zu haben und es dann plötzlich nicht mehr einzuhalten. Er hat immerhin nichts gemacht, dass dies berechtigt ist. Ich mag dich nicht, kann dich sogar gar nicht ausstehen, aber ich glaube schon, dass dir mein Bruder wichtig ist. Sonst wärst du nicht einfach so gegangen, hab ich recht?"
"J-Ja ... Ja, du hast recht."
"War mir klar."
"Und ... Warum bist du nun hier?"
Sie wirft mit beiden Händen ihr welliges Haar nach hinten und wuschelt sich einmal kräftig durch, bevor sie mir wieder in die Augen sieht. "Ich kann nichts ändern, falls du dir das erhofft hast. Wenn Daddy etwas entschieden hat, dann ist er auch nicht davon abzubringen."
Na super. Das ist nun wirklich nicht die Art von Neuigkeit gewesen, die ich hören wollte.
"Ich wollte dir aber sagen, dass er dein Verschwinden so aufgefasst hat, dass Nathaniel sich gar nicht weiter zu entscheiden braucht."
"Wie?"
"Boah ...", seufzt sie genervt, was mich seltsamerweise dumm fühlen lässt. "Nathaniel kriegt wohl seine Mündigkeit."
"Wirklich?" Sofort muss ich anfangen zu grinsen. Das ist das Beste, was sie mir jetzt sagen konnte!
"Aber!"
"Aber?"
Sie schüttelt mit dem Kopf, als würde sie mir damit sagen wollen, dass ich nicht so naiv sein soll. Mein Grinsen verschwindet genauso schnell wieder aus meinem Gesicht, wie es gekommen war.
"Da mein Vater für einige Tage noch im Krankenhaus bleiben muss, zur Beobachtung, wird sich das ganz schön weit nach hinten verschieben und so wie ich meinen Vater kenne, würde er es auch bringen, es so weit hinauszuzögern, bis Nathaniel Achtzehn ist. Mit Ausreden wie Geschäftsreisen oder sonstiges, was mit der Arbeit zutun hat."
"Du verarschst mich doch gerade", entgegne ich geschockt.
"Nein", antwortet sie ernst, "es scheint als würde ihn auch das Jugendamt nicht mehr einschüchtern."
"Gibt es denn keine offizielle Deadline, zu der Nathaniel für mündig erklärt sein muss?!"
"Was fragst du mich das?"
Sie hat recht ... Was frage ich sie das ...
"Keine Ahnung was und ob man was dagegen machen kann. Solange wird mein Bruder jedenfalls weiter bei uns wohnen, so viel steht fest."
"Na super ... Also sind wir jetzt wieder bei Null?"
"Wie gesagt, ich kenne meinen Vater und traue ihm das zu."
Ich könnte wieder anfangen zu heulen. "Und wo ist Nathaniel jetzt?"
"Noch immer im Krankenhaus. Meine Mutter und ich sind gegangen. Ich schätze er versucht da noch irgendwie etwas zu retten aber eigentlich ist es dumm von ihm, dass er das überhaupt versucht."
"Ist es nicht", zische ich zurück.
"Wie auch immer, mehr habe ich dir nicht zu sagen."
"Okay ... Dankeschön, dass du gekommen bist."
"Glaub jetzt bloß nicht dass wir Freunde sind oder sowas."
Ich verdrehe die Augen, während sie sich umdreht und meinen Türrahmen sowie unseren kleinen Vorgarten in Richtung Bushaltestelle verlässt. Ich schlage frustriert die Tür zu.
"HEY!", ruft mein Vater erbost darüber zu mir, doch ich ignoriere es.
"War das gerade echt Amber?!"
Rosalia steht mitten auf der Treppe und sieht mich angeekelt an. Ich nicke nur auf ihre Frage hin.
"Baaah! Was wollte die?"
Ich atme einmal schwer aus, wobei allerdings kein Ton entflieht. Ich gehe auf Rosalia zu, um schließlich die restlichen Stufen zu besteigen, die mich noch von meinem Zimmer trennen. Sie versteht auch ohne Worte, dass ich ihr das sofort erzählen werde. Ich muss mich dennoch erstmal hinsetzen ...
Am späten Abend habe ich noch immer nichts von Nathaniel gehört.
Ob ich ihn anrufen soll? Für Nachrichten ist der heutige Tag und dessen Geschehnisse wohl zu lang.
Ich beuge mich rüber zu meinem Nachttisch, um nach meinem Handy zu greifen. Als ich die Kontakte öffne und Nathaniels gefunden habe, halte ich inne.
Amber meinte, dass ihr Vater mein Verschwinden so aufgefasst hat, dass eine Entscheidung von Nathaniel nicht mehr nötig sei. Heißt das sein Vater denkt, dass ich damit Schluss gemacht habe? Um Gottes Willen ... Hoffentlich hat er das Nathaniel nicht auch noch eingetrichtert, falls er nicht ohnehin schon selbst auf diesen Gedanken gekommen ist. Ich halte es nicht mehr aus. Ich muss ihn anrufen!
Als ich dies tue und warte, dass er abnimmt, zieht sich mein Magen zu. Ich habe vorhin, beim Abendessen, kaum einen Bissen runterbekommen aber jetzt fühlt es sich so an, als könnte ich mich jeden Moment übergeben, weil mein Bauch so voll und leer zugleich ist.
"Lisa!", höre ich Nathaniels liebliche Stimme aus dem Hörer erklingen. Ein Glück!
"Nath!"
"Geht es dir gut?"
Ich lache leicht auf. "Das sollte ich eher dich fragen!"
"Naja, den Umständen entsprechend eben."
"Oh, Nathaniel ... Ich ..."
"Du brauchst mir nichts zu erklären."
"Abe-"
"Ich kann deinen Entschluss gut nachvollziehen."
"Welchen Entschluss? Wovon redest du?!"
"Du kannst nicht länger mit mir zusammen sein. Meine Familie wird dem immer im Weg stehen und das weißt du genauso gut wie ich. Dass du Weggelaufen bist bestätigt das nur."
"Nein! So ist es nicht!"
"Ehrlich, Lisa, du musst keine sanften Worte für mich finden."
"Ich wollte aber doch gar nicht ausdrücken, dass ich nicht mehr mit dir zusammen sein kann!"
"Nicht?"
"NEIN!"
Stille kehrt ein und sie zerfisst mich ab der ersten Sekunde. Mir ist noch schlechter als zuvor.
"Unsere Beziehung hat ein Enddatum."
"Was?!"
"Ich meine das ernst, dass das mit uns aufgrund meiner Familie nicht funktionieren wird."
"Nein, nein! Weißt du nicht mehr, was du mir mal gesagt hast? Es ist nicht unmöglich!"
"Ja, dein Berufswunsch vielleicht."
"Und unsere Beziehung genauso!"
So ein Idiot! Warum denkt er das nur?!
Ich bin den Tränen nahe.
"Ich liebe dich, Lisa."
Da passiert es: Die erste Träne entwischt meinem rechten Auge und ich kann sie nicht länger aufhalten, genauso wie die darauffolgenden.
"Glaub mir. Aber ich will dich nicht in dieses Unglück mithineinziehen. Dafür bist du mir viel zu wichtig. Ich möchte dich glücklich sehen und nicht so wie im Krankenhaus."
"U-U-Und ..."
"Bitte fang nicht an zu weinen ...", fleht er mit gequälter Stimme. "Das ist das Letzte, was ich erreichen will! Ich will dich doch nur beschützen ... Also hör bitte auf mich, wenn ich dir sage, dass es das Beste für uns beide ist, wenn wir nicht länger zusammen sind."
"D-Das ist nicht dein E-Ernst, oder? Oder?!", schluchze ich nun heftig.
"Lisa ..."
"Nein!"
"Du-"
"Nein, nein, nein, NEIN!"
"Ich tue das hier für dich, Lisa. Mir fällt das auch überhaupt nicht leicht. Ich dachte eigentlich du siehst dem Ganzen genauso entgegen aber scheinbar doch nicht ... Es tut mir unwahrscheinlich leid, dass wir das jetzt am Telefon ausmachen müssen."
"W-W-Wie kannst du-"
"Ich muss jetzt leider auflegen."
"Nein, d-das geht nicht!"
"Ich muss. Tut mir leid."
"N-Nathaniel!"
"Wir sehen uns in der Schule ..."
Ein lautes Geraschel ist zu vernehmen. Er legt tatsächlich auf. Mitten im Gespräch.
"WARTE!", schreie ich in das Mikro.
"Ja?"
"Ich liebe dich auch, Nathaniel."
Ich kann eine Art Schlucken hören und ein lauter werdendes Atmen, ehe das Besetzt-Zeichen aus dem Hörer erklingt und ich langsam mein Handy von meinem Ohr entferne. Er hat aufgelegt. Einfach so. Als ob es nichts wäre. Er hat gerade nicht wirklich mit mir Schluss gemacht, oder? Nein ... Nein, das kann er nicht getan haben. Das kann er nicht getan haben, nur weil er denkt, dass es das Beste für mich sei. Woher will er schon wissen was das Beste für mich ist?! Er ist das Beste für mich! Dieser verdammte Vollidiot! Ich dachte er wäre intelligent!
Ein Gemisch aus Wut und Trauer brodelt in mir auf. Ich lasse mich von den Gefühlen einnehmen und hole weit aus, um mein Handy mit voller Wucht gegen die Wand zu werfen. Scheißegal, ob das Teil nun kaputt ist.
Ich brauche es sowieso nicht mehr, wenn Nathaniel mir nicht mehr darauf schreiben oder mich anrufen wird.
Ich knicke ein und weine einfach weiter, ohne großartig weiter darüber nachzudenken. Mal leiser, mal lauter. Es wird schwerer zu Atmen. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Es ist entsetzlich aber seltsamerweise auch befriedigend, wenn ich es wirklich täte. Mit mittlerweile verschwommenen Augen blicke auf mein roségoldenes Armband. Vorsichtig nehme ich es ab.
L + N.
Dieses dämliche Herz ziert diese Initialien.
Unsere Initialien, Nathaniel!
Ich werfe es nicht gegen die Wand, wie ich es mit meinem Handy getan habe, da es mir, trotz meines Gefühlswirrwarr gerade, doch von viel zu hohem Wert ist. Ich lege es auf meinem Nachttisch ab, schalte das Licht aus und kuschle mich in meine Decke ein. Vermutlich kann ich nicht mal schlafen aber ich muss. Diese beschissene Schule. Dieser beschissene Tag morgen. Die ganzen weiteren beschissenen Tage, die noch folgen. Dieses beschissene Telefonat.
ALLES IST BESCHISSEN!
Nathaniel ...
Komm zurück ...
ENDE
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