Die letzte Nacht war grauenvoll. Von erholsamem Schlaf war überhaupt nicht die Rede.
Mit leicht erkennbaren Augenringen betrete ich die Klasse. Ich bin gerade noch so pünktlich.
"Lisa", spricht mich Mr. Faraize an, "bitte setz dich neben Kentin. Ihr arbeitet diese Stunde zusammen."
Es fällt mir nur schwer einen Seufzer zu unterdrücken, um den Brünetten, der bereits ungeduldig auf mich wartet, damit nicht indirekt zu beleidigen. Schlürfend begebe ich mich zu ihm. Auf dem Weg dorthin suche ich mit meinem verschlafenen Blick nach Nathaniel. Schlussendlich entdecke ihn neben Lysander sitzend. Die beiden unterhalten sich, scheinen aber dabei voll und ganz auf die Aufgabe konzentriert zu sein. Nathaniel hat wohl meinen Blick auf sich gespürt, denn er wendet für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit zu mir. Er lächelt warm. Ich lächle zurück.
"Guten Morgen", begrüßt mich Kentin charmant.
Ich sehe zu ihm, bevor ich mich auf dem Platz neben ihm niederlasse. "Hey."
"Ähm ... Ist irgendwas?"
"Nein", lüge ich halbwegs, "ich habe nur nicht gut geschlafen."
"Das sieht man dir an", lacht er leicht.
"Sehe ich so fertig aus?"
In trägenden Bewegungen packe ich meinen Collegeblock und irgendeinen Stift, der mir gerade zwischen die Finger rutscht, aus.
"Nein, du siehst gut aus."
Folglich sehe ich ihn verwundert an. Gleichzeitig fällt mir wieder ein, in welcher Situation ich ihn auf meiner Geburtstagsfeier aufgefunden habe.
"Sag mal", beginne ich zu flüstern. Er rückt ein wenig näher zu mir, mit seinem Ohr, und ich komme ihm mit meinen Lippen entgegen. Ich spüre einen Blick auf mir, während ich dies tue, und hoffe inständig, dass es nicht Nathaniels ist. Ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken. "Wie kam es eigentlich dazu, dass du und Alexy euch geküsst habt?"
Auf meine Frage hin rückt er blitzartig wieder von mir weg. Seine Augen sind geweitet, da er offensichtlich nicht damit gerechnet hat. Prüfend sehe ich ihn an, wobei ich meinen Arm auf dem Tisch, vor mir, ablege und meinen Kopf auf dessen Hand abstütze.
"W-Wovon ... Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst!", zischt er wütend.
"Versuch es nicht zu verleugnen", antworte ich Augen verdrehend, "ich habe euch zufällig dabei gesehen."
Seine Wangen erröten sich in Sekundenschnelle. "L-Lüg nicht!"
"Gleichfalls."
Er dreht sich mit seinem Gesicht weg von mir, schiebt mir aber das Aufgabenblatt zu, das wir bearbeiten sollen.
"Lenk nicht vom Thema ab", lache ich leise. Ich beuge mich mit dem Körper wieder etwas zu ihm, auch wenn er sich nur weiter von mir entfernt, bis es nicht mehr geht. "Du kannst mir doch vertrauen?"
"D-Das ist es n-nicht."
"Was dann?"
"I-Ich ..."
Ich tippe ihn an, mit der Absicht dass er mich seines Blickes würdigen soll. Das tut er schließlich wieder, jedoch bedrückter als zuvor.
"I-Ich mache gerade eine schwierige Zeit durch. Antwort genug?"
Überhaupt nicht.
Respektvollerweise akzeptiere ich letztlich seine Antwort und biete ihm an, dass er jederzeit zu mir kommen kann. Eine schwierige Zeit. Ob Alexy deshalb nicht so glücklich reagiert hat, als ich ihn darauf angesprochen habe? Kentins Antworten nach zu urteilen scheint er in einem ziemlich starken inneren Konflikt zu stecken.
Nach der letzten Stunde packen Nathaniel und ich unsere Sachen zusammen. Aus dem Augenwinkel sieht er mich immer wieder an, was nicht einfach so an mir vorbei geht, doch ich tue so als würde ich es nicht merken.
"Du bist ganz schön blass ... Geht es dir nicht gut?"
Sein besorgter Tonfall ist so liebenswert aber ich kann ihm nicht sagen, dass ich gerade viel lieber nachhause gehen würde, als mit ihm ins Krankenhaus. So unerwünscht wie ich von seiner Mutter bereits bin, kann das nicht gut gehen.
"Doch, alles bestens. Wo ist eigentlich Amber? Kommt sie nicht mit?"
Er mustert mich einen Augenblick, ehe er mit dem Kopf schüttelt. "Nein, nicht sofort. Ich habe vorhin, als du mit Rosalia in der Mensa warst, mit ihr darüber diskutiert, dass sie ihren Friseurtermin doch bitte verschieben soll. Sie hat mir versichert, dass das ganz schnell geht und dann würde sie direkt kommen."
"Ernsthaft jetzt?", frage ich schockiert. Sie ist doch Daddys kleiner Engel, wie kann sie da nicht sofort zu ihm wollen?
"Meine Mutter sieht das auch nicht so drastisch, da sie bereits bei ihm ist und ihr durch einen Anruf überbracht hat, dass es ihm soweit ganz gut geht."
Ich gebe keinen Kommentar dazu ab. Dass das ganz anders ausgesehen hätte, wenn Nathaniel an Ambers Stelle gewesen wäre, ist ihm wohl selbst klar genug.
Ich schwinge meine Tasche auf die Schulter und greife nach seiner Hand, nachdem er das Selbe mit seiner getan hat. Er lächelt. "Danke, dass du mitkommst."
Ich winke lachend ab. Sein Lächeln breitet sich weiter in seinem Gesicht aus.
"Lass uns gehen", schlage ich vor und warte gar nicht weiter auf eine Antwort von ihm, indem ich einfach losgehe und ihn hinter mir her ziehe.
"Warte!"
Bereits im Rahmen der Tür des Klassenzimmers zieht er mich zu sich zurück. Ich erschrecke durch die ruckartige Bewegung und finde mich fest umschlungen in seinen Armen wieder. Er kommt mir mit dem Gesicht immer näher, bis seine Lippen auf meine treffen. Ich spüre ein kleines Lächeln seinerseits unter diesem Kuss, was mich mit Glücksgefühlen erfüllt. Sanft drücke ich mich ein wenig gegen ihn, während sich unsere Lippen harmonisch miteinander bewegen. Ich würde am liebsten hier bleiben, die Tür verschließen und ihn weiter küssen, so lange ich will.
Mit der Auflösung unseres letzten Kusses bleibt dies nur eine Wunschvorstellung.
"I-Ich", stammelt er, "wollte dich noch einmal richtig küssen, bevor wir gehen."
Das Blut schießt mir in die Wangen, wobei ich ihn anlächle. "Gerne wieder!"
Hand in Hand begeben wir uns zum Krankenhaus. Je näher wir dem kommen, desto schlechter wird mir.
"Nathaniel?", frage ich unsicher.
"Ja?"
"Was denkst du, wie dein Vater reagiert, wenn er mich sieht?"
Er gerät ins Nachdenken. Sein Blick zeugt von aufkommender Besorgnis, wenn nicht sogar Angst. "Ich hoffe er nimmt es gut auf ..."
"Das hoffe ich natürlich auch ab-"
Sein Seufzen bringt mich dazu meinen Satz abzubrechen.
"Vielleicht war das doch keine so gute Idee", murmelt er, als würde er es nicht zu mir sondern sich selbst sagen.
Ich drücke seine Hand. Er richtet seine Augen wieder auf mich aus. "Vielleicht", lächle ich schief, "aber ich haue jetzt nicht ab und lasse dich alleine da rein gehen."
Im Endeffekt will ich jederzeit für Nathaniel da sein. Er soll Sicherheit dafür gewinnen, dass ich immer für ihn da bin. Zudem habe ich ihm das bereits mal gesagt und ich will somit auch dazu stehen.
All meine Zweifel von gestern Abend bis jetzt verfliegen gerade wieder. Endlich!
Wir gehen durch den Eingang des Krankenhauses und steuern direkt auf den Aufzug zu, der uns in das Stockwerk, in dem sich das Zimmer seines Vaters befindet, transportieren soll.
Ich drücke mit dem Zeigefinger den Knopf, der mit einer Fünf versehen ist, ein und die Türen schließen sich.
"Ich habe noch eine Frage an dich, Lisa."
"Oh, die wäre?"
Der Aufzug setzt sich in Bewegung.
"Ist alles wieder in Ordnung zwischen dir und Kentin? Ihr schient sehr vertraut in Geschichte."
"Ja", antworte ich Schulter zuckend, "ich denke schon."
Seine Augen verfestigen sich auf mir.
"Okay", gibt er schließlich von sich.
"Das ist aber kein Problem für dich, oder?" Ich sehe ihn zögernd an.
Er verneint dies mit einem Kopfschütteln, wobei er leicht grinst. "Solange du nur mir gehörst."
Der Aufzug hält an und wir steigen aus. Wie kann er mir jetzt, kurz bevor wir seine Eltern sehen, sowas süßes sagen? Mir ist schon wieder ganz warm ... Ich muss meine Gefühle mal unter Kontrolle kriegen.
Nur ein paar Schritte weiter sind wir bei der richtigen Zimmernummer angekommen. Nathaniel klopft an die Tür und nickt mir noch einmal Mut zusprechend zu. Ich lächle nickend zurück.
"Herein", hört man seine Mutter antworten.
Er drückt die Türklinke runter und wir betreten den Raum. Diesmal geht keiner von uns vor, sondern wir gehen gleichzeitig rein. Der Gesichtsausdruck seiner Mutter sagt schon alles, als sie mich sieht. Sein Vater hat ebenfalls den Kopf zu uns gedreht, doch ich bin bereits so erschrocken von dem Todesblick der Mutter, dass ich dies nur aus dem Augenwinkel erkenne.
"Guten Tag", begrüße ich beide eingeschüchtert.
Nathaniel geht langsam auf seinen Vater zu. "Hallo Papa."
"Hallo", antwortet er grummelig.
"W-Wie geht es dir?"
"Ganz gut bis jetzt."
Nathaniel dreht sich zu seiner Mutter: "Hat der Arzt noch etwas Neues zu berichten gehabt?"
"Es sieht so aus als wären wir noch einmal mit einem Schrecken davon gekommen."
"Das muss aber nicht so bleiben", fügt Francis in ernster Stimmlage hinzu.
"Dennoch gute Neuigkeiten", staunt Nathaniel und lächelt leicht.
Ich stehe noch immer unbeholfen im Raum rum. Ich hätte seinem Vater einen Blumenstrauß mitbringen sollen oder etwas in der Art, so mache ich bestimmt einen schlechten Eindruck. Ich bin so eine Idiotin!
"Lisa", spricht mich Adelaide an, während sie sich aus dem Stuhl, in dem sie bislang saß, erhebt. "Dürfte ich dich darum bitten mir einen Kaffee zu holen?"
"Natürlich", antworte ich wie aus der Pistole geschossen.
"Mit einem Schuss Milch und zwei Zuckerstücken."
"Alles klar", lache ich schief. Besser als das ging es nicht.
Ich will gerade den Raum verlassen, da wirft Nathaniel ein: "Warum schickst du sie? Ich mache das!"
"Nein!", gibt ihm seine Mutter klar und deutlich zu verstehen.
Nathaniel sieht noch einmal zu mir zurück, dann wieder zu seiner Mutter.
Ich öffne die Tür und gehe raus aus dem Zimmer.
Nach einigen Minuten der irritierten Rumlauferei habe ich einen Kaffeeautomaten gefunden. Ich tippe alles ein, wie es Adelaide gewünscht hat, und warte darauf, dass der Kaffee in den Pappbecher einfließt. Ungeduldig lehne ich mich an das große Gerät an. Komisch eigentlich, dass Nathaniels Mutter sich mit diesem Billiggetränk zufrieden gibt. Mir würde das völlig ausreichen, wenn ich denn Kaffee mögen würde, aber ich komme auch nicht aus wohlhabenden Verhältnissen. Vielleicht ist ihr Bedürfnis nach Koffein aber auch so groß, dass sie diese Qualität einfach hinnimmt. Das Getränk beginnt den Flüssigkeitsbehälter zu füllen. Währenddessen sehe ich nach links und rechts. Niemand zu sehen, nicht mal eine Schwester. Apropos Schwester, Amber müsste auch bald hier sein. Als würde ein Todesblick nicht schon reichen. Mit etwas gedämpfter Stimmung nehme ich den gefüllten Pappbecher raus aus der Maschine und mache mich auf den Weg, zurück zu Francis' Zimmer.
Kurz bevor ich dort ankomme, sind bereits laute Stimmen zu vernehmen. Ich überspringe den Part des Anklopfens und betrete direkt den Raum.
"Das könnt ihr nicht von mir verlangen!", schreit Nathaniel schon fast.
"Du hättest eben auf deine Mutter hören sollen!"
Adelaide macht beruhigende Handbewegungen. "Francis, überanstreng dich nicht."
Mit langsamen Schritten, den Kaffee festumklammernd, gehe ich auf die Drei zu.
"Es war alles abgesprochen!", klagt mein Freund weiter, "Es hätte für uns alle ein gutes Ende gegeben!"
Ich halte seiner Mutter den Kaffee hin. Statt ihn anzunehmen, schlägt sie ihn mir aus der Hand. Erschüttert sehe ich auf die Pfütze, die dadurch entstanden ist, dann zu ihr.
"Dieses Gesöff trinke ich doch nicht", belehrt sie mich. Sie verschränkt abwertend die Arme vor der Brust.
"A-Aber ..."
"Nathaniel, entweder oder", mahnt ihn sein Vater, "etwas dazwischen gibt es nicht."
Ich sehe Nathaniel an, der erkennbar aufgebracht zu Boden sieht. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, seine Arme angespannt.
"Entscheide dich", fordert Francis.
Seine Mutter macht ihm ebenfalls Beine: "Auf der Stelle."
Nathaniel sieht zwischen seinen beiden Eltern hin und her, bevor er endlich zu mir sieht. Ich will wissen, was hier vorgeht.
"Deine Mündigkeitserklärung oder deine Freundin", erinnert ihn sein Vater.
Mir klappt die Kinnlade runter. Das soll er nicht wirklich hier und jetzt entscheiden, oder? Das muss ein schlechter Scherz sein!
"Nun sprich endlich, Junge!"
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