3. Gemeinsamkeiten
"Das hast du nicht wirklich zu ihm gesagt, oder?", fragt mich Rosalia lachend und ich schäme mich in Grund und Boden. Eigentlich wollte ich mein merkwürdiges Verhalten von gestern nur für mich behalten aber ich habe noch so viel darüber nachgedacht, sodass ich nicht anders konnte. Jetzt bereue ich es wieder ein wenig.
"Du versüßt mir den Morgen mit deiner witzig, komischen Art!"
"Das freut mich gar nicht, Rosa."
"Ich dachte immer, dass du viel zu viel nachdenkst und dir sowas nie im Leben passieren könnte aber anscheinend schaltest du das aus, wenn du verknallt bist."
Ich seufze. Ich bin nicht in Nathaniel verknallt. Das wäre mir sowieso viel zu kompliziert, da er bereits eine Anwärterin hat: Melody. Sie ist Klassensprecherin und assistiert Nathaniel öfters im Schülersprecherraum, dabei schmachtet sie ihn nebenbei heimlich an, wenn er gerade nicht hinsieht. Sie ist so ziemlich die Einzige, die in irgendeiner Weise eine Verbindung zu ihm hat. Ich persönlich finde sie ganz nett aber würde sie nicht unbedingt zu meinen Freunden zählen, als Feindin würde ich sie auch ungern gewinnen. Ich schätze sie als etwas unberechenbar ein, wenn es um ihren Traumprinzen geht.
Angekommen an meinem Spind, legt Rosalia ihre Hand auf meiner linken Schulter ab und versucht mich aufzumuntern: "Hey, das kann doch jedem mal passieren. Er wird sich schon nicht viel dabei gedacht haben, womöglich hat er es jetzt sogar schon wieder vergessen. Ich meine, so viel wie er an einem Tag neues erlernt, da ist sicher nicht viel Platz für die Worte einer etwas zerstreuten Lisa."
Ich hole mein Geschichtsbuch raus und sehe sie an. Ich stimme ihr mit einem Nicken zu. Sie weiß, was zu sagen ist, damit es einem besser geht.
Nachdem ich meinen Spind wieder verschlossen habe, gehen wir in die Klasse und setzen uns auf unsere Plätze.
Ich bemerke direkt, dass Nathaniel und Melody noch nicht da sind, was aber auch nicht gerade unauffällig ist, wenn sie genau gegenüber von Rosalia und mir sitzen.
Die Schulglocke ertönt und gleichzeitig kommen Alexy, Armin, Castiel, Amber, Charlotte, Li, Melody und Nathaniel in den Klassenraum. Nur Alexy und Armin begrüßen uns, der Rest geht stumm weiter zu seinen Plätzen. Unsicher darüber, ob ich Nathaniel vielleicht begrüßen sollte, sehe ich ihn kurz an und unsere Blicke treffen sich. Aus irgendeinem Grund verspüre ich ab diesem Augenblick schlagartig Druck und entscheide mich, einfach wieder wegzuschauen. Immerhin kann ich so nichts unüberlegtes tun.
Mr. Faraize betritt den Raum und begrüßt uns: "Guten Morgen, Schüler!"
Noch völlig neben der Spur von der üblichen Müdigkeit begrüßen ihn nur eine Handvoll von Schülern zurück. Er zieht eine Schnute, womöglich sieht er bereits voraus, dass diese Geschichtsstunde nicht sehr belebt von Mitarbeit sein wird.
"Fangen wir an. Wer kann mir etwas über den ersten Weltkrieg erzählen?"
Sofort erhebt sich meine Hand in die Höhe, um meine Vorsätze für das neue Schuljahr in die Tat umzusetzen.
"Bitte, Lisa."
"Der erste Weltkrieg ging von 1914 bis 1918. Dabei sind circa 17 Millionen Menschenleben ums Leben gekommen."
"Ja, das ist richtig aber kannst du auch noch etwas tiefer ins Detail gehen?"
"Okay ..." Ich überlege für ein paar Sekunden und fahre fort: "Er begann am 28. Juni 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien und endete am 11. November 1918 mit ..."
Ich gerate ins Grübeln.
"Mit ... Mit ... "
Das darf doch nicht wahr sein! Es will mir einfach nicht einfallen. Mit aller Anstrengung versuche ich mich zu erinnern, da hebt sich auch schon Nathaniels Hand.
"Nathaniel! Vielleicht kannst du ihr ja auf die Sprünge helfen."
"Ja, das kann ich. Der erste Weltkrieg endete am 11. November 1918 mit dem Waffenstillstand von Compiègne, der einen Sieg aus der Triple-Entente hervorgegangenen Koalition bedeutete. Des weiteren beteiligten sich 40 Staaten am umfassendsten Krieg der Geschichte und dabei standen insgesamt annähernd 70 Millionen Menschen unter Waffen."
"Danke, Nathaniel. Das reicht fürs Erste, sonst nimmst du mir noch den Unterrichtsstoff für diese Stunde vorweg", lacht Mr. Faraize und Nathaniel stimmt mit ein. Und wo ist der Dank für meinen Beitrag? Anscheinend nicht vorhanden, weil Nathaniel es besser gemacht hat, als ich. Hätte ich mir denken können, dass sobald ich ins Stocken gerate, er mich mit seinem Wissen in den Schatten stellt. Genervt stütze ich mit dem Arm meinen Kopf auf dem Tisch. Meine Motivation ist gerade ein Stück zurückgegangen. Nathaniel ist für mich eine starke Konkurrenz im Unterricht. Um das zu ändern, müsste ich es ihm gleich tun: Lernen, lernen, lernen. Leichter gesagt als getan.
Ich verbringe die Mittagspause mit Kentin. Wir tauschen unser Obst, meinen Apfel gegen seine Birne. Früher war das eine Art Ritual bei uns, da unsere Mütter sich noch nie merken konnten, welches Obst wir mögen und welches nicht. Bei allem anderen wissen sie immer genauestens Bescheid, nur in dieser Sache nicht. Zum Glück können wir uns gegenseitig Aushilfe verschaffen.
"Du sahst vorhin, im Unterricht, etwas verärgert aus. Habe ich das richtig gesehen?", erkundigt er sich und beißt in den Apfel. Ich schaue zu Boden. Eigentlich ganz schön bescheuert, dass ich tatsächlich Nathaniel hätte verfluchen können, nur weil er besser und schlauer ist, als ich.
"Ja ... Ja, das hast du gut erkannt."
"Kann ich verstehen", nickt er mit einem kleinen Lächeln, "unser Schülersprecher hat in Sachen Bildung schon einiges auf dem Kasten. Da ist es schwer gegen anzukommen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass er sehr viel dafür tut und nicht einfach damit geboren wurde."
Ich muss ebenfalls anfangen zu lächeln, da Kentin einfach Recht hat und meine Reaktion im Unterricht etwas lächerlich war. Ich hoffe, dass das nicht mehrere mitbekommen haben.
"Aber, Lisa, mach dir nichts draus. Lass dich dadurch nicht entmutigen, einen guten Abschluss kannst du auch mit einem Typen wie Nathaniel in einer Klasse bekommen." Ich will gerade mit dem Essen meiner Birne fortfahren, da fügt er noch hinzu: "Ich glaube an dich!"
Ich sehe ihm in die Augen. Er besitzt ein strahlend grünes Paar davon, die einen ganz schön fesseln können. Wenn man nicht aufpasst, hat man sich schon darin verloren. Ich spüre, wie mein Gesicht anfängt sich zu erwärmen.
"Danke", antworte ich mit einer eher leisen aber sanften Stimmlage und er grinst mich an.
Während ich mit Kentin weiter esse, schaue ich mich auf dem Schulhof um. Ich sehe Castiel, wie er etwas versteckt an der Mauer eine Zigarette raucht und dabei mit Lysander, seinem besten Freund, spricht. Lysander verkörpert einen Gentleman, wie man ihn sich vorstellt aber er ist auch sehr schweigsam. Er redet nicht viel über sich und mag auch keine Neugier, weswegen ich auch noch nicht mit ihm viel gesprochen habe. Ähnlich wie bei Nathaniel, nur dass ich kein Problem damit hätte, wenn es bei Lysander und mir auch so bleibt. Ich kann noch immer nicht verstehen, warum ich völlig aus dem Nichts gerne mehr über Nathaniel erfahren würde.
Als ich mich weiter umschaue, entdecke ich Amber mit Charlotte und Li auf einer Tischtennisplatte sitzen. Sie lachen, womöglich weil sie mal wieder am lästern sind. Viel mehr können die Drei auch nicht. Es ist unglaublich, dass Amber Nathaniels Zwillingsschwester ist, unterschiedlicher als Tag und Nacht können sie nicht sein.
Ein paar Meter weiter neben ihnen stehen Rosalia, Alexy und Armin. Ich verbringe entweder mit ihnen oder Kentin die Pausen, manchmal sind wir aber auch alle beisammen. Alexy zeigt mit dem Daumen hinter sich, auf die Tür, die zum Schulgang führt. Das lässt mich daran erinnern, dass Pausen ja auch ein Ende haben. Als hätte Kentin den selben Gedankengang wie ich gehabt, werfen wir gleichzeitig einen Blick auf unsere Uhren.
"Vielleicht sollten wir uns auf den Weg zurück zur Klasse machen?", schlägt er vor und ich stimme ihm zu. Ich esse die meine Birne auf und sehe, wie Kentin bereits auf die Tür zusteuert.
"Ich gehe die unverdaulichen Reste meiner Birne noch wegwerfen", rufe ich ihm hinterher und drehe mich um, um zum nächsten Mülleimer zu gehen. Da knalle ich plötzlich gegen jemanden Großes und stoße mir den Kopf. Sofort kneife ich die Augen zu, als der Schmerz blitzartig einsetzt und halte mir die Stirn fest. Ich bekomme zwei dementsprechend große Hände auf die Schultern gelegt, wobei ich gesagt bekomme: "Vorsicht, du musst aufpassen!"
"Ja", antworte ich mit leicht gequälter Stimme, "tut mir echt leid, ich hätte nicht gedacht, dass ich so tollpatschig bin."
Ich sehe auf, um zu erkennen, wen ich da mit meinem Kopf angegriffen habe, wie ein Rammbock. Ich treffe dabei auf Nathaniels scheinbar besorgten Gesichtsausdruck. Es ist gerade mal der zweite Schultag und es kommt mir so vor, als wäre er überall.
"Mir ist nichts passiert aber dir anscheinend. Geht es mit deinem Kopf?"
"J-Ja. Danke."
"Du kannst ruhig ehrlich sein, dann gehen wir ins Krankenzimmer!"
"Ach Quatsch, mir geht's gut."
Er sieht mich prüfend an, ehe er mich dann los lässt und wir uns gleichzeitig ein paar Zentimeter wieder voneinander entfernen. Er nimmt mir den Stiel meiner Birne aus der Hand und wirft sie in den Müll, der nur zwei Schritte weiter hinter ihm steht. Ich bedanke mich dafür und finde es doch ziemlich beachtlich, wie höflich er ist. Erst mein heruntergefallenes Buch und jetzt die Überreste meiner Birne. Warum macht er das? Ich will es wissen.
"Warum hast du das getan?"
"Naja, du bist gerade gegen mich gelaufen und das war auch nicht nur deine Schuld, also wollte ich meine begleichen, indem ich dein Vorhaben von gerade einfach schon für dich erledige."
"Okay ... Danke nochmal."
"Gerne."
Wir begeben uns gemeinsam zurück zur Klasse. Ehe ein peinliches Schweigen überhaupt ausbrechen kann, beginnt er ein neues Gespräch: "Du scheinst sehr ehrgeizig zu sein."
Ich zucke leicht mit den Schultern. "Joa, ich gebe mein Bestes."
"Das habe ich gemerkt. Deine Antworten auf die Fragen der Lehrer, in den letzten beiden Stunden, waren informativ und du verfügst über einen guten Ausdruck."
Das von ihm zu hören, schmeichelt mir seltsamerweise.
"Danke, Nathaniel. Mit dir kann ich aber noch lange nicht mithalten. Du bist ganz schön begabt."
"Joa, ich gebe mein Bestes." Ein leises Lachen gibt er von sich, nachdem er mir diesen Satz, von vorhin, nachgesprochen hat. Wir nähern uns unserem Klassenraum.
"Aber dass du ehrgeizig bist ist gut", bekennt er, "daran sollte es keinem Schüler fehlen. Man kann nicht immer alles richtig machen aber der Wille zählt ... Wir haben wohl etwas gemeinsam."
Bei seinem letzten Wort sehe ich ihn direkt wieder an. Er und ich haben etwas gemeinsam? Unseren Ehrgeiz in der Schule? Ich weiß gar nichts darauf zu antworten, damit habe ich nicht gerechnet. Scheinbar verunsichert ihn das auch.
"A-Also ... So sehe i-ich das. Du kannst das natürlich ganz anders sehen."
Er wendet seinen Blick von mir wieder ab. Ihn mit meiner Stille zu verunsichern war nicht meine Absicht.
"Nein, nein! So sehe ich das auch. Vielleicht ist das ja auch nicht das Einzige, was wir gemeinsam haben."
"Ja, v-vielleicht." Diesmal erkenne ich es deutlich, obwohl er mich nicht ansieht. Seine Wangen erhalten einen rötlichen Ton. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich das sehe. Er war mir von Anfang an sympathisch aber errötet habe ich ihn noch nicht gesehen. Das macht ihn nochmal sympathischer, für mich. Vermutlich weil mir das auch nicht gerade selten passiert.
Noch eine Gemeinsamkeit.
Überraschend wendet er sich mit seinem Blick doch nochmal zurück zu mir. Er sieht auf meinen Mund, der noch immer zu einem Lächeln geformt ist und lächelt zurück, wobei er seine Augen wieder auf meine ausrichtet. Ich klopfe an die Tür, in der Hoffnung dass Mr. Faraize nicht schon da ist ... Aber eigentlich hätte ich es gerade am liebsten, dass keiner öffnet. Ich würde mich gerne länger mit Nathaniel unterhalten und mehr Gemeinsamkeiten herausfinden.
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