Kapitel 5
„Du weißt genau, wie sehr ich diesen Job brauche! Bitte!" Mein Chef, oder besser gesagt mein ehemaliger Chef, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und bedachte mich mit einem mitleidigen Blick. Aber von seinem Mitleid konnte ich mein College nicht bezahlen. „Nein. Soll ich es dir buchstabieren, Natalia? Nein." Die Wut in mir wuchs mit jedem seiner Worte an. Wieso konnte mein Vater einfach meinen Job kündigen, obwohl ich doch schon achtzehn Jahre alt war? Irgendwas lief hier falsch - und zwar auf meine Kosten. Wieso versuchten alle mir das Leben zu zerstören? „Ich bin achtzehn, Toran! Achtzehn! Und ich arbeite seit einer Ewigkeit hier. Mein Vater hat kein Recht dazu, einfach meinen Job zu kündigen und du musst diese Kündigung erst recht nicht annehmen." - „Aber er hat ihn gekündigt. Was der Sheriff sagt, ist Gesetz."
Nun verschränkte auch ich meine Arme vor der Brust und musterte Toran. Was war sein Problem? „Er ist der Sheriff in einer verdammten Kleinstadt und nicht der scheiß Präsident", erwiderte ich und war selbst ein bisschen erschrocken, wie viele Flüche ich in einen Satz bekam. Wenn Belle hier gewesen wäre, wäre sie mächtig stolz auf mich. Jedes zweite Wort von ihr war ein Fluch, zumindest gefühlt. Ihr war es nie verständlich gewesen, warum ich nicht fluchte. „Gerade deswegen. Willkommen in der Kleinstadt, wo die Regeln von Leuten gemacht werden, wie deinem Vater."
Mittlerweile hatte ich einen üblen Verdacht, warum mein Vater einfach kündigen konnte. Er hatte Zugang zu Akten, von denen einige mit Sicherheit geheim bleiben sollte. Was für ein erpresserisches Arschloch. Der General war kein schlechter Mensch, auch hatte ich noch nie mitbekommen, dass er mehr Sachen preisgab, als er durfte. Geschweige denn jemanden erpresste. Gleichzeitig wusste ich auch, dass er für jemanden alle seine Regeln, seine Werte brechen würde: seine geliebte Tochter. Trotz dass ich mir alldem bewusst war, war ich nicht weniger sauer. Eher noch mehr. Warum glaubte er, mich beschützen zu müssen und dafür seinen Job zu gefährden?
„Er erpresst dich! Natürlich. Deshalb lässt du das zu. Was hast du gemacht, Toran?" Die Augen meines Gegenübers weiteten sich und er trat einen Schritt auf mich zu. Zum Glück kannte ich ihn lang genug, um zu wissen, dass er ein absolut guter Mensch war. Ansonsten hätte ich mich mit diesem minimalen Abstand ziemlich bedrängt gefühlt und wäre vermutlich vor Angst gestorben. Was mir meinen Job nicht wiederbringen würde; hier und jetzt zählte mein Durchhaltevermögen. „Was bist du? Ein Detektiv oder was? Lass es einfach darauf beruhen." Seine Stimme war erstaunlich ruhig, aber ich konnte erkennen, dass sein Körper bebte. Gott, was war bloß mit dem los? „Ich bin nur ein Mädchen, das ihren Job wiederhaben will, um auf das College ihrer Träume zu kommen", erklärte ich ihm sachlich. Er fuhr sich einmal durch sein halblanges blondes Haar und trat dann einen großen Schritt zurück, seinen Blick richtete er konzentriert auf den Boden.
„Ich muss die Kündigung deines Vaters annehmen. Es tut mir leid Natalia." Kurz hob er seinen Kopf wieder an und bedachte mich mit seinen grünen Augen eines traurigen Blickes. „Was hast du getan, Toran?", wiederholte ich meine Frage stur, ohne auf seine Entschuldigung einzugehen. „Vielleicht kann ich dir helfen", fügte ich noch schnell hinzu. Was ich selbst irgendwie bezweifelte - gegen den General konnte ich nur verlieren. „Wirst du gehen, wenn ich es dir sage und du feststellst, dass mir niemand helfen kann?" Einen Moment lang zögerte ich, nickte dann jedoch. Wahrscheinlich war es meine Neugier - vielleicht auch die Einsicht, dass ich hier nicht weiterkam. Nicht Toran musste ich überzeugen, sondern meinen Vater. Toran öffnete seinen Mund, doch ich unterbrach ihn schnell. „Wenn ich dir nicht helfen kann und gehen muss... darf ich wieder zur Arbeit kommen, wenn mein Dad die Kündigung zurücknimmt?"
Der Mann nickte augenblicklich. „Selbstverständlich. Du bist hier jederzeit willkommen, sobald dein Vater aufhört, mir zu drohen. Mit der Geschichte... Also ich bin erst vor fünf Jahren nach Evanston gezogen, als ich 22 alt war. Davor hab ich in Chicago gelebt. Eine ziemlich große Stadt, in der man sich schnell unbedeutend fühlen kann. Ich war krank. Sehr schlimm. Die Woche bevor ich weggezogen bin, brach die Krankheit aus mir heraus. Ich kann dir nicht erklären, was passiert ist. Aber ich bin eines Morgens aufwacht und dann lag da dieses tote Mädchen neben mir und überall war Blut. Ich weiß nicht, was ich getan habe. Wahrscheinlich will ich es auch gar nicht wissen... Meine Eltern sind sehr reich. Sie haben alle möglichen Leute gekauft, um den Tod des Mädchens als Selbstmord abzustempeln. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich habe keine Ahnung und-" Mir wurde schlecht. Zeitgleich bekam ich Angst vor dem Menschen, den ich zu kennen geglaubt hatte. „Du hast jemanden umgebracht?", fragte ich fassungslos. Was ist, wenn er wieder krank war? Vielleicht lag ich falsch mit Mason, vielleicht hatte Toran Belle umgebracht. Die beiden hatten sich schließlich gut gekannt, manchmal hatte ich das Gefühl, sie kannten sich zu gut. Besonders wegen des Altersunterschiedes.
„Nein. Ja. Ich weiß nicht. Natalia, ich hoffe du weißt, dass ich dir das nur erzähle, weil ich dir vertraue. Und weil du die Tochter des Sheriffs bist und es sowieso herausfinden würdest, wenn ich es dir nicht erzählt hätte."
⚖
Eine Stunde später saß ich schweigend mit Alexander im Auto, auf dem Weg zu einer Straftat, die unser Leben zerstören konnte. Aber Alexander hatte Recht gehabt - Belles Leben war genauso zerstört worden, sie hatte keine Chance auf eine Zukunft. Also warum sollte ich meine nichts auf Spiel setzen können? Für sie, die jederzeit alles für mich aufs Spiel gesetzt hätte. „Du bist dir wirklich sicher, dass du die Akte holen willst? Wenn du erwischt wirst-", riss Alexander mich aus meinen Gedanken und warf mir einen kurzen Blick zu. „Ich werde nicht erwischt, wenn du Officer Basner richtig ablenkst", fuhr ich ihn an, was mir augenblicklich leid tat. Schließlich konnte er nichts für meine Anspannung. „Du kannst dich auf mich verlassen."
Danach war es wieder still und meine Gedanken rankten sich wieder um Toran und seine Geschichte. Umso länger ich darüber nachdachte, desto mehr fielen mir Momente ein, wo Belle und Toran sich merkwürdig verhalten hatten. Doch ich hatte es nie beachtet - Belle war schließlich mit Mason zusammen. Und auch wenn ich ihn absolut scheiße fand, war Belle ein treuer und guter Mensch. Sie würden das Arschloch nicht betrügen und erst Recht nicht mit meinem fast 10 Jahre älteren Chef, was ziemlich illegal war. Dafür konnte Toran in den Knast wandern.
Aber was war wenn ich mich all die Zeit geirrt hatte? Was war, wenn meine beste Freundin mehr Geheimnisse hatte, als ich bisher dachte? Und was war, wenn Belle die Beziehung aufliegen lassen wollte? Vielleicht hatte Toran sie deshalb umgebracht. Seine Eltern hatte schon einmal einen Mord wie einen Selbstmord aussehen, vielleicht hatte sie das wieder getan. Eine andere Theorie von mir war, dass Mason es herausbekommen hatte und Belle deshalb umgebracht hatte. - Nur hatte er nicht die finanziellen Mittel, um jegliche Behörden zu bestechen.
„Alter Talia! Wo bist du denn heute mit deinen Gedanken?" Erschrocken drehte ich mich zu Alexander um, der leicht schmunzelte. „Entschuldigung", murmelte ich leise und sah aus der Frontscheibe, nur um festzustellen, dass wir vor der Polizeiwache standen. Es war so weit. Ich war nur noch wenige Minuten von der Wahrheit entfernt. „Siehst du das Auto da vorne?" Ich deutete mit meinem Kopf auf das einzige andere Fahrzeug auf dem Parkplatz, welches dem Officer Basner gehörte. Alexander nickte. „Da fährst du mit deinem Wagen rein. Dann wirst du zum Officer laufen und ihm sagen, dass du in sein Auto gefahren bist. Währenddessen gehe ich in die Polizeiwache und suche Belles Akte. Den Schlüssel dafür habe ich heute Morgen meinem Vater entwendet, der heute in Chicago ist, wie jeden Donnerstag." - „Spinnst du?! Das ist illegal." Fast schon belustigt schnaubte ich auf. „Und in eine Polizeistation einbrechen nicht?"
Damit schien er überzeugt zu sein. Ich spürte, wie ein Ruck durch den Wagen ging. Dann fuhr Alexander in den schicken Neuwagen vom Officer herein. „Denk an die Kopien", sagte Alexander, zeitgleich schaltete er den Motor ab. Gemeinsam verließen wir den Wagen, während er direkt in die Polizeiwache hereinging, betrat ich die Station durch den Notausgang. Von meinem Vater wusste ich, dass das Schloss und die Kamera nur Attrappe waren, schließlich passierte in Evanston nie etwas.
So leise wie möglich schlich ich mich in das Gebäude direkt zu dem Aktenraum, der nun unbewacht war. Lediglich am Empfang saß noch eine Dame, die Notrufe entgegen nahm, allerdings trennten uns über drei Türen. Noch ein Vorteil am Seiteneingang - ich war genau da, wo ich hin musste. Mit pochendem Herzen schloss ich die Tür vor mir auf und schlüpfte in den muffig riechenden Raum hinein, der von oben bis unten voll mit Akten war. Einmal hatte einer der Officers mit das System erklärt, um mich von der Tatsache abzulenken, dass mein Vater gerade einen lebensgefährlichen Einsatz durchführte. Aus diesem Grund hatte ich die Akte ziemlich schnell gefunden.
Noch während ich zum Kopierer lief, schlug ich sie auf. Genau in dem Moment, in dem ich am Kopierer ankam, fiel mir die Information ins Auge, nach der ich so verzweifelt gesucht hatte. In dieser Akte stand schwarz auf weiß, dass Belle kein Selbstmord begangen hatte. Sie war erstickt - zwei Meter unter der Erde. Jemand hatte sie in einer Holzkiste begraben.
Und ich würde diesen Jemand finden.
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