Kapitel 27
Ich nahm einen Schluck von meinem heißen Kaffee, während ich wieder einmal nach der Uhrzeit sah, was ich ständig tat, seit ich in dem Café angekommen war. 16:49 Uhr. Wenn Jesse überhaupt pünktlich kommen würde, müsste ich noch elf lange Minuten warten. Seit dem weiteren toten Mädchen, das man gestern gefunden hatte, hatte ich pausenlos über Mason nachgedacht. Immer wieder war ich in meinem Kopf durchgegangen, welche Möglichkeiten ich hatte, um ihn aufliegen zu lassen. Das ganze am besten natürlich, ohne mich selbst in Lebensgefahr zu begeben. Aber selbst das war mir mittlerweile egal. Ich wollte nur, dass die Morde endlich aufhörten - und ich wollte, dass Belle endlich ihre Ruhe finden konnten.
Ein weiteres Mal ließ ich meinen Blick durch das Café gleiten. Es war groß, zumindest größer als Torans. Die Einrichtung wirkte wie aus einem Möbelkatalog und die Lampen erzeugten eine perfekte Helligkeitsstufe. Normalerweise hasste ich diese großen, unpersönlichen Caféketten, doch Torans Café, das Jesse erst vorgeschlagen hatte, kam nicht in Frage. Außerdem erschien mir ein unpersönlicher Ort genau das richtige für unser Treffen, schließlich hatte das hier pragmatische Gründe. Alexander hatte den ganzen Tag darauf bestanden, es als Date zu bezeichnen. Für mich war es das überhaupt nicht. Allerdings freute ein kleiner Teil von mir sich darüber, dass er offenbar nicht ganz einverstanden damit war. Er hatte mir seine Gefühle eindeutig genug gesagt, damit ich mir keine Hoffnungen machte, ein kleiner Teil meines Herzens tat es trotzdem.
„Hey, du bist ja schon da." Mein Blick wanderte zu Jesse, der am Tisch aufgetaucht war und mich mit einem schiefen Grinsen betrachtete. Er war bewaffnet mit einer kleinen Tafel Schokolade sowie mit einer einzelnen Rose, die einen schönen, warmen Orangeton aufwies. Für einen winzigen Moment war es mir unangenehm, doch ich ermahnte mich selbst, mich auf das Ziel zu konzentrieren, bevor ich mich wieder in negativen Gefühlen verlor. Etwas unbeholfen stand ich auf und umarmte Jesse kurz. Sein Körper strahlte eine unglaubliche Wärme aus, die mir ein Gefühl von Geborgenheit gab. Dennoch löste ich mich schnell wieder aus der Umarmung, damit es nicht zu persönlich wurde. Man konnte das hier fast als geschäftliches Treffen betrachtet. Er nahm gegenüber von mir Platz, ehe er einen Blick auf meinen Kaffee warf. „Wartest du schon lange? Ich dachte wirklich, ich würde vor dir hier ankommen." Schnell schüttelte ich den Kopf, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Ich war bestimmt schon seit einer Stunde hier.
„Ich habe dir etwas aus Chicago mitgebracht." Er schob die Schokolade sowie die Rose zu mir herüber. Dabei sah er genauso unbeholfen aus, wie ich mich vor wenigen Momenten noch gefühlt hatte. „Du weißt, dass das hier kein Date ist, oder?", brachte ich nach wenigen Sekunden hervor, anstatt mich einfach zu bedanken. Wenn Belle hier gewesen wäre, hätte sie mich ordentlich an den Schultern geschüttelt... Am liebsten hätte ich es selbst getan. Jesse war mit seinen kurz geschorenen Haaren, den grünen Augen und dem schiefen Grinsen unglaublich attraktiv. Außerdem war er ganz offensichtlich ein lieber Kerl, der auch noch ein wenig Interesse an mir zu haben schien. Sonst hätte er nicht zugesagt. Zum ersten Mal in meinem Leben interessierte sich jemand für mich, dann auch noch jemand wie Jesse und ich? Ich war hoffnungslos in Alexander verliebt, der noch immer meiner besten Freundin hinterhertrauerte. Belle. Ich musste mich zusammenreißen, für sie.
Obwohl es mir schwerfiel, sah ich dem Jurastudenten weiterhin fest in die Augen. „Ach nein?", fragte er noch, ohne dass das Grinsen in seinem Gesicht verschwand. „Nein. Ich muss etwas herausfinden." Er lehnte sich auf seinen Stuhl ein ganzen Stück nach hinten und nahm einen Schluck von dem Kaffee, dem ihn eine Kellnerin vor wenigen Augenblicken auf den Tisch gestellt hatte. „Du bist also Detektivin?" - „Kann man so sagen." Der Begriff klang lächerlich für den Aufwand, den ich bereits betrieben hatte. Wenn Jesse von den ganzen Sachen nur wüsste, wäre er wahrscheinlich nicht einmal aufgetaucht. „Okay. Und was willst du herausfinden?"
Ich atmete einmal tief durch und sah mich kurz um, um mich zu versichern, dass kein von Masons Freunden hier war. Schließlich wollte ich nicht in das Visier des Mörders geraten. „Es geht um Mason." Das Grinsen aus seinem Gesicht verschwand nun doch, während er die Augen leicht zusammenkniff. Es tat mir fast ein wenig leid und ich musste daran denken, wie Alexander mich als Herzensbrecherin bezeichnet hatte. „An dem Abend auf der Party ist er mit einem Mädchen verschwunden. Kam er danach wieder? Weißt du, wie lange er weg war?" Mir wurde erst bewusst, wie das klang, nachdem ich es ausgesprochen hatte. Mein Gegenüber schien sichtlich erstaunt über die Richtung, die das Gespräch angenommen hatte. Trotzdem hielt er meinen Blick stand.
„Bist du so eine kranke Stalkerin, oder was?" Eine so direkte Frage hatte ich nicht erwartet. Ich wollte schon verneinen, doch konnte ich Jesse wirklich vertrauen? Was passierte, wenn er Mason davon erzählte, was ich tat? Ich konnte ihm einfach nicht vertrauen, daher antwortete ich gar nicht. Er sollte denken, was er denken wollte, so lange er meine Fragen beantwortete. Ich musste Masons Alibi zerstören. „Okay, mir reichts. Ich gehe. Evanston, immer eine Reise wert." Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, hatte er fünf Dollar auf den Tisch geschmissen und war verschwunden. Das war ja ganz toll gelaufen...
⚖
Ich lag in meinem Bett und betrachtete nachdenklich die Tafel Schokolade und die Rose, die auf meinem Schreibtisch in einer Vase stand. Hatte ich ihn falsch und unfair behandelt? Wahrscheinlich. Im Café war ich mir meiner Sache noch sicher gewesen, doch mittlerweile fühlte ich mich schrecklich. Den ganzen Abend spielte ich schon mit dem Gedanken, ihm den wahren Grund für mein Interesse an Mason zu schreiben. Ich würde es aber nicht tun - nicht solange er nicht hinter Gittern saß. Auch wenn ich keine Ahnung mehr hatte, wie ich ihn ins Gefängnis bringen sollte. Mir waren alle Ideen ausgegangen, wie ich die Sache angehen sollte.
Resigniert seufzte ich auf und schaute auf mein Handy. Die einzige Nachricht, die ich nach dem Treffen geschrieben hat, galt Alexander. Ich hatte ihn von dem unglaublichen Fiasko berichtet und wartete seitdem auf eine vernünftige Antwort, was wir nun tun sollte. Irgendwas musste ich doch tun. Um mich ein wenig von meinen düsteren Gedanken abzulenken, kontrollierte ich in einer App die Standorte meiner Eltern. Es war die Idee meiner Mutter gewesen, dass wir die Standorte für den jeweils anderen freischalten. Am Anfang hatte ich das übergriffig gefunden, doch mittlerweile beruhigte es mich fast ein wenig. Meine Eltern waren - wie zu erwarten - beide auf ihrer jeweiligen Arbeit: mein Vater auf der Polizeistation und meine Mutter im Krankenhaus. Ich fühlte mich nicht wohl bei dem Gedanken, die ganze Nacht alleine Zuhause zu sein. Wahrscheinlich war das auch der Grund dafür, warum ich trotz der bereits nächtlichen Uhrzeit nicht schlafen konnte.
Ich legte mein Handy wieder weg und schloss meine Augen, in dem erneuten Versuch, endlich Schlaf zu finden. Genau in dem Moment hörte ich es. Ein kratzendes, fast schon schleifendes Geräusch im unteren Flur. Mein Puls schnellte sofort in die Höhe und ich spürte, wie die Angst mir die Luft zuschnürte. Ich musste mir das eingebildet haben, oder? So leise wie es mir nur möglich war, richtete ich mich in meinem Bett auf. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde das Geräusch und mein Herzschlag lauter. Mein Handy lag auf den Nachtschrank, doch ich wagte es nicht, jemanden anzurufen. Intuitiv wusste ich, dass er es war. Der Mörder. Hatte Jesse Mason vor mir gewarnt? Ihm dürfte klargewesen sein, dass ich ihn nicht stalkte, weil ich ihm so unglaublich toll fand. Und nun war er hier um mich zu holen. So wie er die anderen geholt hatte.
Im nächsten Augenblick war mein Kopf wie leergefegt. Jemand kam die Treppe herauf, die zu meinem Zimmer führte. Er ließ sich Zeit, jede einzelne Treppenstufe auszukosten. Im Hintergrund hörte ich noch immer dieses schreckliche, schleifende Geräusch. Mein Brustkorb zog sich zusammen und mein Atem beschleunigte sich. Die Angst ließ meine Gliedmaßen taub werden. Ich hätte schreien können, ich hätte weinen können. War das mein Ende? Er hatte schon vier Mädchen getötet, er würde bei mir keine Ausnahme machen. Wenn ich es richtig hörte, müsste er mittlerweile beim oberen Drittel der Treppe angekommen sein.
Die Waffe.
Es war der erste Gedanken, den ich zu fassen bekam. Hastig, aber trotzdem leise, sprang ich auf die Füße und öffnete den Nachtschrank. Meine Hände zitterten, als ich die Waffe in die Hand nahm. Mit der anderen Hand setzte ich mir meine Brille auf. Meine Augen waren schon lange an die Dunkelheit gewöhnt gewesen, da ich schon ein paar Stunden wach im Bett gelegen hatte.
Adrenalin schoss durch meinen ganzen Körper. Es war das einzige, was mich aufrecht hielt. Auf Zehenspitzen lief ich zu meinem Schreibtisch und stellte mich davor - und somit direkt gegenüber von der Tür. Er würde mich genauso schnell sehen, wie ich ihn. Aber er hatte keine Schusswaffe, sodass ich schneller war. Zumindest hatte er bisher keine gehabt, was war, wenn er jetzt eine hatte? Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken.
Für eine winzige Sekunde verklangen die Schritte auf der Treppe, ehe er offenbar auf meine Zimmertür zulief. Nur noch wenige Augenblicke. Ich wusste genau, dass ich nur einen Versuch hatte.
Leben oder Sterben?
Immer mehr Tränen liefen über mein Gesicht, doch ich schaffte es dennoch irgendwie, meine Waffe zu entsichern. Das automatische Klacken klang in meinen Ohren so laut und ich betete, dass er es nicht gehört hatte.
Leben oder Sterben?
Die Tür öffnete sich erst einen winzigen Spalt. Er wusste genau, was er tat. Angst einjagen.
Leben oder Sterben?
Ich entschied mich für das Leben. Mit einem Ruck stieß er meine Zimmertür komplett auf.
Leben oder Sterben?
Ohne mich zu versichern, dass es nicht doch ein Unbeteiligter war, schoss ich. Ohne zu zielen, schoss ich ein weiteres Mal.
Ich hörte, wie etwas klappernd zu Boden fiel und ein schwerer Körper stöhnend auf den Boden aufprallte. Da ich mich versichern musste, dass er nicht im nächsten Moment wieder aufstand, schaltete ich das Licht der Schreibtischlampe an. Sofort erhellte sie den Raum und ich hörte ein erneutes schmerzerfülltes Stöhnen.
Den Lauf meiner Waffe auf seinen Körper gerichtet, ging ich langsam auf ihn zu. Die Statur kam mir bekannt vor. Er lag mit dem Rücken zu mir. Ich konnte erkennen, dass er aus einer Schusswunde auf Höhe der Hüfte blutete. Unmengen an Blut.
Das Adrenalin ließ nach, jetzt wo ich ganz offenbar nicht mehr in Lebensgefahr war. Was blieb war die blanke Angst und die Erinnerung an das Geräusch, den der Spaten erzeugt hatte, als er ihn noch hinter sich hergezogen hat. Nun lag seine Waffe vor ihm auf den Boden. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, schob ich den Spaten mit meinen Füßen ein ganzes Stück beiseite.
Es fiel mir immer schwerer, Luft zu bekommen. Trotzdem näherte ich mich mit kleinen Schritten demjenigen, der meine beste Freundin und drei weitere jungen Frauen auf dem Gewissen hatte. Es musste einfach Mason sein.
Endlich stand ich so nah bei ihm, dass ich ihm seine schwarze Kapuze aus dem Gesicht ziehen konnte. Zeitgleich sprang ich wieder ein ganzes Stück zurück, falls er versuchen würde, nach mir zu greifen. Doch er hatte unlängst sein Bewusstsein verloren.
Ich sah ihn an - und es riss mir wortwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Immer mehr Tränen fanden ihren Weg über meine Wangen, während meinen Puls raste.
Ich hatte den Mörder von Belle angeschossen.
Ich hatte Alexander angeschossen.
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