Kapitel 26
Angespannt ging ich in unserem Wohnzimmer auf und ab, während ich darauf wartete, dass mein Vater endlich auftauchen würde. Nach dem Telefonat, das schon mehrere Stunden zurücklag, war ich sofort nachhause geeilt, hatte alle Türen fest verriegelt und zerbrach mir den Kopf darüber, was er mit der ‚Postkarte des Mörders' gemeint haben könnte. Insbesondere stellte ich mir eine Frage: Hatte der Mörder ein weiteres Mädchen umgebracht? Ich hielt es für unmöglich, dass bei den ganzen Polizeibeamten in Evanston ein weiterer Mord einfach so passieren konnte. Tief in meinem Inneren wusste ich jedoch, dass ihn die Polizisten nicht abhalten würde. Vermutlich würde er sie eher als eine Art Herausforderung betrachten. Mittlerweile ging ich dem Mörder schon lange nach, versuchte herauszufinden, wer er war und warum er all das tat. Und obwohl ich die wichtigsten Fakten noch nicht kannte, hatte ich dennoch das Gefühl, ihn zu kennen.
„Neue Nachrichten aus Evanston." Augenblicklich blieb ich abrupt stehen und starrte auf den Fernseher, der wie so oft in letzter Zeit einen Lokalsender abspielte. Wenn Evanston es erneut in die Nachrichten geschafft hatte, konnte die Nachricht entweder nur besonders gut oder besonders schlecht sein. Einen albernen Moment verspürte ich Hoffnung in mir, dass die Polizei den Täter vielleicht endlich gefasst hatte. „Die Mordserie geht weiter." Die Nachrichtensprecherin sah aus wie immer. Jedes ihrer rötlichen Haare war genau an der Stelle, wo es sitzen sollte und ihr Make-Up war makellos aufgetragen. Ihre grüne Bluse warf keine einzige Falte und sie sprach, ohne jegliche Emotionen in ihrer Stimme. Doch meine Welt hatte sie – abermals – komplett verändert.
Ich stolperte zum Sofa und begann sofort mit meinen Atemübungen, die meine Mutter mir bereits als Kind gezeigt hatte, um Panikattacken zu vermeiden. Ausnahmsweise wurde mein Blick auch nicht von den Tränen getrübt, sodass ich das Bild, das neben der Sprecherin auftauchte, glasklar erkennen konnte. Für einen winzigen Moment stoppte ich sogar mit meinen Atemübungen. Ein blondhaariges Mädchen lächelte mich an – das Mädchen, dass Mason am Partyabend auf sein Zimmer gebracht hatte. „Lesley Birningham ist bereits das vierte Opfer des Serienmörders in Evanston. Die Polizei hat ihre Leiche vor etwa einer Stunde gefunden. Offenbar konnte das Mädchen nur gefunden werden, weil der Polizei einen anonymen Hinweis erhielt. Momentan würde man vermuten, der Hinweis käme vom Täter selbst."
Die Panik der letzten Tage war mit einem Mal verschwunden. Sogar die Trauer, die mein ständiger Begleiter geworden war, spürte ich nicht mehr. Ich fühlte nichts, aber ich wusste etwas. Ich wusste, dass Mason gerade noch eine Spur verdächtiger geworden war. Nein, eigentlich war ich mir sogar sicher, dass Mason der Mörder sein musste. Erst wurde Belle getötet, die nur wenige Tage vorher eine Verfügung gegen ihn erwirkte, und nun das Mädchen, mit dem er auf seiner Party etwas gehabt hatte. In welcher Verbindung die anderen zwei Mädchen zu ihm standen, wusste ich nicht. Ich vermutete allerdings eine ähnliche Vergangenheit bei allen. Schließlich war der Schönling mit den eiskalten Augen dafür bekannt, ein Aufreißer zu sein. Seine Mörderidentität hingegen schien nicht allzu bekannt zu sein.
Schnell griff ich nach meinem Handy, um meinen Vater anzurufen und ihn auf Masons Spur zu bringen. Noch während ich jedoch nach seinem Kontakt suchte, öffnete sich die Haustür. „Ich weiß, wer es ist. Es ist Mason, Dad!", überfiel ich meinen Vater sofort überschwänglich, der mich überrascht ansah. Er fuhr sich durch das schüttere Haar und mir wurde wieder einmal bewusst, wie sehr ihm diese Situation zusetzte. Nicht nur seine Augenringe, die sogar mit meinen konkurrierten, ließen ihn fürchterlich aussehen. Mein Vater hatte gleichermaßen an Gewicht und Haltung verloren, selbst seine Grübchen sahen aus, als wären sie eingefallen. Als hätte er seit Jahren nicht mehr gelächelt.
„Wie kommst du darauf?", fragte er fast schon desinteressiert. Zeitgleich ging er in die Küche und wärmte sich die Reste der gestrigen Pizza auf. Wahrscheinlich war das menschliche Bedürfnis nach Nahrung der einzige Grund für seine Heimkehr. Trotzdem musste ich mit ihm über seine Arbeit sprechen. Selbst hier Zuhause hatte er davon keine Ruhe. „Belle hat wenige Tage vor ihrem Tod eine Verfügung gegen Mason erwirkt. Und das Mädchen, Lesley. Als ich auf seiner Party war, habe ich sie zusammen in sein Zimmer gehen sehen. Das kann doch kein Zufall sein, oder?", sprudelte es aus mir heraus, wobei ich ihm ganz bewusst Details verschwieg, wie ich Lesley und Mason begegnet war.
Mein Vater seufzte nur genervt, holte die Pizza viel zu früh aus der Mikrowelle und biss davon ab. „Vielleicht ist es genau das, Natalia. Evanston ist eine Kleinstadt mit 70.000 Einwohnern. Was meinst du, wie viele Mädchen es in seinem Alter an seiner Schule gibt, mit denen er vögeln kann?" Langsam wurde ich wütend, was nicht an der ungewohnt vulgären Sprache meines Vaters lag. Er nahm mich einfach nicht ernst, dabei war ich mir dieses Mal hundertprozentig sicher. Außerdem waren dieses Mal nicht meine mit mir durchgehenden Nerven an der Beschuldigung schuld, so wie es vorher im Café von Toran gewesen war. „Woher willst du das wissen?", hakte ich mit etwas lauterer Stimme nach.
„Ich kenne Mason seit Jahren und ich kenne die Familie seit Jahrzehnten. Er ist kein Unschuldslamm, aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass jemand, den wir kennen, zu so etwas fähig. Er wurde nicht geschlagen, er hat keine Tiere im Kindergarten getötet. Wir haben keinen Psychopathen groß werden sehen, sondern einen ganz normal Jungen!" Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust, während ich weiterhin mit jeder Sekunde wütender wurde. So wütend auf meinen Vater war ich nicht mehr gewesen, seit ich herausgefunden hatte, dass Belles Vater die Wache, die unter seiner Aufsicht stand, korrumpiert hatte... Eine solche Erklärung konnte ich nicht akzeptieren. Sie war auch völlig bescheuert, was ihm bewusst sein musste. Dennoch versuchte ich es auf einem anderen Weg, da ich um die Sturheit meines Vaters wusste.
„Was ist mit der Postkarte? Der Hinweis vom Mörder? Zeig ihn mir. Ich kenne seine Schrift und kann sie identifizieren!" Mein Vater schlang den letzten Bissen der kalten Pizza herunter, bevor er antwortete. „Das ist eine laufende Polizeiermittlung. Ich kann nicht einfach meiner Tochter irgendwelche Beweisstücke zeigen. Ich muss jetzt wieder zur Arbeit, wir reden später, in Ordnung? Und schlag dir das mit Mason aus dem Kopf. Denk einfach gar nicht über den Mörder nach. Nachher begibst du dich selbst noch in Gefahr." Ohne mich auch nur mit einem weiteren Blick zu bedenken, ging mein Vater aus der Küche auf die Haustür zu.
Ich startete einen letzten verzweifelten Versuch, ehe er wieder zur Arbeit verschwinden konnte. „Du glaubst also wirklich, dass ein Psychopath nicht unter deinen Augen aufwachsen konnte? So wie ein Serienkiller nicht vier Mädchen unter deinen Augen töten konnte?" Er erstarrte in seiner Bewegung und ich wusste, wie weit ich damit unter die Gürtellinie gegangen war. So wie ich meinen Vater kannte, gab es keine Sekunde, in der er sich nicht selbst die Schuld an allem gab. Das schlechte Gewissen, das ich erwartet hatte, blieb jedoch aus. Ich fühlte weiterhin nichts, außer vielleicht die Wut auf meinen Vater.
Er holte seine Diensthandy aus seiner Brusttasche und hielt es mir vor mein Gesicht. „Fürs Protokoll: Ich zeige dir die Beweise wieder nur, damit du nicht in die Polizeiwache einbrichst und unser wichtigstes Beweisstück stiehlst." Triumphierend musterte ich das Foto, das eine Postkarte von einem tiefen Nadelwald zeigte, der hier in der Form nicht existierte. Über die Bäume war mir krakeliger Schrift ‚Ihr seht immer auf die falsche Seite' vermerkt und da hinter standen Koordinaten.
Irgendetwas war mit dieser Postkarte.
Verzweifelt dachte ich nach und die Stimme meines Vaters nahm ich nur am Rande wahr. „Er hat sie dieses Mal auf der anderen Seite des Waldes begraben. Die Streife hält immer nur in den Abschnitten unmittelbar der ersten drei Fundorte Ausschau. Er wusste das. Natürlich wusste er das." In dieser Sekunde fiel es mir auf. Die Schrift kam mir bekannt vor, ich wusste nur nicht mehr woher – obwohl das auf der Hand lag. Es musste einfach die von Mason sein.
„Und? Erkennst du die Schrift oder darf ich wieder gehen?" – „Geh ruhig. Wahrscheinlich habe ich ihn wirklich falsch verdächtigt. Die Schrift kenne ich nicht." Eine weitere Lüge. Ohnehin war es egal, was ich meinem Vater erzählte, denn offenbar nahm er meinen Verdacht eh nicht ernst. Ich würde ihn Morgen darauf hinweisen, sobald ich mich mit Jesse traf und Masons Alibi für die Mordnacht von Malia wiederlegen könnte. Bis dahin musste ich es bloß schaffen, Mason aus dem Weg zu gehen...
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