Kapitel 20
Mit zittrigen Händen schloss ich die Haustür hinter mir und warf einen Blick auf mein Handy. Die Ausgangssperre war schon vor einer halben Stunde in Kraft getreten, dennoch hatte uns niemand auf dem Rückweg aufgehalten. „Natalia, zum Glück bist du schon Zuhause." Meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer, eine dampfende Tasse Tee in der Hand. Sie lächelte mich an, ehe ihr Blick zu Alexander glitt. Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Alexander." – „Mrs. Sullivan." Höflich nickte er ihr zu und sah anschließend mich an. Verdammt. Ich hatte Alexander vorgeschlagen, dass er noch mit zu mir kommt, damit wir alles in Ruhe besprechen konnten. Ich war davon ausgegangen, dass meine Eltern beide bei der Arbeit sein würden und hatte dabei meinen kleinen Zusammenbruch heute Vormittag verdrängt, wegen dem meine Mutter sich frei genommen hatte. „Wir müssen noch kurz ein Referat für Montag besprechen." Mit ihren braunen Augen musterte sie mich argwöhnisch. „Um halb Elf?" Zugegeben, es war keine gute Ausrede gewesen. Statt mir eine plausible Begründung einfallen zu lassen, fing ich an, zusammenhangslose Wörter zu stammeln. „Schon gut, Natalia." Fast schon gebieterisch hob sie ihre Hand. „Geht ruhig nach oben. Aber vergesst nicht, dass ich die ganze Zeit im Raum nebenan bin." Zum dritten Mal an diesem Abend schoss die verräterische Röte in mein Gesicht und zum dritten Mal verfluchte ich sie. Dennoch schenkte ich meiner Mutter ein kurzes Lächeln. „Wenn dein Vater Nachhause kommt, sollte Alexander verschwunden sein", rief sie mir noch hinterher, während ich, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hochging.
Ich war erleichtert, als Alexander und ich endlich in meinem Zimmer waren. Um sicher zu gehen, dass meine Mutter nicht reinplatzte, schloss ich die Zimmertür ab. Sie wäre furchtbar sauer, wenn sie wüsste, warum Alexander wirklich hier war. „Das war ein wenig unangenehm", bemerkte Alexander spitz und ließ sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder, zeitgleich ließ ich mich auf mein Bett fallen. Die Erschöpfung, die ich unter anderem dank des Adrenalins verdrängt hatte, überrollte mich förmlich. „Talia, wir sollten wirklich darüber reden." Mit aller Kraft setze ich mich auf und sah ihn an. Langsam wurde mir bewusst, dass er sich nicht auf das Treffen mit meiner Mutter bezogen hatte, sondern vielmehr auf den Kuss. Das Thema, das wir während des Rückweges gemieden hatten. Um ehrlich zu sein, wäre es mir lieber gewesen, wenn wir das Thema für immer gemieden hätten. „Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Es erschien mir wie die einzige Möglichkeit, damit Mason nicht misstrauisch wird." Ich winkte ab. „Ich weiß. Alles gut." – „Nein, es ist nicht alles gut. Ich weiß, dass du", er stockte kurz und ich wandte meinen Blick von ihm ab. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich hoffte auf das bodenlose Loch, das sich unter mir öffnen sollte. „Sieh mich an." Wiederwillig sah ich zu ihm, direkt in seine blauen Augen, die den gleichen Farbton wie Masons hatten. Dennoch waren sie so anders, sie wirkten nicht so kalt, sondern eher sanft. „Ich weiß, dass du Gefühle für mich hast. Deshalb war es absolut falsch von mir. Ich will nicht, dass du dir Hoffnungen machst. Du weißt, dass ich Belle geliebt habe und ich kann sie noch nicht loslassen, Natalia. Das verstehst du doch, oder?" Das verstand ich zu gut... Obwohl ich genau das die ganze Zeit über gewusst hatte, tat es unglaublich weh, es von ihm zu hören. Der Schmerz schnürte mir die Kehle zu und ich brach abermals den Blickkontakt ab, da ich das Mitgefühl in seinem Blick einfach nicht mehr ertrug. Außerdem wollte ich nicht, dass er sah, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Verfluchte Gefühle. „Wir haben das für Belle getan."
Um mich von meinen Gefühlen abzulenken, sah ich nun zu der Wand, die bedeckt war mit Fotos von Belle und mir. Fast augenblicklich spürte ich, wie der Schmerz ein wenig nachließ. Wir haben das für Belle getan. Es half ihr nicht, wenn ich hier nun aufgelöst in meinem Zimmer saß. Ich würde sie nicht enttäuschen. „Ich weiß. Hast du was gefunden?" Meine Stimme klang viel gefasster, als ich es erwartet hatte. „Nein, leider nicht. Und du?" Ich schüttelte resigniert den Kopf. „Meinst du denn, wir würden noch etwas finden, wenn wir das ganze Haus durchsuchen könnten?" Alexander und ich hatten, nachdem Mason uns erwischt hatte, die Party fluchtartig verlassen. Es war also durchaus möglich, dass wir dort noch irgendetwas finden konnten. „Eventuell." Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wusste ich um Masons Unschuld. Er war ein totales besitzergreifendes Arschloch, mit Sicherheit war er aber kein Mörder. Jetzt hatte ich es doch getan. Ich hatte Belle enttäuscht – meine Verdächtigen waren mir ausgegangen.
„Ja, eventuell. Vielleicht sollten wir eine Nacht darüber schlafen. Morgen können wir uns etwas überlegen, okay?" Zustimmend nickte ich. „Und jetzt lass uns was Lustiges machen, wir sind schließlich Freunde und es ist Samstag. Hast du Filme hier?" Freunde. Wir waren Freunde. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, einen Film mit Alexander zu schauen. Dennoch deutete ich auf das Regal neben meinen Schreibtisch, das vollgestopft mit Büchern und ein paar DVDs war.
⚖
Ein Hämmern an der Tür riss mich unsanft aus meinem Schlaf. Augenblicklich war ich hellwach, sah erst zur Tür und dann zu Alexander, der seelenruhig auf dem kleinen Sofa auf der anderen Seite des Raumes schlief. Oh nein. „Natalia Sullivan! Wenn du nicht sofort die Tür aufmachst, schwöre ich dir, dass ich sie aufbreche." Die Stimme des Generals wurde durch die Tür gedämpft, dennoch konnte ich hören, wie aufgebracht er war. Panik machte sich in mir breit und ich tastete nach meiner Brille, die ich eigentlich immer auf dem Nachtschrank liegen hatte. „Falls du deine Brille suchst, die hast du auf." Offenbar war ich doch noch nicht so hellwach, wie ich angenommen hatte... Alexander war ebenfalls von dem Tumult, den mein Vater veranstaltete, aufgewacht und grinste mich verschmitzt an. Ihn erfüllte die Situation offenbar nicht so mit Panik wie mich. Dabei gab es auch eigentlich keinen Grund für Panik. Wir hatten ein paar Filme geschaut und waren dabei irgendwann eingeschlafen. „Natalia!" Er hämmerte erneut gegen die Tür. Ich sprang auf die Füße, eilte zur Tür und drehte den Schlüssel. Keine Sekunde später stand mein Vater in meinem Zimmer, ausnahmsweise Mal nicht in seiner Uniform.
„Oh zum Glück geht's dir gut." Seine Stimme war ruhiger und sehr zu meiner Überraschung schloss er mich in eine feste Umarmung. „Ich glaube, ich sollte gehen." Ruckartig löste mein Vater sich von mir und sah Alexander mit großen Augen an. Seine Gesichtszüge entglitten ihm, weshalb ich vermutete, dass er gar nichts von seiner Anwesenheit gewusst hatte. Aber wenn das nicht der Grund war, weshalb er so aufgebracht war, was war es dann? Eine ungute Vorahnung beschlich mich. „Weißt du, Alexander, normalerweise wäre ich jetzt echt sauer. Aber ich bin froh, dass du bei ihr warst." Mir wurde schlecht, da ich langsam ahnte, auf was dieses Gespräch hinauslaufen würde. Bitte sag es nicht, Dad. Sanft legte mein Vater seine Hand auf meinen Rücken, als müsste er mich stützen. Seine Stimme war ruhig, als er fortfuhr. Vermutlich hörte er meine stummen Gebete nicht, nicht weiterzusprechen. „Ein weiteres Mädchen wurde letzte Nacht umgebracht."
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