Kapitel 1
„Es muss sicher schwer für dich sein, dass deine beste Freundin sich selbst umgebracht hat. Aber diese Tat ist nicht deine Schuld, Natalia. Niemand von uns konnte wissen, dass Abigail sich das Leben nehmen wollte." Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich die schuleigene Psychologin und wie perfekt sie auf ihrem teuren Stuhl saß. Auf ihren Lippen lag ein aufgesetztes, mitfühlendes Lächeln von dem ich mir sicher war, dass sie es lange vor dem Spiegel hatte üben müssen. Außerdem nannte sie meine beste Freundin bei ihrem ersten Namen: Abigail. Dabei hatte nie jemand sie so genannt, sondern immer nur Belle. Sie hatte ihren ersten Namen gehasst. Doch das war nur einer der Fehler, die in der Aussage steckten. „Belle hat sich nicht selbst umgebracht", erwiderte ich ruhig, wobei ich sie ansah, um ihre Reaktion zu beobachten. Und sie fiel genauso aus, wie bei allen anderen Erwachsenen: Ihr Lächeln wurde noch ein bisschen verständnisvoller, noch ein bisschen freundlicher. Noch aufgesetzter.
„Du willst es nicht akzeptieren und das ist völlig okay. Es wird mit Sicherheit noch ein bisschen dauern, bis du es tust. Aber das Abigail sich umgebracht hat ist nun mal eine Tatsache-" - „Sie hat sich nicht umgebracht!", unterbrach ich sie ruppig. Was ich im nächsten Moment bereute, denn damit hatte ich mir noch ein paar Stunden mehr mit der Frau eingebracht. In meinem Bericht würde stehen: Noch nicht darüber hinweg, keine Akzeptanz. Aber wie sollte ich es jemals akzeptieren, dass meine beste Freundin tot war? Und, dass behauptet wurde, sie hätte sich selbst umgebracht? Das war völliger Schwachsinn und jeder, der Belle gekannt hatte, wusste das genau. Ihr Leben war mit Sicherheit nie perfekt gewesen, sie war nicht durchgehend glücklich gewesen. Jedoch hatte sie Wünsche gehabt, Träume für die sie kämpfte. Sie hätte niemals einfach so aufgegeben. Nicht so.
„Natalia. Du bist aufgebracht. Du bist wütend und traurig zugleich. Ich will dich nicht belügen: die nächsten paar Wochen werden schwer für dich werden. Ihr wart dreizehn Jahre unzertrennlich. Sowas verarbeitetet man nicht einfach. Aber irgendwann wirst du es müssen. Du wirst darüber hinwegkommen müssen und wieder anfangen zu leben. Abigails Tod ist nun schon vier Tage her. Morgen ist ihre Beerdigung. Nutzt sie, um wenigstens ein bisschen abzuschließen." Erneut kniff ich meine Augen zusammen, ehe ich meine Arme vor dem Körper verschränkte.
Ms. Louven sagte mir, dass ich über den Tod meiner besten Freundin hinweg kommen sollte, als hätte sie mir gerade aufgegeben, einen Aufsatz zu schreiben. Kein Wunder, dass sich immer mehr Jugendliche umbrachten, wenn die Schule solch qualifizierte Psychologen hatte. - Jedoch fiel Belle nicht unter diese Leute.
Mein Herz zog sich zusammen und ich spürte wie mir Tränen in die Augen stiegen. Meine beste Freundin war tot - noch nie in meinem Leben, war ich so einer Trauer ausgesetzt gewesen. Vor der Stunde hatte ich mir fest vorgenommen, nicht zu weinen. Wieso sollte ich auch weinen? Es machte die Situation nicht besser. Es würde Belle nicht zurückbringen. Trotzdem tat ich es und griff schluchzend nach den Taschentüchern, die auf dem Tisch vor mir standen. In meinem Kopf bildeten sich Bilder von Erinnerungen, Bilder von den besten Stunden meines Lebens. Bilder die verdammt wehtaten. Gleichzeitig wurde mir etwas bewusst: Selbst wenn Belle sich aufgegeben hätte, hätte sie niemals mich aufgegeben. Belle hätte mich nicht auf dieser Welt allein gelassen. - Auf gar keinen Fall hatte sie sich umgebracht. Wenn mir das keiner glauben wollte, musste ich es halt beweisen.
Doch momentan konnte ich nur in dem Büro der unfähigen Psychiaterin sitzen und weinen, während der unendliche Schmerz sich durch meinen Körper fraß.
⚖
Eine halbe Stunde später stand ich vor Belles ehemaligen Spind und starrte auf die ganzen Teddybären und rosaroten Karten, die davor lagen. Auf vielen standen Sachen, die nicht ansatzweise ehrlich wirkten, sondern eher Klischee. Sie hätten diese Aktion trotzdem geliebt. Eins ihrer Ziele in ihrem Leben war es, Schauspielerin zu werden. Öfters als ich zählen konnte, hatte sie mir erzählt, wie sie aus dem beschaulichen Evanston nach New York City durchbrennen würde, um ihre Träume zu verwirklich. Irgendjemand hatte ihr diesen Traum genommen, da war ich mir sicher. Und ich würde herausfinden, wer es gewesen war.
„Talia." Ich zuckte zusammen und riss mich von meinen Gedanken los. Langsam drehte ich mich um, wobei ich den Blick von Belles Gedenkstätte nicht abwandte. Deshalb sah ich nicht, wer vor mir stand - und es war mir auch ziemlich egal. Denn die einzige Person, die ich in diesem Moment bei mir haben wollte, würde nie wieder bei mir sein. „Du bist wieder da", fuhr die Stimme fort und langsam erkannte ich sie als Alexanders. „Ja", bestätigte ich knapp. Belle war an einem Donnerstag gestorben, nein, ermordet worden. Freitag war ich zu nichts fähig gewesen, außer auf die Fotos an meiner Wand zu starren. Heute war der erste Tag, an dem ich wieder in der Schule war. Zum ersten Mal musste ich alleine durch diese Schule laufen.
„Wie geht's dir?", fragte Alexander weiter. Ich wandte meinen Blick ab und bedachte ihm eines kurzen Blickes und stellte fest, dass er aussah wie immer. Groß, braune Haare, strahlende Augen. Nur sein übliches Grinsen war verschwunden. Alexander war mit Belle befreundet gewesen, wie viele aus unserer Klassenstufe. Nur besser - weshalb er zwangsläufig auch mit mir befreundet war. Warum sprach er noch mit mir? Jetzt wo sie nicht mehr wiederkommen würde, musste er nicht so tun, als würde er wirklich mit mir befreundet sein. „Mir geht's bestens." Diesen Satz hatte ich in den letzten vier Tagen bestimmt hunderte Mal gesagt - und nicht einmal ich selbst glaubte mir diese Lüge. Wie sollte es mir auch bestens gehen? Wie sollte es mir jemals wieder bestens gehen?
Im nächsten Augenblick tat er etwas, was ich nicht von ihm erwartet hätte: er nahm mich in den Arm, als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Als wären wir wirklich befreundet. Erneut spürte ich wie Tränen mir in die Augen stiegen. Dabei hasste ich es zu weinen, und ich tat es auch nicht oft. Seit Belle gestorben war, hatte ich mehr geweint, als in meinem ganzen bisherigen Leben. Man sollte meinen, dass irgendwann alle Tränen verbraucht waren - Irrtum. Langsam lief eine Träne über meine Wange, die ich für ihre Existenz verfluchte. Ich war kein schwacher Jammerlappen, sondern ein starke Persönlichkeit. - Doch selbst die stärksten Leute, hatte irgendwann mal ihre Grenze erreicht, an dem was sie aushalten konnten.
Und das hier war meine.
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