Fröstelnd stand ich auf dem kleinen Friedhof von Evanston und zog meinen Wintermantel enger um mich. Mit einer schnellen Handbewegung wischte ich den Schnee von Belles Grabstein, damit ich die Gravur darauf erkennen konnte. Es war das erste Mal seit ihre Beerdigung, dass ich an ihrem Grab stand. In dem grauen Stein war ihr Namen sowie die vermutlich zwei wichtigsten Daten ihres Lebens eingraviert. Darunter prangte eine Rose, die niemals verwelken würde.

„Tut mir leid, dass ich solange gebraucht habe, um hier aufzutauchen", entschuldigte ich mich aufrichtig und sah dem Schnee dabei zu, wie er den Stein wieder langsam bedeckte. In wenigen Tagen war Frühlingsanfang, dennoch schneite es wie verrückt. Ihr hätte es mit Sicherheit gefallen. Ich lächelte in mich hinein, ehe ich mich auf den Boden setzte. Sofort war meine Jeans durchnässt, doch es war mir egal. Dieser Moment war genau das, was ich brauchte. Natürlich würde ich niemals vergessen, was passiert war. Ich würde niemals Belle vergessen. Dennoch war die Zeit gekommen, damit abzuschließen.

Alexander war zu 367 Jahren Haft verurteilt wurden, während ich meine Abschlussprüfungen im Sommer nachgeholt hatte. Nach dem Prozess war das Leben einfach weitergegangen – und hatte eine ganz andere Richtung eingeschlagen, als ich vermutet hatte. „Ich hätte dich wirklich gerne bei mir, Belle. Glaub mir, ich vermisse dich jeden Tag", sprach ich weiter, wobei es mir egal war, dass Leute, die hier vorbeikamen, mich für verrückt hielten, weil ich mit einem Grabstein sprach. Sie würden nicht verstehen, wie gut es tat, alles zu erzählen und zu hoffen, dass es bei ihr ankam. Wo auch immer sie nun war.

„Ich glaube, mein Vater macht sich richtig gut als Hausmann. Du weißt ja, wie gut er schon immer kochen konnte. Darin scheint er richtig aufzublühen. Ich bin glücklich, dass er so glücklich ist." Lächelnd dachte ich an meinen Vater, der seinen Polizeidienst quittiert hatte nach all dem, was passiert war. Alexander hatte unser ganzes Leben zerstört, aber wir hatten alle einen Weg gefunden, um es Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Auch wenn es nun anders war.

Mich plagten die Alpträume jede Nacht, trotzdem machte ich große Fortschritte in der Verarbeitung. Zumindest hatte mein Psychologe das gesagt und ich fühlte mich tatsächlich auch besser, als noch vor neun Monaten. „Mein Vater macht sich ein wenig Sorgen um meinen Umzug nach Chicago. Er kann sich nicht vorstellen, dass ich alleine klarkomme. Offenbar vergisst er, dass ich nicht alleine sein werde."

Die Northwestern University hatte mich natürlich trotz der im Sommer bestandenen Prüfungen nicht mehr zugelassen. Erst dachte ich, dass es das Ende wäre. Doch es gab kein Ende, nicht für mich. Aus einer spontanen Laune heraus, hatte ich mich bei der Polizei in Chicago beworben. Nach ganzen vier psychologischen Begutachtungen und vermutlich einer ganzen Prise von hilfreichen Kontakten, die mein Vater trotz seines Ausscheidens hatte, wurde ich tatsächlich angenommen. Im wenigen Wochen würde ich in eine Wohnung in Chicago ziehen, die ich mir mit anderen Auszubildenden teilte. Doch um ganz ehrlich zu sein, freute ich mich darauf nicht einmal am meisten.

„Belle, ich muss jetzt los. Ich fahr mit dem nächsten Zug nach Chicago, um mit Jesse ins Kino zu gehen." Unser drittes, richtiges Date. Ich war ihm vor wenigen Wochen über den Weg gelaufen und nach einer langen, ausgiebigen Unterhaltung waren wir beide bereit, dem ganzen eine Chance zu geben. Zumindest ich bereute es bisher nicht.

Ich stand von dem kalten Boden auf und rückte den Blumenkranz, den ich mitgebracht hatte, zurecht. „Ich komme bald wieder, versprochen." Ich nickte ihr zum Abschied zu, ehe ich mich umdrehte und mir meinen Weg vom Friedhof bahnte.

Ich würde meines altes Leben hinter mir lassen.

Aber Belle würde auch in meinem neuen Leben, eigentlich für immer, ein wichtiger Teil davon bleiben.