9.2: Unfälle passieren.
Chander lag in seinem Bett und starrte an die Decke, verfluchte sein einen Tag jüngeres Ich, das es für eine gute Idee gehalten hatte, sein Spezialgebräu zu trinken und damit seinem einen Tag älteren Ich einen Kater von den Ausmaßen eines Vulkanausbruchs zu bescheren.
Er fischte nach der Wasserflasche neben seinem Bett, die sich ihm leer präsentierte. Mit einem Ruck schlug er die Decke zurück und schwang sich von der Matratze. Wartete, bis der Schwindel und der Schmerz schrumpften und er nicht mehr alles doppelt sah. Machte sich, an die Wand gestützt, auf den Weg zum Aufenthaltsraum, wo er Weberin und Adler antraf.
„Bitte sag mir, dass du gute Nachrichten hast, Weberin." Er nahm ein Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit, schnupperte daran und kippte es hinunter.
Sie beäugte ihn unbeeindruckt, wie eine Lehrerin ein ungehöriges Kind. „Du hast geschlafen wie ein Toter. Und du riechst ekelhaft."
„Sind das die guten Nachrichten?", erwiderte Chander trocken.
„Das erste", mischte sich Adler ein, ohne von seiner Zeichnung aufzusehen. „Sie hatte ihre Ruhe."
Weberin lachte in sich hinein und tätschelte Adlers Schulter. „Wenn du wach gewesen wärst, hätte ich dich fragen können, ob du auch den Schlüssel für die DE hast."
„Den Schlüssel", wiederholte Chander langsam.
„Um Zugriff auf die Daten zu erhalten." Jetzt klang Weberin auch noch wie eine Lehrerin. „Was hast du damals immer vor dich hingemurmelt? Irgendwas von wegen ... inkompetente Idioten überall?"
Am Rande bekam er mit, wie sich die Tür zu Küche öffnete.
„Anstatt hier Däumchen zu drehen hättest du dich schon längst daran machen können, das Ding zu hacken", knurrte Chander.
Diese Aussage brachte ihm ein Kichern von Schlosser ein, der gefolgt von Anatol aus dem länglichen Raum trat, in dem etwas Süßes zu entstehen schien, dem warmen Geruch nach zu urteilen. Übelkeit schwappte in seinen Eingeweiden umher, beruhigte sich dann wieder.
„Und was hast du hier zu suchen?" Jetzt richtete sich Chanders geballter Unmut gegen den Gast, dem das Lachen im Hals stecken blieb, was ihn husten ließ.
„Backen ...?", half Anatol aus und lächelte. „Käsekuchen!"
„Wir sind hier aber kein verdammter Backtreff. Erinnert ihr euch noch an die Regel, die besagt, dass wir nicht jeder x-beliebigen Person den Standort unserer Basis verraten? Und heute ist auch nicht Macht-Euch-Über-Chander-Lustig Tag."
„Du hast es doch auch Happy einfach so verraten", hielt Weberin dagegen. „Und Schlosser kennen wir viel länger. In den letzten Jahren war er häufiger hier, hat uns geholfen. Und er hat mir was vorbei gebracht, das ich zum Hacken dieses kleinen Mistdings brauche. Ein Sicherheitsnetz. Es ist nämlich so: Im besten Fall sorgt ein Hackversuch dafür, dass die Daten gelöscht werden. Weswegen ich erst darauf gewartet habe, dass du dich aus deinem Zimmer bequemst. Im schlimmsten Fall wird ein Sender aktiviert, der uns den Geheimdienst auf den Hals hetzt. Oder das Ding explodiert und löst das Problem so. Ich tue schon, was ich kann, also hör auf, dich hier so aufzuspielen, und lass mich arbeiten." Damit rauschte Weberin an Chander vorbei. Schlosser folgte ihr, mit einem entschuldigenden Lächeln, aber gesenktem Kopf.
Anatol brach das entstandene Schweigen. „Wie habt ihr euch eigentlich alle kennengelernt?"
„Wir packen jetzt nicht alte Kennenlern-Kamellen aus", sagte Chander, der sich schon lange wünschte, heute erst gar nicht sein Zimmer verlassen zu haben.
„Was für Kennenlern-Kamellen?", flötete da Wiesel, die mit einer Schüssel Müsli am Tisch saß, als hätte sie da schon die ganze Zeit gelümmelt. Was sie nicht hatte, da war sich Chander sicher.
Er stöhnte. „Gar keine. Vergiss es."
„Happy wollte wissen, wie wir uns kennengelernt haben", antwortete Adler.
„Ooooh." Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab und wedelte mit dem Löffel durch die Luft. „Thot dackelt Chander schon immer hinterher und arbeitet an Gadgets für Magielose. Dann kamen meine Schwester und ich. Er hat uns von der Straße aufgelesen, nachdem ich versucht habe, ihn zu beklauen." Der Löffel zerteilte die Luft wie ein Schwert. „Bester böser Fehler meines Lebens, sag ich nur. Jongleur war mal Mitglied irgendeiner Gang, ist aber rausgeflogen, als er ihre Basis in die Luft gesprengt hat." Ein beinahe liebevolles Lächeln machte ihre Züge weicher. Wäre es nicht für den Spott, der da ebenso zu sehen war. „Ein paar Tage später stand Chander dann mit ihm hier im Zimmer und hat ihn uns vorgestellt. Und Adler haben wir mal für einen Coup angeheuert, er hat für uns Replikate angefertigt. Bei einem Auftrag für eine andere Gruppe wurde er hochgenommen, aber Chander hat einen Überfall auf den Gefangenentransport organisiert. Mann, das waren Zeiten!" In Erregung donnerte ihre Faust auf den Tisch, der Löffel sprang klappernd darüber. Verlegen schnappte sie ihn sich wieder. „Oh, und dich hat er natürlich auch abgeschleppt – ähem, angeschleppt, meine ich – aber die Geschichte kennst du wahrscheinlich besser als ich."
Chander machte sich auf den Weg nach draußen. „Ich brauche frische Luft." Seine Kopfschmerzen hatten ihren Höhepunkt erreicht. Hoffentlich.
Leichte Schritte verrieten ihm, dass er verfolgt wurde. „Sag mal, Happy", meinte er, als die Abendsonne auf sie herunterschien, ein paar Meter weg vom Schatten der Brücke über ihnen, „wenn du alles tun könntest, was du willst, was würdest du tun?"
Da der Reine nicht sofort antwortete, wandte sich Chander von der Sonne ab, um ihn anzusehen.
Er schien tief in Gedanken. Dann legte er sich zwischen das Unkraut auf den Boden und sah auf zum Himmel. „Nichts."
„Nichts", echote Chander. „Dein Tatendrang in allen Ehren, aber ab und an darf man –"
„Meine Tage waren bis jetzt immer durchgeplant. Aufstehen, Frühstück, Unterricht in normalen Fächern, Mittagessen, Unterricht in Wie-verhalte-ich-mich-als-Reiner, Magieunterricht, Abendessen und abhängig vom Tag durfte ich mir einen Film ansehen oder lesen oder meine Zeit im Garten verbringen oder im Wellnessbereich. Wenn jemand Zeit und Lust hatte, durfte ich auch ein Spiel spielen. Was ich gerne tun würde? Ich würde gerne einen ganzen Tag nichts tun. Einfach gar nichts."
Chander ließ sich im Schneidersitz neben ihm nieder. „Dann verspreche ich dir, dass wenn das alles hier vorbei ist, wir unseren Sieg mit einem Tag Nichtstun feiern." Er legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Der Reine zuckte unter der Berührung zusammen, sein Lächeln floh, für eine Sekunde weiteten sich seine Augen und sein Kiefer spannte sich an.
Demonstrativ drückte Chander die Schulter unter seinen Fingern und zog sie zurück. So oft hatte er ihn schon berührt, die Reaktion war eine unerwartete und heftige Zurückweisung. Nichtsdestotrotz lachte Chander auf und blinzelte in die Sonne. „Du lernst dazu. Das ist gut."
„Kannst du mir versprechen –"
„Nein", unterbrach Chander. „Ich kann dir gar nichts weiter versprechen. Wenn es heißt die oder wir, werde ich mich immer für das Team und mich entscheiden. Ein paar Skrupel habe ich noch, aber ..." Er schüttelte den Kopf. „Ich könnte dich nicht aufhalten, wenn du dich entscheidest zu gehen."
„So macht man keine Deals", wiederholte Anatol leise Worte, die Chander vor einer Ewigkeit gesprochen hatte. „Ich habe es dir versprochen. Ich habe dir versprochen, es mit dir bis zum Ende durchzustehen. Und ... in den letzten Tagen habe ich mehr gelernt, als in den Jahren zu Hause."
Zu gut. Immer noch zu gut. Er würde sich selbst völlig für eine andere Person aufgeben. Oder für ein Land. „Du wurdest auch öfter traumatisiert, als in den Jahren zu Hause", fügte Chander hinzu und fuhr sich über den Bart.
Anatol legte einen Arm über seine Augen. „Zu Hause ... Ein Wolf drang einmal in die Kuppel ein und tötete Maximilian, den Hund, den man mir geschenkt hatte. Da war so viel Blut, sein weißes Fell war rot, sein Fleisch, seine Gedärme ... Ein Aufzug hatte einmal einen Totalausfall. Als ich ihn arglos öffnete, fand ich Frau Cain, eine meiner Lehrerinnen. Sie sah aus, als hätte man sie in eine Metallkiste gepackt und diese dann ganz oft geschüttelt ... Den Sohn einer Angestellten, mit dem ich manchmal spielen durfte, habe ich ertrunken im Teich aufgefunden. Er sah aus, als hätte er Todesqualen gelitten, mit hervorquellenden Augen und aufgerissenem Mund ..."
„Scheiße", entfuhr es Chander. „Sollte es bei dir nicht extra sicher sein?"
Anatol hob die Schultern. „Unfälle passieren."
War es auch ein Unfall gewesen, dass ihn Anatols Betreuer vor seinen Augen einen Schacht hinunter geschupst hatte? Andererseits hatte er ja nicht wissen können, dass die Entdeckungen im Labor Anatol ausschalten würden, oder? Er schnaubte und ließ sich dem Reinen gleich nach hinten in den Dreck sinken. Das Leben war niemals fair, selbst zu gottgleichen Individuen nicht, die immer eine Extrawurst bekamen.
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