9.1: Unfälle passieren.
In der Mitte der Anlage schlief die Villa, unten aus grauen Steinquadern bestehend, oben aus Holz. Darauf thronte ein Holzdach, auf dem eine Wiese blühte.
Wenn sie nicht hätten still sein müssen, Chander hätte vor Freude aufgelacht. Das schwere, verschnörkelte Ziertor mit den Metalleichhörnchen schwang für ihn nach innen auf und die magische Schutzbarriere zerstob und rieselte schneeflockengleich zu Boden. Er tänzelte über die Schwelle, tanzte den weißen Kiesweg auf die Haustür zu, energiegeladen, wie auch seine Gedanken wirbelten. Alle Sensoren waren blind für ihn, dank Anatol war er ein Geist. Anhand des goldenen Schimmers konnte er genau festmachen, wo sich die Sicherheitssysteme zwischen den Bäumen und Büschen befanden. Festtagsbeleuchtung zu seiner Stimmung. Mit dem Reinen an seiner Seite war absolut nichts unmöglich.
Kurz kam ihm der Gedanke, dass er so kurz vor ihrem Aufbruch nicht hätte seinen Muntermacher-Mischmasch trinken sollen. Anatol beäugte ihn auch schon so komisch, während nur minimale Kopf und Fingerbewegungen andeuteten, dass er mit der Sicherung der Umgebung beschäftigt war, so wie Weberin es ihm gezeigt hatte.
Mit drei schwungvollen Schritten erklomm Chander die Treppen zur Haustür, die ebenfalls vor ihm zurückwich. Wie in einem Märchen.
Und er war der böse Wolf.
„Guten Abend, Mister Morris!", rief er der Decke des Empfangsraums zu. Engel in einem Fresko aus Blautönen beäugten ihn von dort skeptisch. „Hier ist Chander Ainsworth. Erinnern Sie sich an mich? Ich bin der Mann, dessen Leben sie vollends zerstört haben." Entgegen seiner Worte kicherte er die Engel an.
„Chander." Anatol war um einiges leiser.
Er schnipste. „Mach mal das Licht an, Happy."
Im Fresko leuchteten Lampen auf wie Sterne, dazu noch spiralförmige Wandleuchten.
Chander schüttelte den Kopf. „Überall, in jedem Zimmer", spezifizierte er. Lauter richtete er wieder das Wort an den Hausherren: „Kommen Sie schon! Oder muss ich Sie auch noch in ihrem eigenen Haus suchen? Das wird mich nur ungeduldiger machen. Und glauben Sie mir: Das wollen Sie nicht. Mittlerweile müssten Sie gemerkt haben, dass Sie von der Außenwelt abgeschnitten sind und keinen Zugriff zu ihrem gesicherten Raum haben. Der einzige Weg raus führt an mir vorbei." Sein Grinsen wurde breiter. Er drang weiter ins Haus ein, ins nächste Zimmer, in dem die Küche von einer Treppe vom Essbereich getrennt wurde. So elegant. Hier könnte er auch leben.
Ein Schatten fiel von oben herab, wie ein dunkler Racheengel, baute sich vor ihm auf und schon hatte er eine Schusswaffe im Gesicht. Chander schielte auf die Patrone, die seine Defensivmagie durchdrungen hatte und sich genau zwischen seine Augen gebohrt hätte, wäre der Reine nicht eingeschritten. Dann lachte er laut auf und klatschte in die Hände, betont langsam. „Das war gut! Beeindruckend."
Hauptkommissar Curts Blick glitt zu Anatol, der anscheinend rechts hinter ihm stand.
„Ich will wissen, was vor sechs Jahren passiert ist", sagte Chander, um Curts Aufmerksamkeit vom verfluchten Reinen auf sich zu ziehen. „Dann bin ich wieder weg."
Augen wurden verengt, Mundwinkel zuckten nach unten. „Vor sechs Jahren haben Sie ein lunarisches Raumschiff voller Flüchtlinge abgeschossen."
„Das ist eine Lüge und Sie wissen es", säuselte Chander, dem ein warmes Kribbeln durch den Körper fuhr. „Ich will wissen, welche Spuren Sie gefunden haben, welche Schlüsse Sie gezogen haben, wer Sie bestochen hat – ich will alles wissen."
Er schnaubte, setzte ein ebenso falsches Lächeln auf. „Alle Indizien wiesen auf Sie hin. Da musste man nicht mehr groß Schlüsse ziehen. Ich bin nicht bestechlich. Und ich lasse mich auch nicht von einem Mörder einschüchtern."
„Vielleicht weiß er wirklich nichts", warf der Reine zaghaft ein. „Vielleicht hat er wirklich nur seine Arbeit gemacht."
„Klappe", fauchte Chander, mit in Richtung Anatol ausgestrecktem Arm. Heiß kribbelte es durch seine Glieder. Wenn er wirklich nichts Genaueres wusste, wenn wirklich nur Chander als Täter in Frage kam ... Chander zog eine Waffe aus dem Hüftholster, die Curts nicht unähnlich war. Plus einiger Modifikationen von Thot.
Eine Patrone zertrümmerte Curts rechtes Knie, er verzog die Lippen, ging aber geräuschlos zu Boden.
„Reden Sie."
„Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Na ja, nichts, das Sie nicht schon wissen. Sie sind ein verabscheuenswürdiges Monster, Sie sind –"
Die nächste Kugel bohrte sich in Curts Brustkorb. Mit geweiteten Augen kippte er nach hinten und Anatol schrie auf. Wenige Sekunden später war der Mann in der Blutlache am Boden geheilt. Seine Hände fuhren über seinen Körper, bevor er sich vorsichtig aufrichtete und sein rechtes Bein belastete. Er wirkte verwirrt, wurde bleicher, als er den roten See zu seinen Füßen betrachtete. Vielleicht war ihm das alles etwas zu schnell gegangen.
Chander atmete durch und hob die Schultern. „Wir können das die ganze Nacht machen."
„Bitte ...", wisperte der Reine.
Erneut musterte Curt das Wunderkind, als wäre Chander Luft, nein, weniger, unwichtiger. „Dann wird sich meine Antwort auch nicht –"
Jetzt den Kopf im Visier drückte er ab. Blut und weniger flüssiges Zeug spritzte an die Terrassentür hinter ihm. Hatte er es nicht langsamer angehen lassen wollen? Das Bild verpixelte vor seinen Augen, bevor es sich wieder scharf stellte.
„Chander!", heulte es von rechts. Anatol hastete näher, sein Blick zuckte hin und her, als würde er einen unsichtbaren Text lesen. Tränen, in denen sich goldene Schlieren drehten, liefen ihm die Wange hinab.
Diesmal dauerte es ein paar Sekunden länger, aber Curt schnappte schließlich nach Luft. Zusammengekrümmt blieb er liegen, Hände gegen den Kopf gepresst. „Reicht das nicht als Beweis?", murmelte er. „Sie haben keine Skrupel, mich zu quälen. Oder werden Sie das auch verdrängen? Werden Sie Ihren armen Kameraden später beseitigen, und sich eine Geschichte zusammenspinnen, um –"
„Klappe!" Erneut löste sich ein Schuss.
Curts Lachen verlor sich in einem Röcheln. Und in Anatols Schluchzern.
Ein erster Schweißtropfen rollte Chanders Rücken herab.
„Papa!"
Alle drei fuhren zu der neuen Stimme herum. Es war das kleine vielleicht fünfjährige Mädchen, Decke in den Händchen und blonde Engelslöckchen auf dem Kopf, das die Treppe zur Hälfte herabgekommen war und jetzt mit Chanders Pistole konfrontiert wurde, das Curt zum ersten Mal in dieser Nacht die Verzweiflung auf die Züge trieb. Sie maß sich mit dem absoluten Horror im Gesicht der Kleinen und des Reinen.
Fragen zuckten wie Blitze in Chanders Geist auf. Seit wann hatte er eine Tochter? Und was hatte sie gesehen? Er legte den Kopf schräg. „Soll sie in den gleichen Genuss kommen, wie Sie, Mister Morris?"
Endlich hatte er alle Aufmerksamkeit, der Kommissar schüttelte den Kopf. „Bitte ... nicht ... Ich ... Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen."
„Ich will die verdammte Wahrheit!", brüllte er, sodass es durch das ganze Haus hallte.
Die Kleine starrte Chander an, presste die Decke an sich, Anatol starrte die Kleine an, öffnete den Mund, nur um nichts zu sagen.
„Warten Sie. Ich muss da rüber." Curt deutete zur Esszimmerseite, erhob sich langsam und ging zum Teppich, wobei er von seiner linken Seite gebremst wurde, die sich anscheinend nicht von der Sterben-und-dann-doch-nicht-Sterben Sache erholt hatte. Mittlerweile sah er aus, als hätte er in roter Farbe gebadet. Er schlug das grüne Stück Stoff zurück, hinterließ Flecken, und machte sich an den Holzdielen zu schaffen. Ein paar löste er heraus, darunter kam eine Tresortür zum Vorschein, die sich mit einem magischen Abdruck und einem Passwort öffnen ließ. Daraus zog er eine Daten-Einheit, die er Chander entgegenhielt. „Darauf sind alle Informationen, die ich im Fall gesammelt habe."
„Und? Denken Sie wirklich, ich bin schuldig?"
Ergeben senkten sich seine Schultern herab, für eine Sekunde bleckte er die Zähne. „Nicht dieses Verbrechens. Ich wurde dazu angehalten, nur die Spuren zu beachten, die auf Sie hinweisen. Von wem das verlangt wurde, weiß ich nicht. Es muss jemand Wichtiges sein."
„Jemand Wichtiges", äffte ihn Chander nach und schnappte sich die DE. „Wirklich hilfreich. Komm schon." Er nickte Anatol zu, der sich nicht vom Fleck bewegt hatte und im Generellen wie ein Häufchen Elend aussah. Ein letztes Mal blickte Chander über seine Schulter, zu einem Vater, der seine Tochter in seinen Armen aufnahm. „Beten Sie zu Gott, dass Ihr Vater mich nicht veralbert, kleine Miss Morris."
„Wir beten zu den Reinen", erwiderte Curt. „Dafür, dass Sie gerecht über Sie richten werden."
Etwas wie ein gepresstes Wimmern klagte in Anatols Kehle.
Chanders Blick schnappte weg von der Tochter und zu Curts Augen. Doch darin konnte er nicht lesen, ob er das gesagt hatte, um das letzte Wort zu haben oder aus anderen Gründen. Es hatte jedenfalls den Effekt, dass der Reine miserabler dreinschaute.
Sie verließen das Haus und Regen fuhr ihm über die Haut, kalten Fingern gleich, die ihn an einen dunklen Ort zerren wollten. Ein dunkler Ort? Oder nur die Realität?
Es dauerte tatsächlich, bis das Gewitter einer anderen Art ihn erwischte. Erst, nachdem sie das Grundstück verlassen hatten und ein paar Blocks weiter waren, vorbei an Villen, deren Dächer hinter abgrenzenden Büschen oder Zäunen hervorlunschten, an netten kleinen Mülleimern und anständig leuchtenden Straßenlaternen. An seinem Handgelenk wurde er herumgewirbelt.
„Wie konntest du das tun?", schrie ihm Anatol ins Gesicht, suchte nach weiteren Worten und fand offensichtlich keine. „Wie konntest du das nur tun?" Unter dem braun seiner Augen brodelte Magma, golden glühten Schlieren auf, nicht erzeugt von der Lampe über ihnen, deren Kegel sie erfasste.
„Es hat doch funktioniert. Alle leben. Wenn auch vielleicht traumatisiert. Und ich habe endlich eine Bestätigung." Chander sah zum Himmel, dem dank der Lichter grauen Nichts, blinzelte in den herabfallenden Tropfen. Nach so langer Zeit hatte er in so wenigen Tagen so viel erreicht.
„Ich hätte einen Fehler machen können. Ich habe Fehler gemacht. Kannst du dir vorstellen, wie komplex ein Gehirn ist? In den Simulationen hatte ich eine Erfolgsquote von weniger als 70 %, Chander!"
Vielleicht hätte er das doch besser überdenken sollen. Immerhin hatte eine 30 % Chance bestanden, dass er seine Quelle umbrachte und dann wäre er jetzt mit leeren Händen dagestanden. Er fasste sich an den Kopf, in dem sich ein Pochen auszubreiten begann.
„Und wenn er nichts gewusst hätte?", fuhr Anatol fort. „Hättest du ihn dann die ganze Nacht gefoltert? Hättest du dann auch seine Tochter gefoltert? Du sagtest, nur er wäre dort! Du sagtest, wir gehen rein, befragen ihn und gehen wieder." Der Reine krallte sich in Chanders Mantel.
Der Punkt, an dem Anatol sich nicht mehr zurückhalten konnte war der, an dem Chander den Kampf gegen sein Grinsen verlor. Er sah es in seinen braunen Augen, die von Gold geflutet wurden. Dann traf ihn auch schon die Ohrfeige, die ihn zwei Schritte zurücktaumeln ließ. Bevor Anatol weiter auf ihn einschlagen konnte, packte er seine Handgelenke, umschloss sie jeweils mit einer Hand. Er beugte sich zu ihm vor, klarer, ob der Kälte, des Regens oder des Schmerzes in seiner Wange. „Ich wusste nicht einmal, dass er eine Tochter hat. Ich wusste aber, dass er lügt. Thot hat mir eines seiner Gadgets ausgeliehen. Stell es dir als einen Lügendetektor vor, genau eingestellt auf Mister Morris. Ich habe jede Lüge gespürt." Sein Blick bohrte sich in den des Reinen. „Dieser Ausdruck ... Langsam verstehst du es, nicht wahr? Sind die Menschen doch anders, als du dachtest, hm? Menschen lügen. Aus Angst, Stolz, Eigennutz ... Und, weißt du, traurigerweise ist dieser Lügenkleister oft das Einzige, das ihr Scherbenleben zusammenhält. Scherben aus Grausamkeit und Neid und Rücksichtslosigkeit. Scherben, die sie dir in den Körper treiben, wenn du nicht aufpasst. Oh, Anatol, die Welt ist so anders, als du sie dir ausmalst."
„Wirst du mich irgendwann mit deinen Scherben erstechen, Chander?" Er fragte es ruhig und gefasst, ein bisschen neugierig, fast als würde er lediglich wissen wollen, was sie zu Mittag essen würden. Es ließ Chanders Atem stocken. „Ich bin naiv, das weiß ich. Aber ich bin nicht dumm."
„Pff. Ich glaube kaum, dass ich einem Reinen etwas anhaben könnte." Mit diesen Worten ließ er ihn los und setzte seinen Weg fort. „Außerdem passe ich auf meine Teammitglieder auf, ich würde ihnen niemals etwas antun." Er wartete auf keine Reaktion. „Anatol? Wenn du mich für diesen Abend verurteilen willst, bedenke bitte auch, dass dieser Mann mitverantwortlich war, dass ich zu Unrecht verurteilt und in ein Rattenloch, ich meine ein wirklich unzumutbares Gefängnis, gesteckt wurde, in dem die Insassen schneller wegsterben als die Kellerasseln in den Wänden. Bedenke, dass ich gegen die vorgehen will, die diese Flüchtlinge töteten. Zwar tue ich das auch, um es ihnen heimzuzahlen und mich freizusprechen. Aber das macht es doch nicht weniger zu einer guten Tat, oder?"
Anatol sagte nichts mehr, schien aber konzentriert nachzudenken. Erst als sie fast bei dem geparkten Flugwagen waren, ruckte sein Kopf hoch und herum. „Es tut mir leid." Er gestikulierte Richtung Wange. „Ich wollte nicht –"
Mit einer abwinkenden Geste unterbrach er ihn. „Schon gut."
„Nein. Es war falsch. Gewalt ist keine Lösung."
„Die letzten Tage waren hart. Ich nehme es dir nicht übel." Dennoch ein seltsam heftiger Ausbruch. Wut. Anatol war wütend gewesen und hatte es ihn spüren lassen. Eine normale Reaktion, er hatte gar nicht weiter darüber nachgedacht. „Wie geht es deiner Magie?"
Sie schoben sich auf die Sitze und die Wassertropfen perlten von ihnen ab, schwebten nach draußen, bis sie trocken waren. „Ist noch genug da, denke ich", antwortete Anatol schlicht.
Vielleicht war es wirklich ein schleichender Prozess. Vielleicht konnte er Anatol wirklich in sein Team integrieren und ihm das Leben zeigen. Was man mit einem Reinen alles tun könnte. Sie wären die Herrscher der Stadt.
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