5.2: Jeder für sich und die Regierung gegen alle, nicht?
„Vor Quadrillionen von Jahren gab es keine Magie, müsst ihr wissen." Am Ende der Straße breitete Jongleur die Arme aus. „Die Menschen lebten unter freiem Himmel, ohne Schutz vor Regen oder Wind. Sie mussten ihr Essen noch selbst jagen, sind mit Speeren den wilden Giraffen hinterhergejagt."
„Giraffen", wiederholte eines der fünf Kinder vor Jongleur.
„Ja, Giraffen, das sagte ich."
Das Kind, der Junge, verschränkte die Arme. „Ich glaube nicht, dass es vor Quadrillionen von Jahren Giraffen gab."
Jongleur erwiderte den Blick standhaft. „Natürlich gab es die. Die sahen halt noch anders aus. Mit Reißzähnen und Schuppen und weniger gelb und braun, sondern, na ja, eben an die Umgebung angepasster."
Es war so lange still, bis das erste Kind in Gelächter ausbrach und die anderen ansteckte.
Anatol lachte mit, was dem Trupp Neuankömmlingen Aufmerksamkeit einbrachte. Vielleicht war es auch der Duft des Essens.
Ein Trugbild von einer Giraffe, die der grotesken Beschreibung entsprach, entstand. „Sahen die in etwa so aus, Jongleur?", hakte Anatol nach.
„Das ist genial." Jongleur kicherte in sich hinein. „Fast perfekt getroffen, mein Freund. Leute, das ist Happy, wie angekündigt einer unserer zwei neuen Essenslieferanten."
Mit seiner Urzeitgiraffe hatte der Reine sofort das Eis gebrochen. Während die fünf Kinder Essen in sich hineinschaufelten, brachten sie Verbesserungsvorschläge und Ideen für neue Tiere vor, die Anatol in die Tat umsetzte. Dazwischen versuchte er, ein paar Dinosaurier einzubringen, doch die fanden die Kinder zu langweilig.
Nach ein paar Minuten Verarbeitungszeit hatte Chanders Verstand wieder genug Kapazität übrig, um Worte zu bilden. „Was ... Was ist das?"
„Das sind Straßenkinder", antwortete Jongleur, der neben ihm an der Metallwand eines Hauses lehnte. „Wir kümmern uns etwas um sie. Mehr oder weniger gut."
Kichern brandete zu ihnen herüber. Und die Steppgeräusche eines Einhorns.
Jongleurs Züge waren ungewohnt ernst, wurden aber auf seltsame Art weich, je länger er beobachtete wie Anatol mit der Gruppe herumalberte. Es war ein so ehrliches Lächeln, das Chander bei ihm noch nie gesehen hatte. Es übertraf sogar das irre Grinsen nach jedem erfolgreichen Coup.
Sechs Jahre.
„Ich weiß ja nicht. Sechs Leute sind eigentlich mehr als genug. Na ja, sind sie nützlich? Nutzt ihr sie als Informanten, Spitzel, Taschendiebe?"
„Es war Wiesels Idee", setzte Jongleur an, bedachte ihn mit einem traurigen Blick. „Sie war damals ... Wir waren alle damals ... Wir wollten es wiedergutmachen. Mehr oder weniger."
Sechs Jahre. Ein Augenblick oder ein Millennium.
Jongleur kratzte sich im Nacken. „Wie lief es eigentlich bei Schlosser? Wenn Happy das nicht hinkriegt, kann ich euch bestimmt einen Weg hineinsprengen. Durch eine Wand oder die Decke oder ..." Hier kam ihm Jongleur näher und betonte jedes Wort. „ ... durch den Boden."
„Ärger", murmelte Adler.
Stimmen wurden laut, brüllten gegeneinander an. Am anderen Ende der Gasse erhellten züngelnde Flammen die Fassaden.
„Weg!", zischte Weberin.
Anatol sah den Kindern nach, die in den Schatten verschwanden. „Was – ?" Weberin und Wiesel packten je eine Hand von ihm und zogen ihn vorwärts.
Aus einer Abzweigung der Gasse stolperten zwei Männer. Der mit dem Brandzeichen auf der Wange grillte seinen Kontrahenten mit einer Feuerfontäne. Verbrannte Haare, Textilien und Fleisch.
Ein Angriff auf ihre Truppe lenkte Wiesel mit einem Windstoß ab, der auch kurzzeitig den Gestank vertrieb. Chander glitt an ihr vorbei. Sein Daumen berührte einen Ring an seinem kleinen Finger und ein Dolch entstand, der sich in den Schädel des Gebrandmarkten bohrte. Sobald ihre Arbeit getan war, löste sich die graue Waffe wieder auf. Den Reinen hatte Weberin zum Glück schon weitergezogen.
Eine Frau bog in die Gasse und setzte ihnen hinterher, Zähne gebleckt und Hände feuerüberzogen. Ein leises Pew war zu hören, das Projektil flirrte an Chanders Ohr vorbei und bohrte sich in das linke Auge der Verfolgerin. Sie ging zu Boden, krümmte sich zusammen. Chander nickte Adler zu und rannte weiter.
Vor den wenigen Läden in den Seitenstraßen leuchteten anstatt Werbung jetzt Barrieren in verschiedenen Farben. Die Anwohner, die sich keine Schutzvorrichtung leisten konnten, kauerten zweifelsohne hinter Vorhängen, magische und nicht-magische Waffen im Anschlag.
Sie machten einen großen Bogen um eine Gruppe, die in einen wortwörtlich hitzigen Kampf verwickelt war. Die Kleidung einer Frau brannte sich in ihre Haut, doch sie ließ unbeirrt einen Feuertornado entstehen und lachte dabei. Selbst Chander spürte die Hitze auf seinem Gesicht. Metallhäuser begannen zu glühen und verwandelten sich in Öfen, was die Bewohner dazu zwang zu handeln und sich ebenfalls einzumischen.
In der Finsternis abseits des Feuers tanzten Flecken vor seinen Augen, sein Herzschlag pochte laut in seinen Ohren.
Erst zwei Blocks später hielten sie an. Nicht weit genug weg, um die Schreie und Sirenen überhören zu können, aber außer Gefahr.
Chander stützte sich an einer Wand ab, um wieder zu Atem zu kommen.
„Was war das?" Der Reine sah zurück, dorthin, wo immer noch Stichflammen zum Himmel züngelten, einem grotesken Sonnenaufgang gleich. Er war blass, seine Hände zitterten.
„Bandenstreitereien, wie immer", meinte Jongleur und hob die Schultern. „Die Blauen Tränen und die Verbrannten Wölfe, wahrscheinlich."
„Sieht so aus, als hätte das Gefängnis nicht nur deinem Aussehen nicht gutgetan", stichelte Weberin derweil, „sondern auch deiner Kondition."
„Halt die Klappe", schnaufte Chander. „Happy findet, dass ich gut aussehe."
Sie lachte auf. „Happy findet wahrscheinlich sogar Thot gutaussehend ..."
„Auf eine vornehme Weise", bestätigte Anatol und nickte dabei.
„Und Wiesel ..."
Das Nicken ging weiter. „Auf eine wilde Weise."
„Und Jongleur."
„Auf eine lässige Weise."
Jetzt sah sie Chander direkt an und bat Anatol mit erhobener Hand, kurz still zu sein. „Und dich, Chander, wahrscheinlich auf eine schmierige Weise."
„Da ist man mal kurz nicht da und verliert allen Respekt. Läuft das hier so, ja?" Seine Tonlage stand ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit in nichts nach.
Doch auch die entglitt ihr. „Den hast du verloren, als du 500 Menschen abgeschossen hast! Wir haben das Video gesehen, Chander. Und die Berichte. Weißt du ... Du sagtest immer, dass du nur aus Notwehr tötest, keine Unschuldigen tötest. Und du bist vieles, jedoch kein Lügner. Das wissen wir. Aber meine Güte, alles spricht dafür. Meine Schwester war damals so niedergeschlagen, sie hat kaum gegessen und sich in ihrem Zimmer verkrochen. Dann wurde sie krank und ich dachte für ein paar Wochen, dass sie es nicht schafft, Chander. Ehemalige Verbündete haben sich von uns abgewandt. Dreck, mehr waren wir nicht in ihren Augen. Es gab Zeiten, da wusste ich auch nicht mehr weiter. Wir sind wieder auf die Beine gekommen, haben uns einen neuen Platz gesucht und so etwas wie Normalität erkämpft. Und jetzt schneist du zur Tür herein und tust so, als wärst du nur mal 'kurz nicht da' gewesen, als könnten wir einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben." Weberin keuchte laut, ihr Brustkorb hob und senkte sich bei jedem viel zu schweren Atemzug.
„Ich war das nicht." Es überraschte ihn selbst, wie kalt seine Stimme klang. „Tut mir leid, was euch widerfahren ist, aber das war nicht meine Schuld. Ich werde den Schuldigen finden und dann wird er büßen. Und dann werde ich mir bei euch einen neuen Platz suchen, wenn ihr das gestattet."
Alle Anwesenden sahen Weberin an, doch die schaute nur hilflos zurück.
„Scheiße", murmelte Wiesel, strich sich durch die Haare und grinste leicht. „Du willst dich anpassen? Habt ihr das gehört Leute? Wie absurd. Aber ich glaube an dich. Wir werden dich nicht wegjagen, Chander. Wir sind doch Familie und Familie hält immer zusammen."
Sowohl Chander als auch Weberin wichen ihrem Blick aus. Dennoch hatte zumindest er das Zittern ihrer Hand bemerkt.
„Und wenn du es doch warst?" Die Stimme von Weberin war rau und brüchig. Müde von der Last der Jahre.
„Dann werde ich büßen."
Langsam setzten sie sich in Bewegung Richtung Versteck. Die Augen von Anatol klebten auf Chander, er spürte es. Er seufzte und gab nach. „Was ist, Happy?"
„Ich finde euch nur ... faszinierend. Ich finde es toll, dass ihr zusammenhaltet, trotz Differenzen."
Da war wieder dieses Lachen, das in seinem Hals kitzelte, während es ihn würgte. Und er meinte allen Ernstes, sie seien faszinierend.
„Sag mal", klinkte sich Weberin ein, „wer ist er genau. Ich meine, er ist nie und nimmer ein Häftling, das kaufe ich dir nicht ab. War er ein Angestellter dort?"
„Er ist der Sohn eines Angestellten. Hat niemals etwas anderes gesehen als das Gefängnis. Was einmal in das HSG von Genrivien kommt, kommt nie wieder raus, außer im Leichensack oder als Futter für das Arbeitslager."
Sie musterte den Reinen, dann hob sie die Schultern und gab sich vorerst zufrieden. Ihr Blick aber sagte klar, dass sie ihm das nicht abkaufte.
Es war ein finsterer Weg nach Hause. Nebel aus ungesagten Wörtern waberte um ihn herum. Dolche glitzerten darin, aber er wusste nicht, ob sie auf ihn gerichtet waren oder von ihm weg zeigten. Vor sechs Jahren waren diese Menschen einmal sein Team gewesen. Keine Sekunde hatte er gedacht, dass sich das ändern könnte. Aber natürlich war für sie die Zeit nicht stehen geblieben, sie waren nicht stehen geblieben, im Gegensatz zu ihm. Darum konnte er sich aber momentan nicht kümmern. „Ich gehe mich noch etwas umsehen", sagte er. „Bis später." Damit bog er in eine Seitengasse ab, in der sich Müllcontainer reihten.
Er hörte schnelle Schritte hinter sich, doch sie verstummten abrupt.
Zu nüchtern erhob Jongleur die Stimme: „Lass ihm etwas Zeit, Happy."
Brauchte er Zeit? Nach sechs Jahren Gefängnis, brauchte er da Zeit?
Chander tauchte in den Schatten unter, ließ sich durch die Stadt treiben, ohne Ziel. Vor Jahren hatte er jede Falte dieser Stadt, dieser schrulligen Lady namens Landra auswendig gekannt. Aber auch sie war nicht stehen geblieben, war vertraut und fremd zugleich.
Der Mond verblasste und überließ der Sonne das Feld. Erst als sie ihren höchsten Punkt erreichte, trat er den Rückweg an, im Schutz der Menschenmassen.
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