5.1: Jeder für sich und die Regierung gegen alle, nicht?
Acht Stunden Schlaf, ein abendliches Frühstück und eine HUS-Fahrt später standen Chander, Anatol und Weberin vor einem bebrillten Mann und einem der sichersten Türmechanismen des Landes. Im Laden oben herrschte ein Chaos an Maschinen, Werkzeugen und feinen, geschwungenen Musterstücken. Ein abstraktes Fenstergitter hier, ein verschnörkeltes Geländer da und unzählige Metallgegenstände, deren Sinn sich Chander nicht erschloss. Sie dagegen befanden sich gerade in einem geheimen Kellerraum, den Schlosser ganz seinem Hobby gewidmet hatte. Es war sauber hier und aufgeräumt. Keine Staubschicht und keine Spinnweben. Klar definierte Gänge mit rotem Teppich führten an in Vitrinen zur Schau gestellten magischen Schlössern und Gadgets, um ebendiese Schlösser zu knacken, vorbei.
Der Reine betrachtete den Kasten, der nur zur Veranschaulichung an einer freistehenden Tür mitten im Raum angebracht war. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf ihrem Rahmen. Sachte legte Anatol eine Hand auf das Metall des Sicherungssystems.
Schlosser schob sich näher zu Weberin, fixierte dabei starr die Tür, an der sich Anatol zu schaffen machte. „Während er versucht, das System zu knacken, könnten wir ja einen Kaffe trinken, Weberin?" Er hob die Schultern, steif und unspontan. „Wir müssen auch nicht weggehen. Ich habe Käsekuchen gebacken und ..."
„Also ich hätte gerne ein Stück Käsekuchen", flötete Anatol und wippte begeistert auf und ab. Rot hatte zu Grün gewechselt und die Tür stand offen.
„Äh?", kam es vom Schlosser. Er stürzte fast zu dem Kasten, um sich das Protokoll anzusehen. „Oh." Ein Glitzern war in seine Augen getreten, deutlich sichtbar, als er sich wieder an sie wandte, nach Worten rang. „Er ist ein Genie! Weniger als eine Minute, nur ein paar Sekunden, ich –"
Weberin drückte ihn beiseite und der Schlosser stolperte gegen die nächste Vitrine. Ihre Magie erwachte, ein dunkles Blau, das sich über den Kasten zog. Der Salzgeruch erinnerte ans Meer. „Keine Finesse." Sie gluckste überfordert. „Er hat die Sicherheitsmechanismen einfach plattgewalzt. Wer zum Henker ist das, Chander? Du wirst es mir nicht sagen, schon klar." Sie zog Schlosser Richtung Chander und wies mit dem Zeigefinger nach oben. „Geht und habt ein Kaffeekränzchen oder so. Ich werde ihm ein paar Grundlagen des Schlösserknackens beibringen."
„Meinst du das ernst?" Schlosser verschränkte die Arme. „Ich soll mit Chander hochgehen, während hier gleich zwei Genies herumwerkeln und sich austauschen? Wobei es sich bei einem um dich handelt? Das kannst du vergessen."
„Du störst hier nur, wenn du hinter uns herumwuselst und mir Blicke in den Hinterkopf bohrst."
Ein Stromschlag aus Wut zuckte durch Chander. Verfiel wirklich jeder auf den ersten Blick dem Charme des Reinen? Weil er Magie so natürlich manipulierte, wie andere blinzelten, weil er so offensichtlich Macht besaß, weil er so ein verfickt perfekter Bilderbuchmagiebenutzer war? Sein Blick traf auf Anatols, dessen Augenbrauen leicht zusammengezogen waren und Zähne seine Unterlippe bearbeiteten.
Dann blinzelte der Reine. „Ich hätte eigentlich lieber das Stück Kuchen, wenn das in Ordnung wäre?" Auf seinen Wangen breitete sich Röte aus und sein Lächeln sprach von Verlegenheit. Mit seiner Frage unterbrach er die Diskussion zwischen Schlosser und Weberin.
„Wir gehen jetzt", verkündete Chander und stakste auf den Ausgang zu. „Ich habe alles, was ich wollte."
„Aber Chander", begann Weberin, „ihr müsst doch sowieso bis morgen warten, bevor –"
„Wir. Gehen. Jetzt. Oder hast du dich schon um deinen anderen Auftrag gekümmert?"
„Wann denn?" Aus ihrer Stimme war von jetzt auf gleich jegliche gute Laune verschwunden. „Ich war den ganzen Tag über in der Fabrik arbeiten, weil wir nun mal auch Geld brauchen. Und anstatt mich dann zu Hause ausruhen zu können, werde ich von den eben erwachten Herren hierher geschleift."
Er wirbelte zu ihr herum, packte sie vorne an der Bluse und zog sie zu sich heran. „Ich kann nichts dafür, dass ihr ohne mich keinen vernünftigen Coup auf die Beine stellen könnt."
Mit einem auf seine Schutzvorrichtungen abgestimmten magischen Stromschlag brachte sie ihn dazu loszulassen. „Nach deiner Aktion standen wir erst mal ganz oben auf der Abschussliste. Wir wären beinahe ..." Sie biss die Zähne zusammen und schob sich an ihm vorbei. „Vergiss es. Interessiert dich ja sowieso nicht. Jeder für sich und die Regierung gegen alle, nicht?"
Hitze wurde durch Eiswasser ersetzt.
Weit kam Weberin nicht, da riss er sie am Handgelenk zurück. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung." Seine Stimme verkam zu einem heiseren Hauch.
„Bitte. Hört auf." Erst bei seinen Worten bemerkte Chander den Reinen neben sich. Anatols Hände waren erhoben, bevor er ihn berühren konnte in der Bewegung eingefroren. „Hört bitte auf zu streiten."
„Wir diskutieren nur sehr laut", widersprach Weberin, riss sich abermals los. „Das ist normal. Ciao, Schlosser." Im Umdrehen hob sie die Hand.
„Ihr wollt schon – Aber – Wie hat er – Ich würde dich gerne mal wieder zum Essen ausführen." Letzten Endes schien Schlosser seine Prioritäten geordnet zu haben.
„Ciao, Schlosser." Sie stieg die Treppen nach oben.
„Nächste Woche, Dienstag, 18 Uhr."
„Ciao, Schlosser."
„Auf Wiedersehen", stimmte der Reine mit ein und folgte ihr. „Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen."
Sie erreichten den offiziellen Laden und schlängelten sich durch das Labyrinth zur Tür. Wo Anatols Fingerspitzen über Regalseiten strichen, hinterließen sie eine sauberere Spur. Draußen quietschte das Metallschild im Wind, die Metallranken und -blätter bewegten und wanden sich. "Schlosserei" stand einfach darauf, in kantiger Schrift. Chander mochte diesen Laden, der gerade herausstach, weil er so unzeitgemäß war.
„Seid ihr zusammen?", wollte Anatol wissen.
Dafür erntete er nur einen müden Seitenblick von Weberin. „Weil er mich zum Essen einladen will und ich nicht zugestimmt habe?"
„Wegen deines Gesichtsausdrucks. Manchmal, wenn du ihn angesehen hast. Und wegen deiner Tonlage. So ... sanft."
Das verdiente schon eher ihre Aufmerksamkeit, denn sie wandte sich ihm ganz zu, um ihn aus schmalen Augen zu betrachten. Anatols vor Schreck geweitete Augen ließen sie aber nur den Kopf schütteln und lächeln. „Wir sind nicht zusammen, auch wenn Schlosser sich das wünscht. Es ist zu gefährlich. Für ihn. Er ist viel zu unschuldig, auch wenn er ein sehr besonderes Hobby hat."
„Vielleicht ist ihm das egal. Alles egal. Für dich." Da er dafür noch einen schrägen Blick erntete, fuhr er schnell fort. „Was hat er denn für ein Hobby?"
„Das Knacken von Schlössern, natürlich. Der Wille ist da, das Talent fehlt komplett." Ihre Mundwinkel zuckten, doch dann erlosch das Lächeln. „Du solltest nicht so viele Fragen stellen. Und dich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einmischen." Sie beschleunigte und ließ ihn zurück.
„Sie hat recht", sagte Chander, der die ganze Zeit hinter ihnen gelaufen war. „Zumindest nicht, wenn sie dich nicht darum bitten."
„Tut mir leid." Er sah zu Boden. „Auch, dass ich in der Schlosserei so auffällig war."
Das war also seine Schlussfolgerung gewesen, wieso seine Laune in den Keller gesackt war. Dementsprechend hatte er zumindest kein magisches Talent, Menschen zu durchschauen. „Schon gut." Eine Frage formulierte sich in seinen Gedanken: Wie kann jemand verkörpern, was man um alles in der Welt verabscheut und gleichzeitig ein Wesen sein, dem man keinen Hass entgegenbringen will? Es spielte keine Rolle. Der Reine war ein Mittel zum Zweck, ein Cheatcode der Extraklasse. Nützlich, so lange er sich nicht als Problem entpuppte.
Chander zog sich die Kapuze über, hüllte sein Gesicht in tiefe Schatten. Letzte Nacht hatte ihn in falsche Sicherheit gewogen, der Ausbruch und der Reine hatten ihm einen klaren Pfad aus dem Nebel, der sein Leben geworden war, gezeigt. Aber ein unbedachter Schritt und die grauen Schwaden würden ihn erneut verschlucken.
Je weiter sie liefen, desto mehr Menschen waren auf der Straße. Das Grau der Umgebung wurde von zahlreichen Lichtern von Läden gebannt. Es war nicht der Kern, aber dieser Stadtteil hatte dennoch seinen Charme. Alle paar Meter warb ein Reklamefeld links oder rechts für etwas anderes. Dahinter waren die Läden, die in Neonschrift um Aufmerksamkeit baten. Über ihnen manifestierten sich gerade Funken, die einen Drachen bildeten. Er kreiste einmal über ihren Köpfen und flog dann zu einem Restaurant, wo er es sich auf den Buchstaben des Namens gemütlich machte. Er meinte, Szechuanpfeffer zu riechen, Bohnen und gebratenes Fleisch. Verzerrt spiegelte sich Chanders Silhouette in den gesprungenen Glasfronten.
Weberin hielt vor dem Tattoo Studio "Beyond Reality", auf dessen Fassade gerade eine Gruppe Werwölfe von einem Totenschädel gejagt wurden. Adler trat heraus und begrüßte sie mit einem Handschlag und Chander und Anatol mit einem Nicken. Nur ein paar Minuten von dem Studio entfernt hüpfte Wiesel aus einem Restaurant, das in Neongelb erstrahlte. „Hallöchen!", rief sie ihnen entgegen. „Gut, dass ihr alle da seid, es ist heute wieder ordentlich was übrig geblieben." Nach und nach händigte sie allen zwei Tüten aus. Das Plastik der Tüten wölbte sich in alle Richtungen, berührte gerade so nicht den Boden, wenn man groß genug war. Wiesel musste ihre Tüten etwas weiter anheben. „Bis morgen", trällerte sie in den Laden und wurde vielstimmig verabschiedet.
„Arbeitest du hier, Wiesel?", wollte Chander wissen.
„Jup. Ist ein schöner Laden. Und der alte Besitzer ist sehr nett."
„Seit wann arbeitest du da?"
„Hmmmm." Sie sah auf zum Himmel. „Drei Jahre, vielleicht. Vielleicht etwas weniger, es kommt mir aber wie eine Ewigkeit vor."
„Sie mögen ihre fröhliche Art", kommentierte Weberin. „Es war sehr nett von Herrn Winston, sie einzustellen."
„Er hat es nicht bereut." Wiesel drehte sich zweimal im Kreis, die Tüten dehnten sich gefährlich. „Ich bin ein Naturtalent. Die perfekte Kellnerin Schrägstrich Barfrau."
Mit einem unguten Gefühl musterte Chander die Tüten. „Und wer soll das ganze Zeug essen?"
Die Schwestern tauschten Blicke aus. „Siehst du gleich", meinte Wiesel und lächelte ihm über ihre Schulter zu, bevor sie in eine Seitenstraße abbogen.
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