4.2: Sehr ... interessant.
Mehrere Stunden später stand er vor dem zweiten Schrank in seinem Zimmer. Sauber, von zartbitterschokoladenbraun zu honigblond gefärbte Haare an den Seiten kürzer und am Oberkopf länger und zu einem Seitenscheitel frisiert, Bart im Anchor-Stil. Jetzt fehlten nur noch die Gadgets, die einem magielosen Kriminellen wie ihm über den Tag halfen. Diverse silberne Ringe, lederne und metallene Armbänder und eine Halskette wanderten an die dafür vorgesehenen Stellen seines Körpers. Sich ein letztes Mal im Spiegel zunickend verließ er sein Zimmer.
Im Gemeinschaftsraum stolperte er über den Flauscheteppich und spielte kurz mit dem Gedanken, ihn zu Asche zu verbrennen. In der Küche angekommen drehte er an den Knöpfen des Herdes, ohne eine Reaktion zu erhalten. Nachdenklich musterte er seine Ausrüstung, die Ringe und Armbänder, und kam zu dem Ergebnis, dass ihm davon nichts helfen konnte. Dann würde es die Suppe wohl kalt geben.
„Der Herd ist kaputt", bemerkte eine Stimme hinter ihm.
Chander fuhr hoch und herum, seinen Daumen schon am Ring an seinem Ringfinger. Sah sich dem Reinen gegenüber. „Schleich dich verdammt noch mal nicht so ... Was? Hab ich was im Gesicht?"
„Hm? Nein, nein." Er lächelte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Ich war nur überrascht, wie gut du aussiehst."
„Überrascht, wie gut ich aussehe", echote Chander.
„Genau. Attraktiv, meine ich."
Chander blinzelte. „Ich weiß, was du meinst. Nur ..." Er fuhr sich durch die Haare. „Man sagt das nicht einfach so zu Leuten, die man nicht kennt."
„Oh", machte der Reine und sah nach oben. „Wieso nicht? Es ist doch nett?"
„Es führt zu unangenehmen Situationen."
„Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dich unwohl fühlst." Zu kurz hielt er seinen Mund geschlossen. „Und ab wann kennt man jemanden?"
Chander setzte zu einer Antwort an, stockte, wedelte mit der Hand durch die Luft. „Ich bin zu müde für so ein Gespräch." Hinter ihm begann die Suppe zu blubbern. „Danke", fügte Chander an.
„Sehr gerne."
Er goss sich die heiße Brühe in eine Schüssel und setzte sich im Aufenthaltsraum an den Tisch. Gegenüber von ihm ließ sich Anatol nieder.
„Weißt du, ich habe nichts dagegen, alleine zu essen, Happy."
„Ich habe nichts dagegen, dir etwas Gesellschaft zu leisten. Alleine zu essen ist doch einsam."
Jedweder Versuch zu lächeln wäre in die Hose gegangen, also ließ er es bleiben und konzentrierte sich auf seinen Löffel, auf dem etwas hellbraune Suppe vor sich hin dampfte. Bei dem würzigen Duft sammelte sich Wasser in seinem Mund und nach einem weiteren Zögern schlossen sich seine Lippen um das Metall. Seine Augen weiteten sich. Als hätte die Suppe ihn beleidigt, starrte er in ihre braunen Untiefen.
„Und?" Anatol sah ihn neugierig an.
„Ziemlich gut", gab er zu und meinte damit eigentlich: Perfekt temperiert und unverschämt köstlich.
„Das freut mich."
Um sich etwas Ruhe zu verschaffen, ging Chander zu dem weißen Radio in der Ecke. Ebenfalls neu, aber sie hatten seine Daten-Einheit aufgehoben. Er schob die DE in den dafür vorgesehenen Schlitz des Würfels, brauchte ein paar Minuten, bis er die richtigen Einstellungen gefunden hatte und dann rieselten die ersten Pianoklänge durch den Raum. Zufrieden gesellte er sich wieder zu seiner Suppe, die um keinen Grad abgekühlt war.
„Bravery. Ich liebe diese Melodie." Anatol seufzte und legte den Kopf auf seinen auf dem Tisch verschränkten Armen ab. „Sophie Nonato komponiert aber nur wundervolle Stücke."
„Stimmt. Eine Schande, dass sie damals nicht den ersten Platz belegt hat. Bei einer Talent..."
Der Reine hob die Schultern. „Narisara Phanit war mindestens genauso gut, am Ende war es Geschmackssache. Die Juroren haben sich für ihn entschieden, weil seine Musik moderner ist."
„Hm. Altmodisch sein ist nichts Schlechtes."
„Veränderung auch nicht."
Aus schmalen Augen musterte Chander ihn. Er fühlte sich angesprochen, aber Anatol hob bei dem langen Blick nur überrascht den Kopf, den Mund unschlüssig geöffnet, die Entschuldigung wahrscheinlich schon auf der Zunge.
„Richtig", stimmte Chander schnell zu und wechselte das Thema. „Hier hört niemand gern klassische Musik."
„Ja. Zuhause bin ich auch der Einzige, der sie mag ..." Anatol stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab und schloss die Augen. Die Melodie wurde schneller, näherte sich dem Höhepunkt, sprach von Freude und Unendlichkeit. Und dann kam die Kälte. „Ihre Musik ist so belebend. Und traurig zugleich."
„Sie bannt das Leben in ihre Noten."
„Ja, genau!" Anatol nickte begeistert.
Sie saßen da, lauschten einem Lied nach dem anderen.
„Du fühlst dich anders an", durchbrach der Reine schließlich die Stille.
„Hm? Liegt vielleicht an den Absorbierern." Er hob eine beringte Hand und krempelte seinen Ärmel hoch, unter dem diverse Armbänder zum Vorschein kamen.
„Das sind aber eine Menge." Anatols Mund stand erneut offen. „Sind die alle nur dazu da, Magie abzuwehren?"
„Nicht alle davon sind Absorbierer. Manche helfen mir auch einfach nur über den Tag. Bei Türen oder Schlössern, die mit magischer Energie geöffnet werden müssen. Oder Sensoren, die dich nur als menschliches Wesen erkennen, wenn du magisch genug bist. So was eben."
Jetzt sah der Mann ihm gegenüber noch verwirrter aus. „Ich verstehe nicht. Sind diese Dinger dafür gut, deine Spuren zu verwischen?"
„Nein. Ich besitze nur einfach fast gar keine Magie."
Chander war sich nicht sicher, ob Anatol noch perplexer dreinschauen konnte. Er übertraf sich gerade selbst.
„Aber ... aber ... Und dein Katalysator?"
„Wenn du nichts mit irgendetwas multiplizierst, hast du am Ende immer noch nichts", wiederholte Chander das, was ihm ein Arzt einmal gesagt hatte.
„Vielleicht hast du eine Blockade." Im nächsten Moment griff Anatol über den Tisch und umfasste seine rechte Hand. Der Reine sah ihn an, wartete ab. „Benutze sie."
Zwar verdrehte Chander die Augen, aber ein winziger Schimmer, ein Glitzern in dem schwarzen See seiner Gedanken, ließ ihn seine Magie aktivieren. Auf seiner linken Hand flackerte ein weißes Flämmchen, kleiner als das eines Streichholzes. Ein moderiger Geruch kitzelte in der Nase. Das sah Anatol wohl als Zeichen, seine Magie zu übertragen, denn seine Augen leuchteten golden auf und eine warme Welle fremder Magie schwappte durch Chanders Körper. Sie liebkoste sein Innerstes, füllte ihn komplett aus. Leitungen, nur ein brackiges Rinnsal gewohnt, wurden endlich von klarer Essenz geflutet, wurden endlich so benutzt, wie sie benutzt werden wollten. Die Flamme wuchs, züngelte Richtung Decke und verströmte den fauligen Duft von Moor. Ein Stöhnen entwich Chander, er schnappte nach Luft und riss sich los. Letzte Reste tröpfelten durch seine Energieleitlinien. Sein Öl war schon fast zu Beginn dieses Experiments aufgebraucht, das des Reinen nicht mehr zugänglich – die Flamme erlosch. Kälte blieb zurück, Eiskristalle, zerschnitten sein Innerstes, das noch immer betäubt war vom Magierausch. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er zitterte. „Scheiße ..."
„Tut mir leid." Anatols Stimme klang hoch vor Angst. „Ich wollte dir nicht wehtun. Soll ich jemanden –"
„Du hast mir definitiv nicht wehgetan. Eher im Gegenteil." Er lachte rau auf. Nur langsam verflüchtigte sich das Hochgefühl. Der Schmerz durch die Überbeanspruchung seiner Magie würde später kommen, aber er würde ihn begrüßen wie der alte Freund, der er war.
Die Panik wich aus dem Gesicht des Reinen.
„Also keine Blockade?", hakte Chander nach.
Anatol schüttelte den Kopf. „Weißt du", meinte er, „du bist wirklich ein Glückspilz."
Er hob die Augenbrauen, hatte schon ein paar gehässige Worte auf der Zunge. Dann erinnerte er sich an die vergangene Nacht. „Wir sind beide Pechvögel", widersprach Chander.
Etwas später saß Chander auf dem Bett in seinem Zimmer, den Blick auf den Bildschirm auf seinem Nachttisch gerichtet. Darauf zu sehen war Anatol, der sich in Embryonalhaltung auf der Matratze zusammengerollt hatte und sich immer wieder über die Augen und die Nase rieb. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Vielleicht bedeutete das, dass der Mann nicht ganz so naiv und in seiner Zuckerwattewelt gefangen war, wie es im ersten Moment schien. Zufrieden legte Chander sich schlafen.
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