4.1: Sehr ... interessant.
Ohne anzuklopfen öffnete Chander die Tür zu Thots Zimmer. Abgestandene Luft kam ihm entgegen, in die sich ein Duftstäbchengemisch eingenistet hatte. Rose war vielleicht dabei. Und Neuwagen.
„Wie oft soll ich euch Knallköpfen eigentlich –", begann Thot und unterbrach sich bei Chanders Anblick selbst. Ihm stand der Mund offen und seine Stirn zierten Furchen. So sah er aus, wenn er versuchte, ein besonders kniffliges Rätsel zu lösen. „Ach du liebe Güte ..." Er lachte auf, erhob sich von seinem Bürostuhl, umrundete den Metalltisch und kam näher. Langsam, als wollte er ihn nicht verscheuchen. Ein paar unangenehme Sekunden standen sie sich dann still gegenüber. Genug Zeit, um festzustellen, dass sich das Zimmer mit den deckenhohen Schränken nicht verändert hatte. Man hätte es kahl nennen können, wenn nicht die Schränke jedes Fitzelchen Wand einnehmen würden, ausgenommen den Bereich für das Bett. Der stach als einzig heller Fleck heraus. Thot nickte schließlich. In seinen zurückgegelten Haaren blitzte mehr Grau auf und die eine vorwitzige Strähne in seiner Stirn war ganz weiß. „Dir verzeihe ich dein respektloses Eindringen."
Mit einem schmalen, aber ernstgemeinten Lächeln nickte Chander zurück. „Ich brauche deine Hilfe."
„Ich brauche Antworten", erwiderte sein alter Freund prompt.
Da waren sie schon zwei. Chander neigte den Kopf.
„Hast du die Menschen getötet?", fragte Thot.
„Nein." Er leckte sich über die Lippen. „Kannst du mir das Video zeigen?"
Thot lief zum Schreibtisch, tippte auf der Tastatur herum und wischte vor dem Bildschirm nach rechts. Das Video entfloh den Schranken des Computers und schwebte jetzt vergrößert vor ihnen in der Luft.
Bildfelder flogen in konzentrischen Kreisen über einem Mann. Sie zeigten Männer, Frauen, Alte, Kinder. Allesamt dürr, blass und verängstigt.
Die Kamera zoomte heran.
Der Mann in Schwarz drehte sich um die eigene Achse, sodass sein Mantel aufbauschte. Sein Lächeln war übertrieben breit. Neben ihm schwebte ein grauer Kasten, der '0' anzeigte. Er blieb stehen und bewegte den erhobenen Zeigefinger von links nach rechts wie ein Pendel. „Tick, tack, tick, tack. Wenn euch etwas an den armen Leuten liegt, solltet ihr bald meinen Forderungen nachkommen. Ist doch gar nicht so schwer. 500 Millionen goldene Tauben für 500 Menschen. Ist ein Menschenleben denn nicht mindestens eine Million wert? Die Million für Rätin Cleo wurde doch auch einfach so bezahlt. Oder liegt es daran, dass es Menschen von Luna sind? Sind Flüchtlinge aus der Mondstadt vielleicht nur halb so viel wert wie Menschen hier?" Nicht-Chander legte sich nachdenklich einen Finger an die Lippe.
Wie Wiesel es immer tat, wenn sie nachdachte. Er hatte die übertriebene Geste vor Jahren seinem Repertoire hinzugefügt.
„Ihr habt keine Minute mehr, bevor ..." In einer Geschwindigkeit, die das Auge überforderte, schnellte die Zahl in dem grauen Feld in die Höhe. Bei 500 000 000 blieb sie stehen. „Seht euch nur die ganzen Rundungen an, ich liebe diese Zahl." Der Mann verbeugte sich. „Millionenfachen Dank. Jetzt wird es Zeit, dass ich mich verabschiede." Mit einem Satz war er vom Autodach, vergrub die Hände in den Taschen und schlenderte durch die Straßen.
Die Kamera wackelte, wurde nach oben gerichtet. „Oh mein Gott ...", hörte man jemanden aus dem Off murmeln. Am Himmel schwebte ein neuer Stern, nein, eine Sternschnuppe. Sank herab, wurde heller und heller. Und verglühte. Erneut bewegte sich die Kamera, zeigte blasse Gesichter, Tränen, Hände vor Mündern. Hunderte von Bildfeldern mit einem Kreuz. Nicht-Chander, der nach oben sah, vollkommen emotionslos. Dann zuckte sein linker Mundwinkel herunter. „Ich hoffe, ihr habt euch etwas gewünscht."
Das Videofeld wurde schwarz und zog sich in den Computer zurück.
„Unmöglich ...", murmelte Chander. Hatte er ...? Konnte er ...? Würde er ...? Nein. War da etwas schief gelaufen? Das Zucken seines Mundwinkels ... Sein Körper zitterte, ein kläglicher Versuch, die Zweifel abzuwerfen. Ein Kopfschütteln half schon eher. „Ich will herausfinden, was damals passiert ist."
In Thots Gesicht war nicht die geringste Spur von Zweifel an Chander zu sehen. Aber Thot war immer schwer zu lesen. „Theorien?" Mit der Linken wies Thot auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch, doch Chander lehnte das Angebot mit dem Wink seiner Hand ab.
„Jemand könnte meinen Geist manipuliert haben. Kannst du das überprüfen? Eine andere Möglichkeit wäre ein Gestaltwandler. Das wird schwieriger herauszufinden. Einen einfachen Doppelgänger schließe ich aus, immerhin wurde wer auch immer das war von verschiedenen Identifizierern eindeutig als Chander Ainsworth klassifiziert."
„Ja, das dachte ich mir ebenfalls schon." Thot hob seine Hände an Chanders Schläfen.
Eine Warnung wäre nett gewesen, aber für die Menschen war ihre Magie so natürlich wie atmen und niemandem kam in den Sinn, deswegen viele Worte zu verlieren. Für Chander war daran allerdings nichts natürlich. Er zwang sich dennoch, still stehen zu bleiben.
Thot konnte einen Geist nur abtasten und weder lesen noch manipulieren. Der Duft von frischgebackenem Brot breitete sich im Zimmer aus, brachte Chanders Magen zum Knurren. Doch sein Gegenüber bekam das gar nicht mit, blickte mit seinen hellbraun glühenden Augen in seinen Geist. Blinzelte. „Nein", murmelte er, „ich kann keine Anzeichen eines Eingriffs erkennen, keine Schnittkanten, Lücken, andersfarbige Segmente oder sonstige Auffälligkeiten." Er trat zurück.
„Wäre ja auch zu einfach gewesen." Manipulatoren hinterließen immer Magiespuren, durch die man sie aufspüren konnte. Chander rieb sich über die Nasenwurzel. „Also ein Gestaltwandler."
„Mir ist kein Fehler in seinem Verhalten aufgefallen. Dir?" Die Frage war ruhig gestellt worden, schob Chander aber etwas näher an den Rand der Klippe.
Nägel, die sich in Handballen bohrten, als er den Kopf schüttelte.
„Es müsste jemand sein, der dich sehr gut kennt", fuhr Thot fort. „Das grenzt die Suche etwas ein."
Er verzog den Mund, tat einen Schritt und sackte doch auf einen Stuhl. Holz ächzte unter der plötzlichen Belastung. „Ich kenne keinen Gestaltwandler. Zumindest wüsste ich nicht, dass ich einen kenne."
Einige Momente spitzte Thot die Lippen, kaute auf seinen Gedanken herum, während er auf die zweite Sitzfläche sank.
Er könnte mit Orlow reden, vielleicht hatte der Kontakte, die wussten, wie man einen Wandler fand. Schließlich konnte er ja nicht einfach in das ZPD spazieren. Ihm stockte der Atem, mit einem Ruck saß er aufrecht. „Hast du eine Liste mit Leuten, mit denen ich mal etwas zu tun hatte?", hakte Chander nach. Die Idee, die ihm gekommen war, trieb ihn fast von seinem Stuhl.
„Natürlich. Einschließlich DNS Proben. Informationen über einen Gestaltwandler sind aber nicht vorhanden."
„Ich werde herausfinden, ob sich unter ihnen ein Wandler verbirgt."
„Und wie willst du das tun?"
Das breite Grinsen schob sich auf seine Lippen. „Ganz einfach: Ich werde die Liste im Zentrum für Personenbezogene Daten mit den Daten der Regierung abgleichen." Chander beugte sich vor. „Und selbst wenn es keine Übereinstimmung gibt, kann ich vielleicht herausfinden, ob damals ein Wandler im Land war. Es könnte immerhin sein, dass der Wandler einen meiner Bekannten ersetzt hat, nachdem du die DNS-Probe genommen hast. Aber das wäre uns doch wohl aufgefa..."
Scharf lachte Thot auf, faltete die Hände und tippte sich an die Unterlippe. „Du willst ins ZPD? Amüsant, alter Freund. Zumindest hoffe ich, dass das ein Scherz war. Du solltest eine Nacht darüber –"
„Ach, mein Lieber. Ich muss dir etwas zeigen. Mein persönliches, goldenes Ticket." Jetzt sprang er doch von seinem Sitz und klatschte in die Hände. „Das wird wundervoll."
Thot musterte ihn, wie man jemanden musterte, an dessen Verstand man zweifelte. „Eines noch Chander", meinte er beiläufig, während er sich von seinem Stuhl erhob und sein Hemd glattstrich. „Sollte sich herausstellen, dass du die Flüchtlinge auf dem Gewissen hast, werde ich unsere Partnerschaft für nichtig erklären. Möge der Grund auch noch so gut sein."
Vielleicht dachte Thot tatsächlich, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. „Verständlich."
Sein Freund folgte ihm aus dem Zimmer. Es lag ganz am Ende, sogar noch hinter Chanders Raum. Ruhig, aber kleiner als andere.
Aus der Küche schallte ihnen irgendein schneller Takt eines Popsongs entgegen. Sie passierten Adler, der weiterhin am Tisch im Aufenthaltsraum saß und sich in seine Zeichnung vertiefte. Ein lächelnder Engel, dessen blutige Schwingen herausgerissen hinter ihm lagen, wenn Chander das richtig erkannte.
Ein strenger Geruch schlug ihnen entgegen. Im Türrahmen zur schmalen, länglichen Küche blieb er stehen, Thot sah ihm über die Schulter. Vor ihnen tanzten Anatol, Wiesel und Jongleur zwischen schwebenden Gewürzen, Hackfleischknäueln und weiteren Zutaten herum. Die Paprika zerteilte sich automatisch, ebenso die Pilze und beides wanderte zusammen mit Mais und Hackfleisch in die Pfanne, die bereits Zwiebeln anbriet. Weberin versuchte, ernst zu bleiben, wurde von der Bande aber dauernd mit eingebunden und ergab sich. Ihr Lachen gesellte sich zu dem der anderen.
„Wer ist dieser Mann?"
Chander musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Thot die Nase rümpfte.
„Ähm ... Happy." Es war dieser Anblick, der Chanders Hochgefühl einen netten Schlag in den Magen versetzte. „Er ist ein begabter Magier", schob er hinterher.
„Sehr ... interessant."
Mit glänzenden Augen kam Wiesel auf sie zu, den Reinen im Schlepptau. „Happy ist eine tolle Ergänzung für unser Team! Er sagt, er kann kochen!"
„Hier können eigentlich alle kochen", warf Thot ein und blickte zu Anatol. „Außer Jongleur. Der Mann ist so geschickt mit Bomben, aber eine Fertigbackmischung versaut er trotzdem mit links. Es ist so erstaunlich, wie es beunruhigend ist."
Wiesel verschränkte die Arme. „Ja, aber niemand hier kocht gern und ein paar kochen niemals. Ja, ich sehe dich an, Thot, und auch dich Adler." Sie stützte sich am Rahmen ab und stellte sich auf sie Zehenspitzen, um über Thots Schulter schauen zu können. „Und unser Boss ... der kocht nur gesundes Zeug und das ... trifft nicht meinen Geschmack."
Chander erwischte Wiesels Handgelenk, bevor ihre Finger in seiner Hosentasche nach dem Geldbeutel greifen konnten. Sie lächelte unschuldig zu ihm auf.
„Das wird auch gesund", sagte Anatol und deutete hinter sich zur Pfanne. „Aber lecker, ich verspreche es. Noch fünfzehn Minuten, dann können wir essen. Tut mir leid, dass es noch dauert."
Chander imitierte ihren Gesichtsausdruck, drückte noch einmal zu und entließ ihre Hand dann. ‚Netter Versuch', formten seine Lippen.
„Ach, du bist viel zu höflich." Weberin tätschelte Anatol die Schulter. „Du kannst ja nichts dafür, dass wir nicht viel Essbares hier haben und die beiden sich auf nichts einigen konnten." Sie sah ihre Schwester, die Chander die Zunge herausstreckte, und Jongleur an.
„Ich esse später. Leute, ich brauche für ein paar Sekunden eure Aufmerksamkeit." Chander sah sich um, bis er sich sicher war, dass jedes Augenpaar auf ihn ausgerichtet war. „Weberin, hast du immer noch Kontakt zu diesem Schlosser? Frag ihn, ob er eine Barriere hat wie die, die sie am Eingang des ZPD benutzen und ob wir versuchen können, sie zu knacken. Außerdem musst du die gefälschten IDs, die Adler für Happy und mich anfertigen wird, ins System bringen. Es muss nur für eine Nacht reichen und auch nur für den Fall, dass uns eine Wache überprüfen will. Außerdem brauchen wir Uniformen. Es wäre nett, wenn Wiesel oder Jongleur für Ablenkung im oder außerhalb des ZPD sorgen könnten, sollte das nötig sein. Das war's auch schon. Ach, quartiert unseren Gast im ersten Gästezimmer ein, ja?" Er klatschte in die Hände und verließ die Küche, durchquerte den Gemeinschaftsraum, verschwand im Flur und dann in seinem Zimmer. Erst dort entkam er den Blicken, die an seinem Verstand zweifelten.
Chander atmete durch und lehnte sich an die Tür. In seinem Raum sah alles exakt so aus, wie er es zurückgelassen hatte. Es war lediglich staubiger. Selbst sein Glas stand noch auf seinem Schreibtisch. Und seine Zimmerpflanze, die jämmerlich zugrunde gegangen war, den kläglichen Überresten nach zu urteilen.
Er stieß sich ab und ging zu seinem Kleiderschrank, hielt vor dem daran angebrachten Spiegel inne. Ein dürrer, verwahrloster Mann starrte zurück. Sechs Jahre hatte er sich nicht mehr gesehen. Sechs lange Jahre. Energisch riss er den Schrank auf und zog ein weißes Hemd, schwarze Hosen und Unterwäsche hervor. Dann verließ er das Zimmer, um zwei Türen weiter das Bad in Beschlag zu nehmen. In dem es jetzt anscheinend eine Regendusche gab.
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