3.2: Ana-was?
Sie stiegen dreimal um und jedes Mal verlor die Umgebung etwas von ihrem Glanz.
Der HUS, der sie zur letzten Station brachte, hatte nicht einmal mehr eine 1. Klasse. Die Sitze waren dunkelrot und fleckig und rau, als wäre etwas darauf ausgelaufen. Entsprechend klebrig war der Boden.
Immer wieder war ein Donnern zu hören, wenn die Magieschwankungen an einer Stelle zu groß wurden. Dann rumpelte der HUS, schlingerte mit flackernden Lichtern voran, bis er sich fing.
Über die Scheiben verlief buntes Graffiti, sowohl innen als auch außen. Anatol unterdrückte ein Gähnen, zeigte dann auf die Wand. „Ist das Kunst? Ich war noch nie an so einem faszinierenden Ort."
Ein Mann ihnen schräg gegenüber kippte den Rest seiner Flasche hinunter und stieß dann geräuschvoll auf.
„Ja", stimmte Chander zu. „Faszinierend, was manche Vertreter unserer Spezies zustande bringen."
Anatol versteckte sein Kichern in einem Hüsteln und hinter seiner Hand.
Der Mann mit dem Bierbauch und der leeren Flasche beäugte sie desinteressiert.
Jetzt doch dem Drang der Müdigkeit erlegen, sank der Reine in seinem Sitz zusammen. Seine Augen fielen zu, sein Kopf pendelte herab, was ihn wieder aufweckte. Unerklärlich, wie man in so einer Umgebung eindösen konnte. Das Spielchen wiederholte sich ein paarmal, bis Anatol das Heulen der Bremsen ganz in die Wirklichkeit zurückriss.
Stöhnend hielt das Massen-Shuttle und öffnete widerwillig seine Türen. An der Station erwartete sie kein angenehmeres Ambiente. Nicht mehr unangenehm stickig von zu vielen Körpern und Gerüchen, sondern kalt und muffig, einer Höhle gleichend. Wenige flackernde Lichter, ein paar dunkle Gestalten in dunklen Ecken. Das einfache Gestein, in das die Station gegraben worden war, präsentierte sich glitschig und moosbewachsen. Bei jedem Schritt schmatzte der Boden. Wenigstens prangten keine Politikerbilder mehr – es dauerte hier sowieso keine Sekunde, bis jemand sie mit Feuer, Spraydose oder Magie verschönerte.
„Wo gehen wir überhaupt hin?" Anatol blickte zu Boden und hüpfte neben ihm her. Platsch. Platsch. Platsch-platsch-platsch.
Der Angesprochene brauchte einen Moment, um diesen Anblick zu verarbeiten. Ein Welpe. Ein unschuldiger, dummer Welpe. „Zu mir nach Hause. Zu meinem Team. Da sehen wir dann, wie es weitergeht. Und wir können uns ausstatten. Und ausruhen."
„Ausruhen klingt gut", stimmte Anatol zu. „Ich bin hundemüde."
„Was du nicht sagst."
Bei den moosbewachsenen Treppen war der Reine vorsichtiger, testete jeden Schritt. Sich nicht zu schade sich an der Wand abzustützen, die dabei ähnliche Geräusche wie der Boden von sich gab, gelangte Chander schneller nach oben.
Tief sog der Reine schließlich die Luft ein und stemmte die Hände in die Hüften, als er oben zu Chander stieß.
„Sieh nur Chander, der Sonnenaufgang." Er breitete die Arme aus, sah zum Himmel und drehte sich im Kreis. Das Viertel, in dem sie sich befanden, war ähnlich heruntergekommen wie Orlows. Nur tauchte die Sonne den Himmel in Farben von orange bis rosa und verschonte die Fratzen der Häuser noch eine Weile mit ihrer Klarheit. In keiner der Wohnungen brannte Licht, es war fast, als hätten sie mit dem Zurücklassen des Stadtkerns eine andere Welt betreten.
Der Stadtkern war es, den der Reine gerade anstarrte, eine Furche zwischen den Brauen. Einer zweiten Sonne gleich wuchs das radioaktive Häusergeschwür im Westen in den Himmel.
„Komm schon", meinte Chander und nickte ihm zu, ihm zu folgen. Nicht weit die Straße herunter krabbelte eine Brücke über ein ausgetrocknetes Flussbett. An der Seite führten überwucherte Treppen nach unten zum Sockel der Stützpfeiler. Diese spröden Stufen bewältigte Chander schräg, fast seitwärts. Zu greifbar die Erinnerung, wie er einmal das letzte Viertel auf seinem Hintern zurückgelegt hatte.
Die Treppen endeten einen Meter über dem Boden. Nur ein paar Schritte nach rechts und er stand vor einer Tür, eingelassen in dem Pfeiler, der mit dem Flussbett verschmolz.
Er stellte sich davor und wartete. Nach dem Scan schwang sie geräuschlos auf und präsentierte einen Flur, der sich fast in Dunkelheit verlor. An seinem Ende ermöglichte es eine angelehnte Tür einem Streifchen Licht zu entkommen. Gedämpft drangen Stimmen zu ihnen, die lauter wurden, je näher sie der Tür kamen.
„Meint ihr, Kamsk macht ernst? Oder Cyndara? Stellt euch mal vor, ein Krieg zwischen den drei Großmächten um eine kleine Insel, die Jahrhunderte niemand wollte. Wie lächerlich." Demonstrativ lachte Jongleur sein Schmirgelpapier-Lachen.
„Können die nicht einfach teilen?", fragte Wiesel und klang dabei desinteressiert. Als Chander in den Raum trat, erkannte er auch warum: Sie pulte mal wieder an einer Kruste auf der warm kupferfarbenen Haut ihres Arms.
Sonst war nichts wie sonst. Die vier saßen an einem neuen, langen Metalltisch, um den sechs zueinanderpassende Stühle mit der gleichen Anzahl Beinen standen.
Jongleur hatte abgenommen. Erste graue Strähnen durchzogen sein blondes Haar. Und er trug einen Bart. Chanders Augen verengten sich.
„Teilen? Die Großmächte? Sei nicht so naiv, Schwesterchen." Weberin schob sich einen Löffel Joghurt in den Mund und zog eine verirrte, braune Haarsträhne von ihren Lippen. Ihre Haare waren mindestens doppelt so lang wie noch vor einigen Jahren. Sie stupste Wiesels Hinterkopf mit dem Becher an. „Oder unaufmerksam. Wenn es zum Krieg kommt, betrifft es auch uns."
Darauf verdrehte Wiesel nur die Augen und nuschelte etwas in ihren Espresso.
Gestrichen hatten sie auch – die ehemals weißen Wände waren weinrot. Keine nackten Glühbirnen mehr, sondern richtige Lampen in Blumenform. Und es lag tatsächlich ein runder, weißer Teppich in der Mitte des Raumes. Flauschige Büschel standen von ihm ab.
Alles war so normal, einschließlich seines Teams.
Es gefiel ihm nicht.
„Ihr seid alle unaufmerksam geworden", stellte Chander fest.
Vier Augenpaare zuckten zu ihnen herum.
Starrten.
Starrten.
„Chef!", quietschte Wiesel und sprintete auf ihn zu. Ihre zurzeit rot-orange-gelb gefärbten Haare wehten hinter ihr her und gaben ihr etwas von einer Fackel. Sie schlang die Arme um ihn. Wenigstens sie hatte sich nicht verändert, also verzieh er ihr die Umarmung. Bevor er sie sanft zurückschob. „Scheiße! Du bist es wirklich!"
Jongleur und Weberin kamen etwas langsamer nach. Während Jongleur nicht wusste, wohin mit seinen Händen und Armen und Gedanken, grinste ihn Weberin an und klopfte ihm auf die Schulter. „Schön, dass du wieder hier bist. Wurde anscheinend höchste Zeit, so scheiße wie du aussiehst."
„Ja", stimmte Jongleur ein, „schön, dass du wieder da bist!" Er klatschte einmal in die Hände und rieb sie aneinander. „Jetzt kommt endlich wieder etwas Schwung in die Bude."
Adler blieb am Tisch sitzen, über ein Stück Papier gebeugt, hob aber die Hand zur Begrüßung. Sogar er sah anders aus, sein Körper noch übersäter von Tattoos. Immerhin machte seine dazwischen hervorblinzelnde Haut hinsichtlich ihrer Farblosigkeit sonst weiterhin Weberins Joghurt Konkurrenz.
„Dieses Loch hat meinem Körper, aber vor allem meiner Laune nicht gutgetan." Chander erlaubte sich ein kleines Lächeln und nickte in die Runde. „Ich bin auch froh, wieder hier zu sein, Leute." Er schob sich an ihnen vorbei Richtung Tisch, lehnte sich dagegen, stützte sich mit den Händen ab und betrachtete sein Team.
„Wenn jemand aus diesem Gefängnis ausbrechen kann, dann unser Boss." Jongleur wirkte so zufrieden, als wäre irgendetwas davon sein Verdienst. „Ich hab immer gewusst, dass wir dich wiedersehen werden."
„Du hast geheult wie ein Schlosshund und gejammert, dass jetzt alles für immer aus ist", widersprach Weberin trocken, worauf Wiesel kicherte und nickte.
„Wie bist du denn entkommen?", fragte Wiesel.
Chanders Fingerspitzen tippten einen schnellen Rhythmus auf die Platte. Regen auf Wellblechdächern.
„Später. Unser erstes Ziel wird es sein, herauszufinden, wer mir damals diese Scheiße angehängt hat. Ich gehe kurz zu Thot. Wäre nett, wenn bei meiner Rückkehr etwas Essbares auf dem Tisch stehen würde."
„Da hat sich jemand aber überhaupt nicht verändert", murmelte Weberin. Zwar war da ein Lächeln auf ihren Lippen, aber es hatte etwas Verspanntes.
„Und was ist mit dem Kerl da?" Wiesel stolzierte um Anatol herum, betrachtete ihn ausgiebig.
„Mein Name ist Ana..."
„Nein, nein, das lassen wir hier schön bleiben", fuhr Chander dazwischen.
„Dein Name ist Anna?", hakte Jongleur nach und kratzte sich am Bart. „Ist das nicht ein Frauenname?"
„Nein, er sagte Ana, wie in –" Mit einem Finger an der Unterlippe sah Wiesel nach oben. „Wie in ana...", begann sie mit einem dreckigen Grinsen, bekam aber den Ellenbogen von ihrer Schwester Weberin zwischen die Rippen.
„Ananas", half Anatol aus. „Oder anachronistisch."
„Ana-was?" Jongleur sah verwirrter aus als vorher.
„Ananas?" Die Verwirrung spiegelte sich im Gesicht des Reinen.
„Sein Name ist Happy!", stellte Chander mit Nachdruck klar, um diese Comedy-Show zu beenden. „Wie gesagt: Thot. Essen. Und benehmt euch, Kinder." Mit diesen Worten rauschte er aus dem Zimmer.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro