18.2: Vater hat mich ausgebildet.
„'Kennen' ist vielleicht zu viel gesagt", ergänzte Ansel. „Vater hat mich so gut er konnte von seiner Arbeit", er machte eine Kunstpause und bohrte mit seinen Augen Löcher in Anatols Hinterkopf, damit erst gar keine Zweifel aufkamen, wen er mit ‚Arbeit' meinte, „ferngehalten. Und hier haben wir uns auch nicht oft gesehen."
Das brachte Anatol dazu, die Augen zu verdrehen. „Aber dennoch bist du genau wie ich hier gelandet, als folgsames Spielzeug der Regierung."
„Anatol?", begann Ansel, bohrte dabei die Finger in die Polsterung. „Du weißt, dass ich das tun musste. Muss." Es klang wie eine Entschuldigung, wie eine Frage nach Absolution.
Der große Dino hatte offenbar seine Freunde zusammengetrommelt, vier Exemplare hetzten hinter und neben dem Shuttle her.
„Du führst nur Befehle aus, ich weiß das", gab Anatol zurück, sanfter, begegnete aber weiterhin nicht dem Blick im Rückspiegel, den Ansel suchte. Die Knöchel seiner Hände am Lenkrad traten weiß hervor. „Ich werde aber weder vergessen, dass du Yuri getötet hast, noch werde ich dir das jemals verzeihen."
Mit Karacho prallte ein hellbrauner Dino gegen eine Luftwand.
In der Stille im Wagen hörte man das Rascheln von Stoff, als sich Ansel ruckartig vom Rückspiegel abwandte. „Der Befehl, das Land zu schützen, steht über dem Befehl, euch zu töten. Vater sagte mir, dass du dich auf den Weg zum Tempel des Ursprungs machen würdest, um die Leitlinien zu reparieren. Bis das erledigt ist, werde ich dich noch am Leben lassen, aber danach muss Anurús Macht ins Dazwischen geleitet werden, sodass unser neuer Reine damit ausgestattet werden und Genrivien beschützen kann."
Chander lachte auf und sah über die Schulter. Auch, weil er sich unwohl fühlte, diesen Jäger wortwörtlich im Nacken zu haben. „Vielleicht lassen wir dich nicht so lange am Leben."
In Ansels Blick lag Desinteresse, als er langsam den Kopf neigte, um ihn zu mustern. „Anatol wird mich in seinem Zustand kein einziges Mal mehr übertreffen können. Vater hat mich ausgebildet. Er hatte leichtes Spiel mit Ihnen, ich werde es kaum schwerer haben." Drei Dinosaurier sprangen gleichzeitig auf das Shuttle zu, doch wurden im Flug in Einzelteile zerlegt. Rote Tropfen sprenkelten das Metall, der süßlich-fruchtige Duft nach Rosen füllte den Wagen.
Die Härchen in Chanders Nacken stellten sich auf.
„War das wirklich nötig, Ansel?", fragte Anatol leise.
„Wenn du so fragst wahrscheinlich nicht."
Stöhnend lehnte sich Chander zurück und massierte sich die Schläfen. Und er hatte schon gedacht, seine Familie wäre verkorkst. Er hatte allerdings auch gedacht, der Tag könnte nicht verrückter werden. Der Sensenmann aka Doktor Brandts Adoptivsohn auf dem Rücksitz bewies etwas anderes. „Ich weiß, mich fragt niemand, aber ich bin gegen diese Allianz. Haben Sie noch vor, auszusteigen, Mister ...?"
„Brandt", antwortete Ansel.
„Aussteigen ... Stimmt ..." Jetzt sah Anatol doch in den Rückspiegel und verdrehte erneut die Augen. „Du hast dich wieder verausgabt. Wie geht es dir?"
Ansel erwiderte das Augenrollen. „Gut."
„Dann wärst du jetzt nicht hier im Shuttle."
„Was fragst du dann, hä?"
„Weil er ein herzensguter Mensch ist", schaltete sich Chander ein. „Sonst wären Sie jetzt nicht hier im Shuttle. Ich heiße das hier übrigens immer noch nicht gut."
Er machte eine wegwerfende Handbewegung, wischte damit Chanders Beschwerden weg. „Anatols Überlebenschancen sind mit mir um einiges höher. Außerdem habe ich auch nicht unbedingt ein Interesse an einer Allianz mit Ihnen."
„Wenn du ihm irgendetwas antust, kann die Welt von mir aus untergehen." In Anatols Stimme lag eine ungewohnte Schärfe und Bitterkeit. Es fuhr Chander angenehm durch den Körper.
Gähnend streckte sich Ansel aus, lehnte sich zurück und sah zur Decke. „Vater warnte mich schon, dass du einen Narren an dem Lunarier gefressen hast. Er versteht es nicht."
Anatol wechselte einen Blick mit Chander. In den golden beschatteten Augen stand das ‚Vertrau mir' allzu deutlich.
Chander nickte.
Vom Rücksitz war ein Schmerzenslaut zu hören, Anatol vorne sog die Luft ein, während über Chanders Haut ein Kribbeln lief. Hinten hatte Ansel die Beine angezogen und eine Hand in seinen Umhang über seinem Brustkorb gekrallt.
„Was hat er?"
„Die Magieschwankungen machen ihm zu schaffen, pfuschen ihm in den laufenden Prozess. Sie ... ziehen an aktiver Energie, schwächen ab oder verstärken kurzzeitig.", erklärte Anatol sachlich, ohne ein Anzeichen von Mitgefühl. „Sein Herz funktioniert nicht so, wie es sollte. Ansel war ein Straßenkind, niemand hat sich für sein Leiden interessiert." In seine Stimme hatte sich wieder ein sanfterer Unterton gemischt, doch er schien es zu bemerken und sich zu sammeln. „Also hat er sich selbst geholfen. Luftmagie hält sein Herz zusammen und den Kreislauf aufrecht, zu jeder Sekunde des Tages. Wenn er uns angreift, kannst du dir das vielleicht zu Nutze machen. Er ist allerdings unglaublich mächtig und talentiert; es ist kein Wunder, dass Brandt ihn aufgenommen hat."
„Passe ich damit ..." Ansel holte Luft. „Passe ich damit nicht in eure groteske kleine Gruppe der Unnützen?"
„Nein", erwiderte Chander. „Die Aufnahmekriterien sind etwas strenger. Können wir ihn nicht einfach hier zurücklassen?"
Doch Anatol schüttelte nur den Kopf und presste die Lippen aufeinander.
So düster seine Miene war, so dunkel war es von einem auf den anderen Wimpernschlag draußen. Der Reine schaltete die Scheinwerfer an, deren Licht von der Finsternis aufgesaugt wurde. Sie schafften es kaum, fünf Meter vor ihnen zu erleuchten, weswegen Anatol langsamer fuhr.
Weißlich flackerten Schemen auf, kämpften effektiver gegen das Dunkel. Erst hielt Chander sie für Geister, aber als immer mehr entzündeten, erkannte er Quallen. Sie schwebten durch die Luft, als würden sie das jeden Tag tun. Und vielleicht war das auch so, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
Außerhalb des Waldes wurde erst klar, wie viele Exemplare es sein mussten. Egal wohin er sich wandte, sie füllten den nachtschwarzen Taghimmel aus und schenkten genug Licht, dass Anatol wieder beschleunigen konnte.
„Wir leben schon so lange mit Magie, aber verstehen tun wir sie immer noch nicht ganz." In Ansels Stimme schwang eine Art Bewunderung mit, eine Sorglosigkeit, die normalerweise nur Kindern vorbehalten war. „Dabei ist sie die Hauptstütze unserer Gesellschaft. Viele gehen davon aus, dass Magie weder gut noch schlecht ist, sondern das, was der Mensch daraus macht. Für manche bedeutet die Wahrheit, dass Magie gut ist und helfen will. Ich bin der Meinung, dass Magie zwei Seiten hat. Sie kann Wundervolles erschaffen, sie hat aber auch das Potential alles zu zerstören ... Es ist so inspirierend."
Chander machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen, sagte gereizt zur Windschutzscheibe: „Danke, für diesen unverlangten Monolog. Wenn ich das Bedürfnis verspüre, mit Ihnen eine philosophische Unterhaltung über irgendetwas zu führen, werde ich Ihnen Bescheid geben."
„Vater hat mich schon gewarnt, dass Sie nicht sonderlich spannend sind. ‚Ein kleiner Mann, der es nicht lassen kann, sich auf seine nonexistente Magie zu reduzieren und sich aufplustert, um davon abzulenken. Oft egoistisch und rücksichtslos, weil ihm selbst in seinem Leben nur Unrecht angetan wurde.'"
Den Fehler, in den Rückspiegel zu gucken und dem Feixen zu begegnen, bereute Chander sofort. „Da hört sich aber einer gern reden."
„Stimmt", sagte der Sensenmann.
Weiße Schemen explodierten wie suppentellergroße Feuerwerke und nahmen die Dunkelheit mit sich. Anatol legte eine Vollbremsung hin und Ansel flog gegen den Rücksitz. „Fuck, was soll der Scheiß, Ana?"
Kein Geräusch war zu hören. Sie befanden sich auf einer Ebene, aber nicht auf der, die sich hinter dem Wald befinden sollte. Soldaten rannten durcheinander, Chander sah keine Ordnung darin. Ein paar trugen das Osmium-Blau von Kamsk, die meisten jedoch das Silber-Grün von Cyndara oder Gold-Rot von Genrivien. Einheitlicher waren ihre Gesichtsausdrücke: aufgerissene Augen, in denen man das Weiß sehen konnte und zusammengebissene Zähne. Für den Moment schien der Kampf vergessen, regneten doch stahlblaue Magieklumpen herab und zerfetzten Leben unabhängig jeglicher Landeszugehörigkeit. Nein, zerfetzen war nicht das richtige Wort. Ein Klumpen traf eine Gruppe Kamsken und ließ nichts zurück, einem Cyndarer wurde ein Loch in die Seite gerissen, als hätte jemand sauber abgebissen und ein Shuttle schmolz zu einem See zusammen.
Es knackte und knisterte, aus unsichtbaren Lautsprechern wurden Schreie in Dolby TrueHD Sound ausgespuckt. Totenklänge brannten sich in Chanders Trommelfelle.
Ein Mann saß vielleicht zwei Meter von ihrem Shuttle entfernt auf der Ebene und krallte seine Finger in seine roten Haare. Sein Mund war zu einem unendlichen Schrei geöffnet, aber hören tat man ihn nicht. Aus stahlblauen Augen rannen stahlblaue Tränen. Uniformierte schrien Worte in einer anderen Sprache auf ihn ein, rüttelten und zogen an ihm. Als der Mann zusammenzuckte, übertrug sich die Reaktion auf die Umgebung. Von einer Druckwelle getroffen flogen seine Peiniger mehrere Meter von ihm weg. Der Mann sah auf, sein unsehender Blick direkt gerichtet auf Anatol. Ein zerfurchter Arm hob sich, dürr wie ein rissiger Ast, Finger streckte sich zitternd aus. Lippen formten ein Wort: Hilfe.
Anatol fummelte an seinem Gurt herum, doch Ansel packte seine Handgelenke. Ein kehliger Laut verließ Anatols Mund, er warf sich hin und her, prallte wiederholt mit Rücken und Kopf gegen den Sitz.
„Lass mich los! Lass mich – Ich muss –"
„Sei nicht dumm, Anatol!", brüllte Ansel zurück. „Du kannst ihm nicht helfen!"
Chander spürte nur eine leichte Brise von dem Luftstrom, den Ansel in den Rücksitz schleuderte. Dennoch war der Sensenmann nur wenig später als Anatol und Chander selbst aus dem Wagen. Im selben Moment, in dem Chander Anatols rechtes Handgelenk umschloss, hatte sich Ansel herankatapultiert und packte Anatols linken Arm.
Ansel baute sich vor dem goldenen Reinen auf. „Wir sind nicht in Kamsk, wir sind noch in Genrivien. Das ist nicht real! Es ist nicht real, Anatol! Es ist schon geschehen. Konzentriere dich lieber darauf, dich zu retten. Verdammt noch mal!"
Alle drei hielten inne, sobald eine Soldatin durch sie hindurch spazierte, als wären sie die Hologramme hier. Die Frau kniete sich vor den kamskischen Reinen und schloss ihn in die Arme. Ein Lächeln verzog seine Lippen, bevor er es in ihrer Schulter vergrub.
„Augen zu!", befahl Ansel.
Mit der Explosion des Reinen von Kamsk verging die Welt in Feuer und Staub.
Sie waren umgeben von einer grünen Wiese. Vor ihnen, dort, wo der stahlbalue Reine gesessen hatte, brach das Grün dank einer Schlucht jedoch abrupt ab.
Ansel ließ Anatols Handgelenk los und Chander plumpste auf den Hosenboden, neben Anatol, der sein Gesicht gegen Chanders Schulter drückte. Zumindest hatte Chander genug Kompetenz, ihn in eine halbe Umarmung zu ziehen.
Mit einem Seufzen wanderte Ansels Blick zu Anatol. „Ich ..."
„Ich weiß", murmelte Anatol, gedämpft durch Chanders Umhang.
Der Sensenmann seufzte erneut und betrachtete den Himmel. „Vater hat mich gebeten, dich nicht umzubringen."
Diese Aussage ließ ihn sich von Chander losreißen und die Augenbrauen heben.
„Er meint, dass er zu viel Zeit in dich investiert hat und schon Experimente für ein Mittel zur Kurierung von Magievergiftung plant."
„Natürlich tut er das." Anatol schüttelte den Kopf, lächelte aber milde.
„Ja. Allerdings ist ihm Anthony da ein Dorn im Auge." Dasselbe milde Lächeln war jetzt auch auf Ansels Lippen zu sehen. „Vater meint ... Er meint, dass, wenn wir das alles überstehen, er uns alle jeden Freitag zum Waffelessen einladen wird."
Anatol kicherte und lehnte sich wieder an Chander. „Das klingt so normal. Langsam wird er wirklich alt."
„Das werden wir wohl alle ..."
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