15.2: Gehirn.
Sie sprangen durch das Loch in der Wand. Die Augen des Schlittenführers wanderten von der Pistole, die auf ihn ausgerichtet war, zu dem Dolch, den der auf dem Boden sitzende Anatol in der einen Hand hielt, während er mit der Anderen ein Taschentuch aus seiner Hosentasche kramte. Seelenruhig begann er, die Klinge abzureiben. Mittlerweile war sein Gesicht fast gar nicht mehr unter der Kapuze zu sehen. Chander fragte sich, ob der Reine wusste, wie respekteinflößend er gerade aussah.
„Guten Tag, ich gehe davon aus, dass sie vom Ausbruch der Zombies wissen", setzte Anatol an und fuhr nach einem Nicken des Schlittenführers fort: „Wir sind offenbar keine Zombies, äh, Geketteten, meine ich, und wollen Ihnen offenbar nichts tun." Demonstrativ streckte er eine Hand aus, legte sie auf Chanders Waffenarm und drückte ihn nach unten. „Sie müssen die Waggons abkoppeln, wenn Sie nicht eine Horde befreite Gekettete in bewohntes Gebiet transportieren wollen. Und uns dann nach ... Wohin soll er uns bringen?"
„Lass uns bei Odetha raus." Ihm fiel jetzt erst auf, wie jung der Kerl vor ihm war. Sein Gesicht hatte diese kindliche Weichheit, vor allem die großen blauen Augen, die unsicher zwischen Chander, Anatol und den Überwachungsvideos der Waggons hin und her zuckten. Unter der Haut seines Halses hüpfte sein Adamsapfel auf und ab.
Schlittenführer-Junge tat einen zittrigen Atemzug, fuhr sich über die Stirn und wischte seine Hand an der Hose ab. „Ich wollte diesen Scheißjob überhaupt nicht machen", kam es kläglich aus ihm heraus. Dann gab er sich sichtlich einen Ruck und tippte auf der Steuerkonsole herum. „Das Handbuch sieht sowieso vor, die Wagen abzukoppeln, sollten die Dinger entwischen." Zögerlicher sah er zu ihnen. „Aber ich muss das melden, damit sich jemand darum kümmert."
„Das ist in Ordnung", versicherte Anatol.
Der Sensenmann war ihnen auf den Fersen und übermittelte bestimmt ihre Positionen, dementsprechend gleichgültig hob auch Chander die Schultern. „Lass uns einfach bei Odetha raus."
Kurz sah es so aus, als wolle Schlittenführer-Junge etwas sagen, nickte aber nur und beschäftigte sich weiter mit der Tastatur, den Knöpfen und Hebeln.
Zumindest sah Chander ihm dabei über die Schulter und tat so, als hätte er eine Ahnung von dem, was er tat. Das reichte hoffentlich, um den Jungen davon abzuhalten, etwas Dummes zu tun.
Sie legten sechzig Kilometer zurück, dann bremste der Junge das einsame Führerhaus ab. Vor ihnen ragten die Überreste eines Dorfes auf. Schon von weitem erkannte man, dass kaum ein Haus den magischen Geschossen entgangen war. Zu einem ersten verirrten Krater mit einem Durchmesser von fünf Metern, gesellten sich bald weitere. Ein pinkes Shuttle lag auf dem Dach und gab, eingedellt und an der Schnauze rußgeschwärzt, ein seltsam trauriges Bild ab.
Je näher sie kamen, desto langsamer krochen sie dahin, bis Chander darüber nachdachte, die letzten Meter zu laufen.
Das Bahnhofsdach deckte einen Panzer zu. Dankenswerterweise dachte der Schlittenführer-Junge mit und hielt davor an, sodass sie neben dem Trümmerhaufen aussteigen konnten. Sein Blick glitt über die Steinblöcke, zuckte hin und her, was Chander in Alarmbereitschaft versetzte.
„Haben sich hier Plünderer niedergelassen?", fragte Chander. Er sprang aus dem Führerhaus, weg von dem Schweiß-Mief, und glitt fast auf den Steinchen auf dem Bahnsteig aus.
„Hm? Nein ..." Er sah sich noch einmal um, zupfte an seinem Hemdsärmel. „Leute meiden den Ort. Die Toten sind hier ruhelos." Der Junge deutete Chanders Blick anscheinend richtig, lachte los und fuhr wieder an. „Ja, ich weiß, wie das klingt."
Chander zwinkerte Anatol zu, winkte ihm, ihm zu folgen.
Natürlich konnte der Reine nicht gehen, ohne dem Jungen hinterherzublicken. „Vielen Dank fürs Mitnehmen!", rief er, bevor er zu Chander aufschloss.
„Ich liebe abergläubische Menschen", erklärte dieser. „Sie sind so leicht zu manipulieren. In diesem Fall bedeutet es aber noch etwas anderes: Vielleicht finden wir etwas Nützliches. Ich habe natürlich theoretisch genug für die Reise eingepackt, aber ... Es schadet ja nicht, sich hier etwas umzusehen."
„Hmhm", machte Anatol, runzelte dabei jedoch die Stirn und schien interessierter an ihrer Umgebung.
Das halbe Ortsschild hatte seinen Weg hierher gefunden und stellte, weiß auf blau, "Ode" zur Schau. Chander machte genauso einen Bogen darum, wie um die Äste des gespaltenen Baumes am Wegesrand. „Sag mal ... Was ist da eigentlich auf dem Magnetschlitten passiert?"
„Hmm."
„Anatol?"
Er sah ihn an, blinzelte. „Hm? Auf dem Schlitten? Ich bin mir nicht sicher ... Irgendeine wissenschaftliche Erklärung wird es wohl geben."
Zwar war Chander unzufrieden mit dieser Antwort, aber immerhin hatte er überhaupt eine erhalten. „Und was fesselt hier deine Aufmerksamkeit so?"
Frustriert zog Anatol eine Schnute. „Ich weiß es nicht. Es fühlt sich komisch an. Vielleicht sollten wir gehen."
„Was fühlt sich komisch an? Und was meinst du mit komisch?"
„Ich ... Hmpf." Anatol drehte sich einmal im Kreis, während er ihm weiterhin folgte. „Jetzt ist es weg."
„Das komische Gefühl?", hakte Chander nach.
„Ja." Rechtzeitig wanderte die Aufmerksamkeit des Reinen zum Boden, sodass er seinen Schritt weiter vorne platzieren konnte. Drei kleine Blümchen dankten es ihm mit dem Nicken ihrer Köpfe.
„Vielleicht bist du nur abgespannt und paranoid", sagte Chander und ließ trotzdem selbst den Blick schweifen. „Oder du hast dich von dem Geschwafel des Jungen beeinflussen lassen." Der Anblick erinnerte ihn an Landra, nur in kleinerem Maßstab. Außerdem waren hier keine Aasgeier unterwegs gewesen. Sonst würde da keine Jeans auf dem Boden liegen, dort kein einohriger Teddybär seinen Kopf und einen Arm aus den Trümmern strecken, hier kein Magiespeicher herumliegen. Letzteres hob Chander auf, begutachtete das Ding mit den rostroten Flecken und steckte es ein.
Ein Windhauch drückte ihm einen süßlichen Geruch in die Nase, der sich sofort darin festbiss. Sie tauschten keine Worte aus, bogen einfach synchron nach links in den Schatten einer Seitengasse zwischen einem erhaltenen Restaurant links und einem Gebäude rechts, das nur aus einer Mauer und Schutt bestand, um dem Leichengeruch zu entgehen.
„Wie ist es dir eigentlich die letzten Jahre ergangen? Hast du mich vermisst? Hast du wenigstens für kurze Zeit ein normales Leben führen können, nachdem deine Weste weiß war?" Anatols Augen schienen jede Regung in Chanders Gesicht erfassen zu wollen. Es klang wie neckender Smalltalk. Normal. Voller Leichtigkeit.
„Wie es mir ergangen ist?", wiederholte er und wunderte sich selbst darüber, dass sich über seine Stimme eine raue Ascheschicht gelegt hatte. Ein seit Jahren für gelöscht gehaltenes Feuer entfachte erneut. „Nachdem du verschwunden bist und unsere Namen reingewaschen hast, hat sich mein Team aufgelöst. Dann ist der Krieg ausgebrochen und Wiesel und Schlosser kamen ums Leben. Was denkst du denn, wie es mir ergangen ist, hä? Wie ist es denn dir ergangen? Als Schoßhund dieser Wissenschaftler und dann der Regierung? Als Soldat an der vordersten Front? Bei uns hättest du ein besseres Leben haben können. Bei uns hättest du ... Das ist eine dumme Frage, die kannst du dir sonst wohin stecken."
Das Lächeln war schmaler geworden, aber immer noch präsent, als er erwiderte: „In Ordnung." Und etwas leiser: „Das mit Wiesel und Schlosser tut mir leid."
Chander schnaubte. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?"
„Was soll ich denn sagen?", fragte er mit belegt hoher Stimme und wischte sich ruppig über die Augen. „Dass ich nichts auf die Reihe bekomme und alles vermassele, selbst wenn ich versuche, Gutes zu tun? Dass ich nicht weiß, was ich tun soll und zu unfähig bin, eigene Entscheidungen zu treffen und deswegen meinem vorgeschriebenen Pfad folge? Dass ich mir jede Woche an mindestens einem Tag wünsche, bei euch geblieben zu sein?" Mittlerweile liefen die Tränen sichtbar seine Wangen herab und er musste sich nach Luft japsend an der Mauer rechts abstützen. Die unbeeindruckt unter seinen Fingern nachgab und sich zu ihren Freunden auf den Schuttberg gesellte.
Als sich der Staub lichtete, verblieb Anatol einige Herzschläge länger in Chanders Umarmung. Er hatte ihn in den Schutz der parallel verlaufenden Hauswand gezogen und einen Luftschild um sie erschaffen, der sich jetzt auflöste. Der Staubgeruch legte sich wie eine schwere Decke auf alle anderen Düfte.
„Zum Beispiel", meinte Chander und spezifizierte: „Das könntest du zum Beispiel sagen, ja."
Der Reine riss sich los, sodass er ihm einen guten Blick auf seine glühenden Augen gewährte. „Ich kann nichts dafür, dass du mit einem normalen Leben nichts anfangen kannst. Und du brauchst dich auch nicht über den Krieg zu beschweren. Sicherlich ist Landra auch betroffen, aber wenigstens musstest du nie an der Front kämpfen!"
Unbeeindruckt starrte Chander ihn nieder, so lange, bis Anatol den Kopf senkte und eine Entschuldigung murmelte. Dafür erntete er ein Schulterklopfen. „Fast hättest du mich überzeugt, dass du dich weiterentwickelt hast. Aber immerhin bist du etwas weiter als damals."
Seinen Kopf hielt er unten, doch sein Blick war nach oben in sein Gesicht gerichtet. „Ich würde dich glatt als schlechten Freund bezeichnen, wärst du nicht hier."
Er hob die Arme an. „Anscheinend bin ich das. Ein schlechter Freund. Sonst hätte mein Team mich nicht verlassen, sobald sie die Möglichkeit dazu hatten."
„Ist es das? Bist du hier, um zu beweisen, dass du auch für jemand anders als nur für dich kämpfen kannst?"
„Tch." Dieses kalte, unschöne Gefühl, zu viel gesagt, sich in ein durchsichtiges Glas verwandelt zu haben. Das war so ein Anatol-Ding, das er nicht vermisst hatte. „Vielleicht. Vielleicht wollte ich auch einmal im Leben etwas nicht Vermasseln." Vielleicht, nur vielleicht, waren sie sich ähnlicher geworden, als Chander es jemals für möglich gehalten hätte.
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