15.1: Gehirn.
„Es gibt keine Zombies, Chander", fing Anatol an. Er setzte sich auf und schlug die Beine übereinander. „Es gab einen Magier auf der Seite von Cyndara, der Energien aus dem Dazwischen fischen und an den entsprechenden Körper ketten konnte. Allerdings ersetzt das natürlich nicht die Seele, es ist mehr ein Echo, das den Befehlen ihres Ketters folgt."
Mit Daumen und Zeigefinger rieb sich Chander über die Augen. „Es gibt also Nekromanten, die Zombies erschaffen können?"
„Nein, es gibt ‚Binder' beziehungsweise ‚Ketter'. Und es sind auch keine Zombies. Diese ... Wesen folgen lediglich Befehlen. Wie: den Feind zu töten. Da sie keine Magie nutzen können, greifen die meisten mit Händen und Zähnen an. Nur die Intelligentesten nutzen Waffen."
„Und, lass mich raten: Man kann sie nur töten, wenn man ihnen den Kopf abschlägt?"
„Oder wenn man sie verbrennt, ja."
„Ha!" Chander warf die Hände in die Luft. „Nur weil du etwas anders nennst, wird es nicht zu etwas anderem! Wieso sind die Dinger in diesem Schlitten?"
„Der Ketter ist jedenfalls tot. Er war der einzige bekannte Magier mit dieser Fähigkeit. Weil seine Kreationen entgegen den Vermutungen auch nach seinem Tod am Leben geblieben sind, will man sie untersuchen." Er hob die Schultern. „Sie kommen aus den Kisten sowieso nicht raus. Also. Schlaf schön." Damit ließ er sich wieder zurückfallen, streckte sich auf dem Boden aus und gähnte herzhaft.
Da die Fahrt noch mehrere Stunden dauern würde, schloss Chander die Öffnung in der Wand, legte sich neben ihn, stellte einen Wecker und versuchte zu schlafen. Auch wenn er befürchtete, dass ihn dieses Klopfen in seine Albträume verfolgen würde.
„Gehiiiirn", stöhnte es in sein Ohr.
Chander schlug zu, erwischte aber nur Luft, und fuhr hoch. Das Kichern des Reinen übertönte fast die Geräusche ihrer Mitfahrer.
Aus schmalen Augen und mit ebenso zusammengepressten Lippen betrachtete er Anatol, bis dieser schließlich aufhörte und sich kerzengerade vor ihn setzte.
„Es ... es tut mir leid. Ich konnte nicht schlafen und wusste, dass deine Uhr dich bald aufwecken würde. Ich dachte, das wäre witzig. War es aber nicht. Tut mir wirklich leid." Fast war es, als wäre der alte Anatol zurück.
Erst jetzt schnaubte Chander und zog leicht die Mundwinkel nach oben. Obwohl ihn die Leichtigkeit des Reinen frustrierte. Dieses Lachen, das Anatol doch so viel zu kosten schien wie jegliche Art von Magienutzung. „Schon gut. Ich habe wahrscheinlich ein ziemlich dummes Gesicht gemacht."
Anatol sackte etwas in sich zusammen und grinste zurück. „Wahrscheinlich", gab er zu.
Chander öffnete eine künstliche Tür mit einem seiner Ringe und wurde von einem Meer aus gelben, roten, rosa, lila und blauen Farbtupfen auf sattem Grün begrüßt. Er lehnte den Kopf an das Metall und atmete durch. „Schöner als jeder Garten irgendeines Wandlers."
„Ich vermisse meine Gärten. Blumen aus aller Welt, die den Duft von Märchen verströmen." Seufzend stützte sich Anatol auf der anderen Seite der Öffnung ab, hielt dann in seinen Tagträumereien inne. „Hey, roll nicht mit den Augen. Ich hätte dennoch jederzeit lieber irgendwo –"
„Sag jetzt nicht, du hättest lieber irgendwo anders gelebt", knurrte Chander. „Du hast in einem Paradies residiert. Findest du das Leben als Soldat hier denn –"
„Ich hätte gerne bei euch gewohnt. Früher. Länger. Ich hätte gerne mehr Zeit mit ... euch verbracht. Ich hätte gerne ein Leben gehabt. Mein Leben." Sein Lächeln zitterte und er zuckte mit den Schultern. „Und du weißt, dass es kaum ein Paradies war."
„Und dennoch bist du zurückgegangen."
Im Blumenmeer ertrank eine Vergangenheit, die niemals die Chance gehabt hatte, auch nur zu keimen. Ein lächerlicher Gedanke. So wenig Zeit hatten sie zusammen verbracht und doch hatte der Reine sein Leben so stark beeinflusst. Vielleicht war es gut gewesen, dass er gegangen war. Chander hätte ihn nur mit sich in die Gosse gezogen.
„Über was denkst du nach?", fragte Anatol.
„Darüber, dass ich einmal vorhatte, ein Held zu sein, aber es niemals hinbekommen habe, jemand anderem außer mir zu helfen."
„Chander", flüsterte er mit Nachdruck.
Doch der schüttelte nur den Kopf. „Und du? Was geht im Kopf des Reinen vor?"
„Etwas Ähnliches", gab er schließlich zu. „Ich ... Yuri und ... Shit."
Er folgte Anatols Blick und sah die Kugel im schwarzen Mantel, die da auf sie zugeschossen kam. Zwar schloss sich das Loch in der Wand, doch beim Einschlag des menschlichen Projektils schwankte der Waggon.
„Hartnäckiger Bastard", fluchte Chander und ging ihre Möglichkeiten durch. Es machte es nicht besser, dass sie sich in einem fahrenden Magnetschlitten befanden. „Wir müssen weiter nach vorne."
Im selben Moment, in dem Chander die Fronttür zum nächsten Wagen verschwinden ließ, öffnete sich die Hintertür. Die Augen des Reinen funkelten kurz wie Münzen und die Sargdeckel knallten gegen die Decke.
Eine Knochenhand, die nur durch Sehnen und Willenskraft zusammengehalten wurde, umfasste den Rand eines Sarges. Der daran hängende Körper stemmte sich hoch, erfasste Chander mit dem einen vorhandenen Auge und presste einen schrillen Schrei vorbei an einem lippenlosen Oberkiefer und einem ausgerenkten Unterkiefer.
„Los!", brüllte Anatol, selbst an der Wand lehnend.
Im nächsten Abteil wurde die Tür durch ein Loch ersetzt und Chander sprang hinüber, dicht gefolgt von einem sterblichen Gott, Zombies und dem Sensenmann. Wäre er nicht selbst Teil dieser Situation, es hätte ihm vielleicht ein Lachen entrungen. Da wäre aber sowieso eine weitere klitzekleine Sache gewesen, die ihm die Luft zum Lachen geraubt hätte. „Hast du überall die Särge geöffnet?" Seine Stimme erreichte peinliche Höhen, in die sie durch die Blicke der ihn erwartenden Zombies gejagt wurde.
„Eigentlich nicht." Anatol klang ehrlich nachdenklich. „Seltsam."
Der erste Schritt war der, der am meisten Überwindung kostete, dann rannte Chander durch den Waggon, spürte Finger an seiner Hose, seinem Ärmel, seinem Hals, sprang nach draußen und kletterte aufs Dach des nächsten Wagens. Wie eine endlose Kopie erstreckten sich die Schlittenteile vor ihm, allesamt gefüllt mit Untoten und allesamt mit Löchern dort, wo Türen sein sollten. „Was soll dieser Scheiß jetzt schon wieder?" Für so viele Anwendungen der Türliquidierung hätte der Speicher seines Rings noch nicht einmal gereicht.
Anatol blieb stumm, entweder, weil er alle Kraft brauchte, um auf den Beinen zu bleiben oder weil er keine Antwort hatte.
Bleiche Gesichter reckten sich dem Leben entgegen. Wie bei Chander schwand die Scheu, in diesem Fall vor dem Licht, nach dem ersten Schritt ins Freie. Körper regneten auf die Bahn unter dem Schlitten und an deren Seiten hinab.
Das Blumenmeer um sie herum wirkte zu höhnisch.
Chander wollte nicht warten, bis die Zombies einen Weg auf die Dächer gefunden hatten. Es ging weiter von Wagen zu Wagen. Als er nach einem Blick zurück sah, wie der Sensenmann anfing, die Zombies zu köpfen, flutete ihn Erleichterung. Anscheinend empfand er eine Horde Untoter gefährlicher als zwei abgehalfterte Kerle.
Drei zur Unkenntlichkeit verbrannte Zombies schwebten neben dem Schlitten her und vergraulten jeglichen positiven Gedanken.
„Sagtest du nicht, diese Dinger würden keine Magie anwenden können?"
„Nur die Allerwenigsten", brachte Anatol zwischen Keuchen hervor. „Ich wollte dich nicht beunruhigen."
Einer der Verbrannten zischte auf Chander zu, rammte ihn, schlug seine Klauen in seine Schultern wie Schrauben in Butter. Sie flogen über die Kante, nur Anatols Griff um seinen Fußknöchel bewahrte ihn vor dem Fall nach ganz unten und davor, den Kopf am Rand der Fahrrinne wegradiert zu bekommen wie der Zombie. Mit einem Ruck und etwas bitterer, magischer Unterstützung war er wieder auf dem Wagendach, auf dem Anatol auf Unterarmen und Schienbeinen kauerte. Chander hob ihn kurzerhand hoch und spurtete weiter, sprang, duckte sich unter einem Angriff weg. Hielt an, ging in die Knie und legte Anatol ab. Er ließ sich von einem Ring eine pinke Handfeuerwaffe erschaffen und fegte damit zwei Zombieköpfe von ihren Schultern.
Anatol lachte. „Du bist manchmal unglaublich cool, Chander!"
Er beschwerte sich gar nicht erst über das ‚manchmal'. Wenigstens einer, der ihn nicht für zu alt hielt. „Weiter", kommandierte er. So lange das Adrenalin die Schmerzen in seinem Fleisch dämpfte, mussten sie das Führerhaus erreichen.
Der Reine schaffte es tatsächlich aus eigener Kraft zurück auf seine Füße, spurtete los und hatte plötzlich einen unterarmlangen Dolch in der Hand, mit dem er einen weiteren Kopf von seinem schweren Körper befreite. Dicht hinter ihm folgte Chander mit seiner Pistole und hielt die Viecher ab, die Anatol nicht erwischte.
Mehr und mehr Leiber krabbelten auf die Waggons und verlangsamten ihr Vorankommen. Ein Zombie krachte einem Footballspieler gleich in Anatol und schob ihn gegen Chander, der dadurch an der Kante balancierte. Braune Zähne schlugen klackend aufeinander, in dem Versuch, die Kehle des Reinen zu erwischen. Chander umarmte Anatol, packte das Vieh mit der Linken am Hals und pustete ihm mit der Pistole in der Rechten den Kopf weg. Fetzen sprenkelten sie beide, aber sie reagierten gleichermaßen gleichgültig darauf.
Unten zupften Finger an Chanders Hosenbein. Weiterhin in einer halben Umarmung dirigierte er Anatol zur Mitte des Daches, drehte sich im Kreis, behielt den Totenumzug im Auge und ging seine Möglichkeiten durch.
Ein Ring kontrollierte eine Flammenwand. Sobald diese aktiviert war, fraß sich das Feuer durch die Leiber wie durch trockenes Holz. Der Geruch von abgelaufenem, gebratenem Fleisch erschwerte die Luft; Chanders Nase sträubte sich gegen jeden Atemzug. Das Ganze zögerte das Unausweichliche heraus.
Unter seinen Füßen vibrierte das Dach, es klang, als würden Fäuste dagegen hämmern.
„Wir können uns nicht bis ganz vor kämpfen", stellte er fest. „Wir springen."
„Warte." Anatol lehnte sich an ihn und sah zu ihm auf. Es erinnerte Chander an ihr erstes Treffen. „Säubere das Dach hier. Kannst du sie runterschubsen?"
„Ich will nicht noch mehr Magie für einen aussichtslosen Kampf verschwenden. Wir sollten –"
„Vertrau mir."
Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, dass ihm das sogar noch mehr abverlangte, als weitere Magie zu verschwenden. Und dennoch. Der Feuerwirbel verwandelte sich in einen Tornado und fegte alle Zombies von ihrem Waggon. Damit wurde die Sicht auf die anderen Wagen frei, auf denen das Gleiche geschah: Ein Luftwirbel entstand, worauf Zombies zu allen Seiten herabregneten. Je mehr Abstand die Wagen zu ihrem hatten, desto verzögerter spielte sich die Reaktion ab.
Anatol zog ihn weiter, doch bald war es wieder Chander, der die Führung übernahm, als der Reine hörbar um Luft rang.
Auf dem Waggon vor dem Führerhaus blieben sie stehen und er nahm sich ein paar Sekunden, seinen Mitstreiter zu mustern. Er schwankte und kniff die Augen zusammen. Schwarz glänzte seine Klinge in der Mittagssonne, dunkelbraun das Blut auf seinem Gesicht. Chander konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass der Reine in den letzten Jahren erwachsen geworden war. Einen Teil seines Seins machte das zufrieden, dieser Teil war erleichtert. Der Andere empfand tiefes Bedauern für eine Seele, die sich in den grauen Seelenstrom der Normalsterblichen eingereiht hatte.
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