14.1: Weißt du, welche Art von Filmen ich am wenigsten schätze?
„Sag mal Chander ... Wie hast du dir das eigentlich vorgestellt?" Yuri knöpfte sein Hemd zu, beäugte Chander dabei aufmerksam, mit einem dämlichen Grinsen, das dank der Verbrennungen nur dämlicher aussah.
„Gehört diese Frage zum Standardrepertoire von euch Erzengeln?"
Yuri fuhr einfach fort und gab sich selbst eine Antwort. „Du kommst hierher, schnappst dir den Reinen und spazierst mit ihm wieder raus, ja?" Er stolzierte auf ihn zu, kam nah heran. „Soll ich dir sagen, was du dir dachtest? Der Reine wird's schon richten. Hab ich recht? Wie vor fünf Jahren." Mit einem letzten abfälligen Blick drückte er sich an ihm vorbei. „Wir sollten packen, Anatol."
„Yuri?" Mit diesem einen Wort ließ Gabby ihren Kollegen erstarren.
„Oh nein", murmelte dieser nüchtern.
Chander sah Gabby an, die mit einem zerknitterten Lächeln die Schultern hob, und hakte schließlich nach. „Hab ich was verpasst?"
Auf der Rückenlehne des Sessels sitzend schwang sie die Beine etwas ausgelassener, während sie durch die Decke starrte. „Soldaten sind auf dem Weg. Ein Aufeinandertreffen zum jetzigen Zeitpunkt würde höchstwahrscheinlich mit deinem Tod enden, Chander, vielleicht auch mit Anatols."
„Wann werden sie –" Die Türklingel schrillte durch das Haus und lachte ihn aus. „Sie würden ja wohl kaum ... ?" Gabbys Gesichtsausdruck machte seine Hoffnungen zunichte. „Selbst die besten Auguren sind einfach nur nutzlos", zischte er. „Und jetzt?"
Yuri wies ihn mit der Bewegung seines Kopfes an, ihm zu folgen, in die Küche und von dort durch eine Tür in die Garage. Gabby reichte ihnen jeweils ein paar Schuhe und einen Kapuzenmantel. Der Feuerengel schwang sich auf den Fahrersitz, Anatol nahm neben ihm Platz, was Chander auf die Rückbank zwang. Zum Abschied wurde sich nur zugenickt. Gurte rasteten ein, dann machte das Shuttle schon einen Satz nach vorne und preschte durch die Garagentür, vorbei an der Versammlung Soldaten im Vorgarten und die Hauptstraße hinunter.
Magiegeschosse in den Farben des Regenbogens und der Beschaffenheit von Luft, Wasser, Erde, Feuer und reiner Energie schlugen auf den Schutzschild des Wagens ein. Sie bogen nach links ab, wurden für ein paar Sekunden von einem Haus geschützt, dann setzte der Hagel wieder ein. Ein Schnauben aus Richtung Fahrersitz war zu hören, bevor das Shuttle in wilder Abfolge mal links, mal rechts abbog, hupend durch die Stadt schlenkerte, wie ein grölender Betrunkener. Soldaten stieben auseinander und drückten sich an Hauswände oder, wenn sie Glück hatten, in Hauseingänge.
Yuri sah in den Rückspiegel und fing Chanders Blick auf. „Keine Sorge, das Schätzchen hält das aus."
„Sieh verdammt noch mal auf die Straße", keifte er, Hände in die Polsterung des Sitzes und der Tür gekrallt.
Er tat wie geheißen.
Das Shuttle in Form einer zusammengedrückten Dreieckspyramide bremste so abrupt ab, dass seine Nase über den Boden schrammte und Chanders Gesicht Bekanntschaft mit dem Polster von Anatols Sitz machte. Als er sich davon löste, sah er, dass sie nur haarscharf vor einem Shuttlebus zum Stillstand gekommen waren.
„Ups", meinte Yuri und legte den Rückwärtsgang ein, nur um abzubiegen und gleich wieder Vollgas zu geben.
Kurz wollte sich Chander die Ungewissheit geschlossener Lider gönnen. Nie in seinem Leben hatte er Adler so vermisst. Wenn er ihn jemals wiedersehen sollte, würde er ihm um den Hals fallen. Oder sich vielleicht einmal angemessen bei ihm bedanken. Oder ihm die Hand geben und ihm zunicken. Da Adler sowieso ein Mann weniger Worte war, würde er das am Ehesten verstehen.
„Ich glaube nicht, dass wir es durch das Schild schaffen", sagte da Anatol, was Chander dazu brachte, seine Augen zu öffnen.
Sie näherten sich mit bedenklicher Geschwindigkeit der Schutzmauer der Stadt.
„Ach was, mit genug Karacho geht alles." Yuri schien überhaupt nicht besorgt.
„Nein", erwiderte der Reine sachlich, „ich bin mir ziemlich sicher, dass die Kollision uns mit Karacho zusammenfalten wird."
Sie waren so nah, er konnte schon das Flackern einzelner, eisiger Energiefäden im Schild sehen.
„Yuri!", brüllte Chander.
Der Fahrer stieß ein übertriebenes Stöhnen aus und riss das Lenkrad herum. Es schmiss sie aus der Kurve und damit weiter auf die Wand zu, jetzt lediglich seitwärts. Mit einem Krachen drückte sich die linke, abstehende Dreiecksseite an der weiß glühenden Barriere ein, das Shuttle rutschte weiter, klappte nach oben und donnerte auch noch einmal mit dem Dach gegen die Barriere, bevor es richtigherum auf den Boden fiel und stehen blieb.
„Ups", meinte Yuri und fuhr wieder an.
Anatol drehte sich zu Chander um, ließ den Blick über ihn schweifen. „Alles in Ordnung?"
„Nein, verfickt noch mal!" Sein Schädel brummte und Schmerzwellen zuckten seine Halswirbel hinab, wann immer er den Kopf bewegte.
„Yuri, halt dich bereit", wies der Reine an. „Ich öffne einen Durchgang."
Sofort waren Chanders Hände an Anatols Sitz und zogen den unwilligen Körper hinterher. „Was verstehst du bitte an ‚benutze deine Magie nicht' nicht?"
„Drei zwei eins", ratterte er herunter.
Yuri schwenkte nach links und sie waren draußen. Ein bitterer Geruch füllte den Innenraum und legte sich auf Chanders Zunge, so intensiv, dass ihm ein Ekelschauer über den Rücken rann – die Note des Reinen, nahm er an. Kein Wunder, dass er sie früher unterdrückt hatte. Auf dem Beifahrersitz krümmte sich ein Häufchen Elend zusammen und unterdrückte Schmerzenslaute, weswegen Chander davon absah, ihn für seine Dummheit anzuschreien.
Erst einige Minuten später räusperte sich Yuri, fuhr sich geistesabwesend über die Narben in seinem Gesicht, ließ die Hand sinken, als hätte er sich verbrannt. „Geht es, Lämmchen?"
Nach ein paar Sekunden presste das Lämmchen ein Wort heraus: „Sicher."
Anscheinend fühlte sich der Wagen auch angesprochen, denn er gurgelte vor sich hin und machte einen Hüpfer.
„Wo geht es als Nächstes hin, Chander? Wie sieht dein Plan aus?" Yuris Fragen klangen lauernd. In Chanders Augen ein billiger Versuch, von seinen Fehlern abzulenken.
„Geplant war eigentlich nur eine Reise zu zweit. Aber da du schon fragst: Wir sind nördlich aus der Station, also ist unser nächstes Ziel der Bahnhof in Jarala. Wäre gut, wenn wir ihn vor morgen früh vor zwölf Uhr erreichen."
Mit einem scharfen Schlenker, der ein Quietschen im Boden des Shuttles auslöste, war ihr Kurs korrigiert.
Bald bekam die kahle Ebene etwas mehr Farbe von Gräsern und Wildblumen und die ersten Erhebungen waren ein klitzekleiner Vorgeschmack auf das Siebengestirngebirge.
Man musste dem Schwebewagen zu Gute halten, dass er erst eine Stunde später verreckte. Sie kamen auf dem Boden auf und schlitterten noch ein paar Meter.
„Keine Ahnung, wie Michelle es mit euch aushält", kommentierte Chander in die Stille.
Yuri hob die Schultern. „So wie deine Leute es mit dir aushalten, schätze ich."
Darauf fühlte sich Anatol wohl genötigt, sich ebenfalls einzumischen. „Ihr seid beide nur halb so schlimm, wie ihr den jeweils anderen einschätzt."
„Das heißt ‚nicht halb so schlimm'", verbesserte Chander ihn, wofür er einen Blick über die Schulter und ein halbes Lächeln erntete.
„Ich lüge aber nur sehr ungern."
Ein Grinsen wurde geteilt.
Yuri war schon ausgestiegen, klopfte auf das Metalldach des Shuttles und streckte den Kopf herein. „Kommt schon, wir sollten in Bewegung bleiben."
Draußen öffnete Chander mit einem Tippen auf sein Handgelenk einen Kartenscreen, der ihnen die Route anzeigte. „Wir sollten uns ranhalten", stimmte er zu. Schon stapfte er los, ließ den Blick schweifen über das weite Hügelland in nächtlichen Grautönen von ‚ Asphalt' zu ‚noch dunklerer Asphalt'. Kaum ein Baum höher als drei Meter störte die Sicht, öfter noch mannshohe Felsen oder üppige Büsche. Wenn er lange genug in diese Richtung weiterlaufen würde, würde er irgendwann die Berge erreichen, die verwaschen den Horizont markierten.
Zumindest eine Person folgte ihm auf dem Fuße, während sich die zweite erst nach einem überdimensionalen Seufzen in Bewegung setzte.
Der Reine schloss zu ihm auf und wann immer ihn Chander aus dem Augenwinkel betrachtete, lächelte Anatol ihn an. Das Ganze hatte etwas ähnlich Unangenehmes wie zu lange in die Sonne zu starren.
Schließlich japste Chander ungewollt nach Luft, hüstelte leicht, um das Geräusch zu überspielen. „Habe ich etwas im Gesicht, Anatol?"
Sein Lächeln wurde breiter und sein Gang schwungvoller. „Ich bin einfach nur so froh, dich wiederzusehen. Ich kann es kaum glauben – ich meine: du. Hier!" Er war nur für ein paar Sekunden still und dachte nach. „Mit deinem Gesicht ist alles in Ordnung", setzte er dann erneut an. „Es ist so attraktiv wie ich es in Erinnerung habe. Und bevor du wieder anfängst, von wegen ich soll so etwas nicht sagen: Du bist in Kriegsgebiet gereist, um mir zu helfen. Das macht man nicht für jemanden, den man nicht kennt."
Chander hielt mental inne, schüttelte dann sachte den Kopf. „Ich bin niemandem gerne etwas schuldig." Er fokussierte die Berge in der Ferne. „Dank dir bekam ich einen anderen Blick auf mein Leben." Auch wenn er sich kaum verändert hatte. „Dank dir konnte ich meine Unschuld beweisen." Auch wenn ihm das weniger Glück gebracht hatte, als angenommen. „Dank dir hatte ich ein paar der verrücktesten, nervenaufreibendsten, aber auch schönsten Stunden meines Lebens. Ich glaube –"
Hinter ihnen begann Yuri zu würgen und zu husten.
Den Mann hatte er fast vergessen. Kalt durchlief es Chander und seine Wangen kribbelten warm. „Hast du ein Problem?", fauchte er über seine Schulter. Erst da bemerkte er, dass ihr Begleiter sein rechtes Bein nachzog und sich auch sonst nicht mehr so agil bewegte wie vor dem Krieg.
„Ja", röchelte Yuri, „mir ist eine daumennagelgroße Fliege in den Hals geflogen." Er räusperte sich mehrere Male. „Aber interessant, dass du dich angesprochen gefühlt hast. Nein, nein, von mir aus könnt ihr ruhig weiter turteln."
Chander verdrehte die Augen.
„Habt ihr gerade beide gleichzeitig die Augen verdreht?", fragte Yuri gespielt empört.
Verschwörerisch, mit einem kleinen Lächeln, sah Anatol zu Chander auf. Gegen seinen Willen musste auch er grinsen. Nachdem klar geworden war, dass Anatol sein Überleben nicht mehr garantieren konnte, hatte er nicht damit gerechnet, sich dank ihm dennoch erneut so frei zu fühlen. Vielleicht verband er es einfach unbewusst mit Anatol an sich. Bei den Gedanken stellten sich seine Nackenhaare auf.
„Über was denkst du nach?"
Anatols Worte ließen ihn zusammenfahren. Er wandte ihm das Gesicht zu, hob die Augenbrauen. „Über dich. Und dass ich mich daran gewöhnen muss, mich nicht mehr auf dich zu verlassen."
„Du kannst dich –"
Chanders Hand schnitt durch die Luft und Anatols Satz. „Du kannst dich auf mich verlassen. Und auf Yuri vielleicht auch noch. Halb."
„War das gerade eine Anspielung?", kam es von hinter ihm. „Nur damit du es weißt, Arschloch: Ich verdrehe gerade die Augen."
Er sah über die Schulter und Yuri wiederholte die Geste demonstrativ.
„Du solltest deine Augen –", begann Chander, bevor sein Fuß an einem Stein hängen blieb und er der Länge nach aufschlug. Wenigstens lenkte das Brennen in seinen Händen und das dumpfe Pochen in seinem Bein ihn von den Schmerzen in seinem Genick ab.
Kichernd humpelte Yuri an ihm vorbei. „Du solltest deine Augen nach vorne auf den Weg richten. Weißt du, ich hatte meine Zweifel, aber das mit uns dreien könnte tatsächlich funktionieren."
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