13.2: Im Krieg gibt es keine Helden.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen und sie den großen Flur mit drei Durchgängen betreten, wirbelte Umhang herum. Chander fand sich in einer Umarmung mit zu vielen Ecken und Kanten wieder. Für einen Moment fehlten ihm die Worte, während er sich haltsuchend an ihn klammerte, und er konnte nur vermuten, dass es Umhang ähnlich ging. Die Kälte wich aus seinen Gliedern und der Schmerz aus seinem Kopf.
„Was machst du nur für Sachen, Chander? Bist du verrückt geworden, hierher zu kommen? Was machst du hier?" Ein Ruck ging durch den dürren Körper unter Chanders Händen und der Vermummte sah zu ihm auf. „Sie können dich unmöglich eingezogen haben, oder?"
Chander lächelte sanft auf ihn herab und schob ihn auf Armeslänge von sich. „Ich wollte dich besuchen, Anatol." Er zog ihm die Kapuze herunter. Gefror, als ihm Zerstörung entgegenblinzelte.
„Jaja, ich weiß, ich sehe beschissen aus", kommentierte der Reine Chanders Starren und schenkte ihm ein ruiniertes Grinsen.
Vorsichtig fuhr Chander eine der goldenen Narben nach, die sich von seiner Schläfe, vorbei an seinen goldüberzogenen Augen, über seine scharfkantigen Wangen zu seinem Kinn zog, hinunter, über seinen goldfleckigen Hals. „Das ist die Übertreibung des Jahrtausends."
Anatol lachte auf und schlug ihm gegen den Arm, schüttelte dabei Chanders Hand ab. „Du solltest nett zu mir sein! Immerhin –"
„Lass uns von hier verschwinden. Ich bringe dich in Sicherheit."
„Eh?" Kurz war da ein Stromausfall, sein fröhliches Gesicht überzog Resignation, bevor es wieder Fröhlichkeit zur Schau stellte. „Ich kann hier nicht einfach –"
„Sie werden dich so lange ausnutzen, bis du tot zusammenbrichst! Oder vor Überlastung explodierst ..." Er packte ihn erneut an den Schultern, erst fest, dann sanfter. „Du solltest überhaupt keine Magie mehr einsetzen, in deinem Zustand."
„Die Menschen brauchen mich. Sie verlassen sich auf mich. Es ist meine Pflicht. Dafür wurde ich erschaffen. Ich kann sie nicht einfach im Stich –"
„Hör auf, mir den Quatsch vorzupredigen, den sie dir eingepflanzt habe", zischte Chander und merkte erst, wie unnachgiebig er ihn umklammerte, als er mit einem hellen Schmerzenslaut zusammenzuckte. Er ergriff Anatols Handgelenk und zog ihn zur Tür, doch der Reine stemmte die Fersen in den Boden, riss sich mit einem Ruck los und stolperte einige Schritte zurück.
„Ich werde nicht gehen." Für Fröhlichkeit schien er keine Kraft mehr zu haben, seine Stimme war kalt und flach.
Mit langsamen Bewegungen kam Chander auf ihn zu, wollte ihn nicht von sich treiben. „Bitte, Anatol. Bitte komm mit mir mit. Ich flehe dich an." Erneut hob er die Hände, umfasste seine Schulter. Und ließ die Nadel aus einem seiner Ringe fahren.
Anatol zuckte zusammen, bevor er gegen Chander sackte. „Was ...?"
„Eines solltest du dir merken: Ich bettele nicht", murmelte Chander, fasste unter seine Schultern und Kniekehlen und hob ihn hoch. „Außer ich will damit etwas erreichen."
Stumm blinzelte der Goldene zu ihm auf, dann verlor er den Kampf gegen das Betäubungsmittel und schlief ein.
„Und jetzt?", fragte Gabby hinter ihm. „Willst du ihn so durch das Lager tragen?"
Darauf bedacht, mit dem Reinen nirgendwo anzuecken, drehte sich Chander um. Im rechten Türrahmen lehnte Gabby, im linken Raphael.
„Natürlich nicht. Ich wollte ihn im Wohnzimmer ablegen, ein Transportmittel besorgen und dann abhauen."
„Der erste Teil klingt gut. Seine tägliche Heilungs-Session beginnt jetzt." Ihre Augen verschmälerten sich und ihr Ton wurde eine Nuance kälter. „Heute besonders empfehlenswert, immerhin hat er Magie für dich verwendet, die nicht vorgesehen war." Sie kam auf ihn zu und deutete mit der Hand hinter ihn.
Wenn es nicht für Anatol wäre, hätte er es mit der Augurin und dem Heiler aufgenommen und sein Glück versucht. Die beiden waren keine herausragenden Kämpfer. So aber kam er ihrer stummen Aufforderung nach und trug ihn ins Wohnzimmer. Dominiert wurde dieses von einer pinken Couch, auf der eine Unzahl an Kissen drapiert war und einem Fernseher, der fast eine gesamte Wand einnahm. Die weiße Stehlampe im Eck wirkte verloren. Heller Holzboden knarrte unter seinen Schritten, bis er den weißen Teppich erreichte. Chander bettete den Reinen auf die Polster. Und der Reine streckte sich aus und setzte sich auf.
„Wa...?", begann Chander und schob wütender hinterher: „Seit wann bist du bitteschön wieder wach?"
„Oh, ich war vielleicht für ein paar Sekunden weg, bevor meine Magie meinen Körper gereinigt hatte. Aber ich war sowieso ausgelaugt und du schienst keine Probleme damit, mich zu tragen, also ..." Er hob die Schultern und grinste ihn an.
Chander blinzelte langsam. „Ich vermisse den alten, höflichen Anatol."
„Du vermisst nur, dass ich brav gemacht habe, was du gesagt hast", entgegnete Anatol prompt und mit gerunzelter Stirn. „Brandt musste sich auch erst daran gewöhnen."
„Ist der Typ auch hier?"
„Nein. Er wird wo anders gebraucht."
„Wollen wir beginnen?", drängelte sich Raphael in ihr Gespräch.
Sekundenlang sah Anatol Chander nur an, wandte dann den Blick ab.
Raphael legte eine Hand auf Chanders Rücken und drückte sanft dagegen. „Würdest du den Raum verlassen?"
„Warum?"
„Weil sich Anatol schämt", erklärte er nüchtern, was den Reinen zusammensinken ließ. „Für die Spuren der Überbelastung."
„Das könnte mir nicht egaler sein." Demonstrativ verschränkte er die Arme, drehte sich aber wenigstens um. Er war nicht von gestern, er würde sich nicht so leicht austricksen lassen.
Stoff raschelte, wahrscheinlich als Anatol sein Hemd auszog.
Gabby lümmelte sich auf die Couch, auf einen Platz direkt zu Chanders rechten, und umarmte ein Kissen, an dem sie rumzuppelte. „Chander hat recht, Anatol", murmelte sie. „Du solltest mit ihm gehen."
Überrascht weiteten sich Chanders Augen, er sah auf sie herab.
„Aber –", setzte Anatol an.
„Genrivien und Cyndara sind beide am Ende", fuhr Gabby fort. „Sie lassen euch Reine alle paar Tage ein kleines Wunder vollbringen, weil sie zu stolz sind, aufzugeben und diese Absorbierkristall-Insel zu teilen."
„Aber –"
„Es ist nicht deine Pflicht, für uns zu sterben."
„Aber –"
Langsam reichte es Chander, er blickte zur Decke. „Sie will sagen: Du lässt alle im Stich, wenn du dumm die Befehle der Obrigkeit befolgst!"
„Was weißt du denn schon –"
Er wirbelte zum Reinen herum. „Dieser Krieg wird nur noch weitergeführt, weil du verrottenden Idealen gerecht werden willst. Hör endlich auf, so arrogant zu sein und mach die Augen auf!"
Rippen, Rippenbogen, Hüftknochen – alles deutlich sichtbar und dazwischen sein Bauch ein flaches Tal in das sich, jetzt ausgetrocknete, Flüsse gegraben hatten. Das Seufzen des Reinen erschütterte seinen ganzen Körper.
„Es tut mir leid, ich –" Anatol schluckte, schnaubte und schüttelte den Kopf, wehrte sich mit allem, was er aufbieten konnte, gegen die Tränen, die dennoch seine Augen fluteten. „Ich versuche doch nur, das Richtige zu tun", würgte er mit unsteter Stimme hervor und schlug die Augen nieder. Damit hatte die Flüssigkeit gesiegt und rann über seine Wangen.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, kniete sich Chander vor ihn und suchte Blickkontakt. Das Feuer in Anatols Augen, brodelnd hinter dem Wasser, traf ihn jedoch unvorbereitet. Er war sich nicht sicher, ob der Reine seinen Kiefer zusammenpresste, um seine Trauer oder seine Wut zu verbergen. Beides, vielleicht. Mit einem Ruck wandte Chander sich nach links, Gabby zu. „Warum habt ihr ihn nicht früher weggebracht?", fauchte er ihr entgegen.
Sie hob die Schultern. „Es war noch nicht Zeit."
„Außerdem will sie auf Michaela warten", warf Raphael ein, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er bewegte seine Hände ein paar Zentimeter von der Haut des Reinen entfernt über seinen Körper. Der Salbeiduft wurde penetranter, übelkeitserregend aufdringlich, während grüne Blitze zwischen Raphas Händen knisterten und in Anatol einschlugen. „Irgendwo da draußen kämpft sie noch und stiftet Unruhe im Lager des Feindes."
Chander erhob sich und ließ sich neben Gabby auf der Armlehne nieder, um nicht weiter im Weg zu sein und dem Gestank zu entkommen.
„Wenn ich nicht mehr hier bin", begann Anatol langsam und fasste Gabby ins Auge, „ändert sich dann etwas an dem Knotenpunkt?"
Erneut fiel ihre Reaktion unbefriedigend aus. Gabby kicherte und schüttelte den Kopf. „Nein, so große Auswirkungen hat deine Anwesenheit nun auch nicht."
Chander hob eine Hand auf Schulterhöhe, um sich auch körperlich in die Unterhaltung zu drängeln. „Heißt das, der Krieg war nicht der Knotenpunkt?"
Das entlockte ihr ein paar glucksende Laute. „Der Krieg begrenzte sich glücklicherweise auf ein paar Länder. Der Knotenpunkt wird einfach alles betreffen. Ich weiß immer noch nicht, was es ist. Ich weiß nur, dass es bald passieren wird. Wir sollten uns auf das konzentrieren, das wir beeinflussen können. Also. Wie sieht dein Plan aus, Chander. Wohin willst du ihn bringen?"
„In den Norden, an der Grenze von Kamsk entlang nach Levralan."
„In Ordnung, aber wir machen einen Zwischenstopp in Kamsk", verkündete Anatol. Chanders Blick ließ ihn immer schneller weiterreden. „Wir besuchen auf unserem Weg den Tempel der Reinen dort, es wird uns kaum mehr Zeit kosten. Die Magie in –"
„Nein."
„Die Magie in Kamsk ist außer Kontrolle und das Land ist zerstört. Ich will das wieder in Ordnung –"
„Nein."
„Ich habe dich weder um deine Meinung noch um deine Erlaubnis gefragt", entgegnete Anatol kühl. Es hätte mehr Wirkung gehabt, wenn er nicht den Blick abgewandt hätte. „Niemand sonst kann helfen."
„Und ich dich nicht um deine Wünsche. Anatol. Sieh dich doch an. Du kannst deine Magie nicht mehr einsetzen. Du hast nicht mehr genug, um ein Land zu retten."
Das brachte ein Lächeln auf Anatols Züge, als er ihn wieder ansah. „Der Tempel der Reinen wurde auf dem Einschlagsort des Kometen errichtet, der ihnen und allen anderen ihre Kräfte verlieh. Unter dem Bauwerk befindet sich der Ursprung, die Quelle des Magienetzes der Erde. Ich bin mir sicher, dass ich die Magie des Landes mithilfe dieses Ortes wieder unter Kontrolle bekommen kann. Ich brauche meine gar nicht."
Sogar Raphael sah Chander befremdet an, als er zu laut auflachte. Chander verstummte, sammelte sich, bevor er seine Gedanken ausdrücken konnte. „Weißt du, wie wahnsinnig sich das anhört? Du hast zu viele Filme gesehen, Anatol."
„Ich muss es versuchen, Chander. Die Menschen dort –"
„Sind mir scheißegal. Sie werden schon eine Lösung finden. Es ist zu gefährlich. Und jetzt beeilt euch, ich will hier heute noch weg." Er stand auf, um sich nach etwas Brauchbarem im Haus umzusehen, um seine Gedanken zu sortieren und um es Gabby zu überlassen, den Reinen zu überzeugen. Doch eine Gestalt trat in den Türrahmen und hob eine Augenbraue.
Yuri verschränkte die Arme, lehnte sich an das Holz, so dass seine rechte Seite im Schatten lag, und krächzte: „Du bist auch nur zufrieden, wenn du dich als Boss aufspielen kannst, hm, Defekt?"
Erst nach ein paar Sekunden merkte Chander, dass er seine Stirn unwillkürlich gerunzelt hatte. Es war Schock, der ihm die Worte blockierte. Yuris rechte Gesichtshälfte war überzogen von einem roten Narbengeflecht, das sich über seinen Hals zog und in seinem Ausschnitt verschwand. Ein Handschuh verdeckte seine rechte Hand und ließ erahnen, dass sein ganzer Körper in Mitleidenschaft gezogen worden war.
„Mit Feuermagie sollte man nicht spielen, hat dir deine Mummy das nie gesagt?" Er erlaubte sich ein kleines Grinsen, bevor er die Schultern hob. „Wie ist das passiert? Endlich mal die Retourkutsche für deine Impulsivität erhalten?"
Der verbrannte Erzengel zuckte zurück, was Chander ebenfalls zusammenfahren ließ, in der Erwartung eines Angriffs. Aber nein, der Feuerteufel blieb still. In ihm regte sich überraschenderweise ein schlechtes Gewissen. Wenn man schon so lange gegeneinander arbeitete, schweißte das anscheinend auch zusammen.
In der ungewissen Stille erhob Raphael die Stimme. „Feinde haben ihm Benzin übergekippt, aber um den Rückzug seiner Soldaten zu unterstützen, hat er dennoch das gesamte feindliche Lager in die Luft gesprengt."
„Ach, sieh an, vom impulsiven Kindskopf zum Kriegshelden, ich bin beeindruckt."
„Du wirst dich niemals verändern, oder?" Yuri stieß sich vom Rahmen ab. „Im Krieg gibt es keine Helden. Nur Monster und größere Monster. Raphael, wenn du mit unserem Lämmchen fertig bist, kümmere dich bitte noch um mich. Wenn du kannst."
„Gerade noch so."
Er zog den Handschuh aus und dann sein Hemd, präsentierte seine geschmolzene Haut, setzte sich neben Anatol auf die Couch und schenkte dem ‚Lämmchen' ein Lächeln, das dieses erwiderte. Müde lehnten sie in den Polstern, strahlten Einigkeit und Solidarität aus. Natürlich. Anatol hatte in den vergangenen Jahren sein eigenes Team gefunden und die Erzengel hatten ihn wahrscheinlich mit Handkuss aufgenommen.
„Wenn ich hier fertig bin, können wir aufbrechen", murmelte Yuri.
Chander hielt seinerseits im Türrahmen inne und drehte sich um. „Wir", wiederholte er und bemühte sich erst gar nicht darum, etwas anderes als unbegeistert zu klingen.
„Brauchst du schon ein Hörgerät?", stichelte Yuri nun endlich zurück. „Wir. Ich werde euch ein wenig begleiten."
„Yuri, das musst du wirklich –", begann der Reine und Chander nickte schon zustimmend.
„Ich weiß. Ich will dir aber helfen." Er schenkte Chander ein breites Grinsen. „‚Euch' meine ich natürlich."
Anatol strahlte und damit war es beschlossene Sache. Den Reinen ein zweites und hoffentlich letztes Mal zu retten hatte er sich anders vorgestellt.
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