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1. Kapitel, in dem ich einen wundervollen ersten Schultag habe
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Ich drehe mich nochmal um. Es ist sechs Uhr morgens. Und nein, ich liege nicht im Bett und wünsche mir fünf Minuten mehr Schlaf. Ich stehe vor dem Spiegel und begutachte mich in der neuen Schuluniform, die man mir aufzwingt.
Schwarze Hose, weißes Hemd mit Schullogo auf der Brusttasche und aus irgendeinem unerklärlichen Grund eine Schiebermütze aus Kunstleder. Nichts Besonderes. Doch die Krawatte bringt mich um. Ein weiterer Grund, das Schulleben aufzugeben und als C-Promi durchzustarten. Quietschgelb mit blauen Streifen. Welcher Arsch hat sich den Scheiß ausgedacht?
Vermutlich jemand, der in seinem Leben noch weniger Liebe erfahren hat, als ich.
Wieder blicke ich in den Spiegel. Zufrieden mit dem, was ich sehe, bin ich nicht, aber das liegt nur an der potthässlichen Krawatte. Ansonsten halte ich mich für relativ makellos. Manch einer würde mich für narzisstisch halten, aber das tue ich auch. Und zwar mit Stolz. Dunkle Haare, die vor Haargel glänzen, blaue Augen, perfekte Haut.
Und auch wenn die Leute mir immer wieder vorwerfen, ich würde das Geld meiner Eltern eben in mein Äußeres stecken, kann ich all die beruhigen, die ebenfalls mit diesem Gedanken kämpfen: Ich habe das, was ihr offenbar nicht habt. Nämlich gute Gene.
"Henry", ertönt es von der Tür her. Im Spiegel sehe ich Judy, das Hausmädchen. Ich kenne ihren Nachnamen nicht, ich weiß nicht, wo sie herkommt, sie war nur irgendwie schon immer da. Genau genommen interessiert es mich auch kein bisschen. Was ich so mitbekomme macht sie ihren Job auf eine akzeptable Art und Weise.
Tatsächlich habe ich mir Judy nie richtig angesehen. Sie könnte sogar hübsch sein, aber um das herauszufinden müsste ich mich vermutlich von meinem Spiegelbild ab - und ihr zuwenden. Ein Schritt zu viel.
"Das Frühstück ist fertig." Ich nicke den Spiegel an. Meine Stimme ist zu dieser Uhrzeit noch nicht gefestigt genug, um ein Wort hervorzupressen, das einem Danke gleichkäme. Was soll Judy denn von mir denken, wenn ihr da plötzlich ein derartiges Gekrächze entgegenschlägt, wie es meine Stimme am Morgen nun mal ist.
Vermutlich denkt sie aber gar nicht so viel, sonst wäre sie bestimmt nicht Zimmermädchen einer schnöseligen Familie in Chelsea geworden.
Judy verschwindet wieder. Stattdessen sehe ich Noahs nackte Beine durch mein Zimmer staksen, um sich auf das Bett zu schmeißen und mit nöliger Stimme zu sagen:"Bitte lass dir etwas einfallen. Wenn du jetzt wieder zur Schule gehst, dann bin ich ja den ganzen verfickten Tag alleine hier.
Ich verdrehe die Augen und drehe mich zu meiner kleinen Schwester um. "Erst, wenn du dir was anziehst und aus meinem Zimmer verschwindest." Sie kneift die Augen zusammen und richtet sich auf.
"Hey, ist das mein T-Shirt?", frage ich, ihre Schlafkleidung betrachtend.
Sie zuckt mit den Schultern. "Du trägst doch eh immer nur Hemden."
Wo sie recht hat, hat sie recht. Trotzdem schüttele ich den Kopf, hebe den Arm Richtung Tür und sage:"Raus!".
"Aber-" , fängt Noah an, während ich sie mehr schlecht, als recht aus dem Zimmer schleife.
Ich folge ihr gähnend die Treppe runter und fahre mit den Fingerspitzen über das glatt polierte Geländer. Ja, doch, Judy ist gut in dem, was sie tut.
In der Küche warten Mum und Dad. Meine Eltern sind unausstehliche Personen. Meine Mutter fängt an zu weinen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Nichts gegen emotionale Menschen - obwohl, doch einiges. Besonders wenn immer ich der Auslöser bin.
Mein Vater hat 24/7 ein Headset in den Ohren. Ab und zu fängt er mitten im Gespräch an zu telefonieren, ohne dass man es wirklich mitbekommt.
Auch jetzt steigen meiner Mum Tränen in die Augen. "Du siehst so hübsch aus Spatz, lass dich ansehen!" Sie zupft an meinem Hemd herum, das ich gerade mühsam glatt in meine Hose gesteckt hatte. Ich bin mir immer seltener sicher, ob da wirklich die liebende Mutter aus ihr spricht, oder doch die Depression.
Seufzend lasse ich die Tortur über mich ergehen. Noah kichert. Ihre Leichtsinnigkeit bestraft sie keine zwei Sekunden später, als Mum sich zu ihr umdreht und einen weiteren Schwall Tränen vergießt, obwohl Noah genauso aussieht, wie immer. Ungepflegter als sonst sogar, in Unterwäsche und meinem T-Shirt.
Noah ist eine der wenigen Personen in meinem heiteren Leben, die ich noch nie fast umgebracht habe. Es ist ein Privileg, das sie sehr zu schätzen weiß. Ich bin mir sicher, dass einige weitere Menschen auch das Zeug dazu hätten, wären sie nur nicht so...wie sie halt sind.
Noah hat mit ihren sozialen Fähigkeiten mehr oder weniger aufgegeben, als sie drei war. Damals hatte sie versucht im Kindergarten Freunde zu finden, indem sie ihnen stolz den Playboy meines Cousins gezeigt hatte. Wir hörten nie wieder etwas von der KiTa-Leitung, also blieb Noah vorerst zu Hause.
Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen. Noah ist mittlerweile zwölf Jahre alt und auf dem besten Wege, ein ebenso großes Arschloch, wie ich zu werden. Arrogant, selbstverliebt, manche würden sagen frech. Und das ist deutlich untertrieben. Dabei fühlen erwachsene Menschen sich immer gleich von allem angegriffen, obwohl uns doch seit Tag eins die Tugend der Ehrlichkeit eingetrichtert wird.
Aber kaum merkt Noah an, dass die Kellnerin einen offenen Hosenstall hat, gibt es wieder Ärger.
Das Frühstück ist furchtbar. Es mag daran liegen, dass ich generell nichts frühstücken will, mir jedoch Tag für Tag etwas aufgezwungen wird. Mrs. Calvin, die Köchin spricht unsere Sprache noch nicht so gut. Erst vor kurzem ist sie aus Helsinki nach London gezogen, um hier ein ähnlich trauriges Dasein wie Judy zu fristen.
Also male ich einen großen Mittelfinger auf die Kreidetafel, die in der Küche hängt, bevor ich das Haus verlasse. Inklusion kann ich. Soweit ich weiß, ist der Mittelfinger ja ein relativ internationales Zeichen.
Meine Familie lebt seit Generationen in der Tite Street in Chelsea, nur ein paar Schritte vom National Army Museum entfernt. Das Haus, dessen Eingang von schnörkelig verzierten Säulen gestützt wird, ist größer als es wirkt. Es ist schon unverschämt, wie majestätisch allein der Hausflur ist, aber andererseits bin es ja auch ich, der täglich ein und aus geht.
Ist das zu viel? Ich denke nicht.
Tänzelnd überquere ich die Straße. Ich habe absolut keine Lust auf den heutigen Tag, aber genau genommen ist dieses Gefühl ein anhaltendes. Es ist kühl, aber nicht zu kalt. Bis zur Schule ist es nicht weit, was seltsam ist, weil ich bis jetzt eigentlich alle Bildungseinrichtung in meinem Umkreis abgeklappert haben müsste.
Die Hemingway Academy ist ein absolut hässliches Gebäude, das aussieht, als bestünde es aus sehr billigen tristen Legosteinen und von einem hohen schwarzen Zaun umgeben ist. Seinem Namen wird es jedenfalls nicht gerecht. Kopfschüttelnd betrete ich das Gelände.
Es ist mein erster Tag an dieser Schule. Der letzten musste ich den Rücken zukehren, nachdem ich die Aula abgefackelt habe. Der Prozess läuft noch und bis dahin gilt das Ganze weiterhin als Unfall.
Ja nee, ist klar.
Aufrecht gehe ich auf das Tor zu, durch das sich auch alle anderen Schüler drängeln. Einige werfen mir neugierige Blicke zu und ich verspüre den dringenden Wunsch, ein paar Hälse umzudrehen, gehe aber davon aus, dass so etwas hier nicht geduldet wird.
Auf der Suche nach dem Sekretariat laufe ich ein wenig ziellos durch die Gänge und frage mich, wieso die Schulleitung nicht auf die Idee kommt, es auszuschildern. Ich laufe vorbei an großen Plakaten, von denen mich irgendwelche Kinder in bunt gestreiften Krawatten angrinsen. Wenn diese modische Entscheidung sich irgendwie auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken soll, dann habe ich bisher nichts davon mitbekommen. Natürlich stiert mich auch ein junger Ernest Hemingway an.
Für ein Bildnis des älteren Hemingway, der doch eher einem freundlichen Fischer aus Dublin gleicht, ist diese Schule sich vermutlich zu fein. Nur einigermaßen gut aussehende Leute geduldet. Um Himmels Willen keine Bärte.
Irgendwann stehe ich vor der Tür, hinter der sich hoffentlich auch wirklich das Sekretariat verbirgt. Ich klopfe an, eine Frauenstimme bittet mich herein und ich betrete das Zimmer. Es stinkt nach Kaffee und Druckerpapier.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und strecke die Hand aus.
"Henry Harisson", sage ich. "Heute ist mein erster Tag."
Die ältere Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches blickt mich unwirsch an und ignoriert meine ausgesprochen höfliche Geste.
Langsam ziehe ich die Hand zurück. Copper, lese ich auf dem Schild an ihrer Bluse. Sie drückt mir einen Haufen Papier und ein golden glänzendes Abzeichen in die Hand. "Hier sind deine Stundenpläne und alles andere, was du wissen solltest. Das Namensschild muss getragen werden. Auf dem Gelände sind Alkohol und sämtliche andere Drogen verboten. Feuer ist tabu."
Bei dem letzten Punkt durchbohrt sie mich mit ihrem Blick, bevor sie im Hinterzimmer verschwindet, vermutlich, um ihren Griesgram in einer weiteren Tasse Kaffee zu ertränken.
"Vielen Dank, Copper", zische ich und mache mich auf die Suche nach dem Klassenraum, in dem ich erwartet werde.
Fünfzehn Minuten zu spät komme ich hereingeschneit. Abschätzig sehe ich in die verwunderten Gesichter meiner neuen Mitschüler. Getuschel macht sich breit und ich runzele die Stirn, nicht ganz im Klaren darüber, wieso mein unspektakulärer Auftritt so interessant zu sein scheint. Der Lehrer weist auf einen Platz hin und fährt mit seinem Unterricht fort. Dankbar dafür, nichts über mich erzählen zu müssen, nehme ich platz.
Neben mir sitzt ein Mädchen mit braunen Haaren und einer großen Nase. Ich rümpfe meine, als sie mich anlächelt. "Hi" , flüstert sie. "Ich bin Janice."
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