Kapitel 21
Sesto
Als die Menschen ihre Körper wieder bewegen konnten sind sie – zwar ein bisschen grimmig – aber trotzdem friedlich abgezischt. Ich hoffte wirklich, dass ich sie nie wiedersehen musste, obwohl ich ihren Anführer schon noch gerne erwischen würde. Aber all das vielleicht ein andern Mal.
Ich ging zurück zum Anwesen der Rhys-Familie und öffnete die Haustür. Ein lautes Knarren zog sich durch meine Ohren. Kein Wunder, schließlich war sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Die Räume des einst so prächtigen Hauses waren total verstaubt und heruntergekommen. Der Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich konnte nicht glauben, dass sie alle tot waren.
Langsam ging ich die Treppen hoch und an den Schlafzimmern vorbei. Erst vor seinem Zimmer blieb ich stehen. Meine Hand öffnete die Tür und sowie ich mich versah stand ich auch schon mitten im Raum.
Tränen sammelten sich wieder in meinen Augen, als mein Blick über die verschiedenen Möbel flog. Ich sah ihn überall... An seinem Schreibtisch, wie er die alte Drachensprache lernte. Wie er vor dem Fenster stand und in die Welt hinausstarrte.
Ich ließ mich zurück auf das kleine Kinderbett fallen und schloss meine brennenden Augen.
Was soll ich jetzt machen? Wie soll es weitergehen?
All meine Hoffnung war erloschen. Selbst der kleinste Funken, der mir sagte, dass Erast noch überlebt haben könnte, erstickte mit meinen Erinnerungen.
Du hast Vana doch gesehen! Wie soll man sowas überleben?!
Vor meinem geistigen Auge sah ich Loic, wie er dem kleinen Mädchen die Hörner aus dem Schädel riss. Ich stellte mir vor wie sie vor Schmerzen geschrien haben musste. Doch dann verschwamm ihr Gesicht und ich sah stattdessen Erast.
Wut entfachte in meiner Brust und plötzlich wusste ich, was ich jetzt machen musste. Ich musste Loic aufhalten. Er musste bezahlen – dafür, was er nicht nur Erast, sondern so vielen Drakoniern angetan hatte. Doch um das zu schaffen musste ich erstmal nah genug an ihn rankommen.
Entschlossen sprang ich vom Bett auf.
Es war höchste Zeit, dass ich mich dieser Bruderschaft anschloss.
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Auf dem Weg zur Burg, schmiedete ich meinen Plan. Fakt war, ich musste nah genug an Loïc herankommen, ohne dass er Verdacht schöpfte. Er durfte mein wahres Vorhaben nicht erahnen, sonst würde ich ihn nie in einem verletzlichen Moment erwischen können.
Ich würde allen vorspielen ein Teil der Bruderschaft zu sein. Selbst wenn mich das unglaublich anwiderte, musste ich es tun. Für Erast, seine Familie und all die anderen Drakonier, die der Gargoyle in die Finger bekommen hatte.
Ich suchte meinen Bruder auf, der in meiner Abwesenheit zurückgekommen war. Seine Zimmertür öffnete sich und er sah mich überrascht an.
"Sesto? Was is' los?"
"Ich... hab' viel nachgedacht, über das was du gesagt hast. Und wenn das Angebot noch steht, würde ich mich euch anschließen."
Altairs Gesicht leuchtete förmlich auf und er klopfte mir zufrieden auf die Schulter. Seine grauen Augen waren voller Stolz.
"Du hast ja keine Ahnung wie ich mich freue das zu hören."
"Doch... eigentlich schon", murmelte ich schnell. Mein Bruder, falls er mich überhaupt gehört hatte, ignorierte meinen Kommentar.
"Loic is' noch nich' wieder hier, aber ich kann dir in der Zwischenzeit schonmal ein paar Dinge erzählen."
Er ließ mich in sein Zimmer eintreten und begann gleich zu erzählen.
„Du kennst doch diese alte Prophezeiung, die von den Sehern?"
Ich nickte. Klar, wer kannte die nicht? „Aber das is' doch alles nur Aberglauben."
Totaler Schwachsinn.
Altair schüttelte leicht den Kopf. „Das glauben wir nich'. Es gibt einen Grund warum die Seher uns eine Nachricht hinterlassen haben und ich denke, dass sie uns damit in eine bessere Zukunft führen wollen. Wenn alles in der Prophezeiung eintrifft, entsteht eine bessere, friedlichere Welt."
Ich hob eine Augenbraue. Echt jetzt? Ich konnte nicht glauben, dass Altair wirklich an so einen Mist glauben sollte, aber es war ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben. Seine Augen funkelten aufgeregt und er hatte dieses Grinsen auf den Lippen, dass ich seit dem Tod unserer Eltern kaum noch zu Gesicht bekam. Er schien wirklich tief davon überzeugt zu sein.
Unser Gespräch wurde von einem lauten Klopfen an der Tür unterbrochen. Eine blonde Frau stand in der Tür. Ich hatte sie schon öfter hier gesehen, konnte mich aber beim besten Willen nicht an ihren Namen erinnern.
"Tschuldige die Störung, aber die Stadtbewohner haben uns 'nen Menschen ausgeliefert", erzählte sie sichtbar irritiert.
Altair zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. "Was? Warum würden die uns 'nen Menschen bringen?"
"Die Stadt wurde heute von einer Gruppe Menschen angegriffen", erklärte ich daraufhin, „Ich hab' sie verjagt, aber es scheint als hätte einer immer noch nich' genug gehabt."
Mein Bruder sah mich kurz überrascht an, bevor er antwortete. „Okay, dann haben sie ihn wahrscheinlich hergebracht, weil du hier bist. Das macht Sinn."
Ich nickte knapp. Die meisten Bewohner kannten mich noch von früher, weil ich immer mit Erast unterwegs gewesen war. Und danach war ich ja trotzdem noch regelmäßig da gewesen, um nach dem Rechten zu schauen.
"Dann is' er auch dein Gefangener. Mach mit ihm was du willst", meinte Altair.
"Echt jetz'?" stieß ich überrascht aus.
Mein Bruder nickte. "Loic is' nich' hier und ich wüsste auch gar nich', was wir mit 'nem Menschen anfangen sollen."
"Wir haben ihn im unteren Gästezimmer eingesperrt", meinte das Blondinchen in der Tür, während ihr goldener Löwenschwanz ungeduldig hin und her zuckte. Ohne ein weiteres Wort, reichte sie mir einen rostigen Schlüssel. Dann drehte sie uns den Rücken zu und verschwand.
Grinsend verließ ich Altairs Zimmer und lief ich die Treppen runter bis zu dem Raum, in dem sich der Mensch befinden sollte.
Ich öffnete problemlos die alte Tür und trat hinein. Dann ließ ich die Tür hinter mir wieder zu fallen, ohne meinen Blick von dem Gefangenen abzuwenden. Der Mann stand mit gefesselten Handgelenken am Fenster direkt gegenüber und sah ebenfalls zu mir.
Das Licht der Nachmittagssonne schien noch hell genug durch das Fenster, damit ich ihn gut erkennen konnte. Doch vor mir stand keiner von den Menschen, die mir heute Vormittag begegnet waren.
Mein Herz setzte einen, vielleicht aber auch zwei Schläge aus, doch mein Verstand brauchte einen Moment länger, um alles zu verarbeiten. Der junge Mann vor mir war fast einen Kopf kleiner als ich, mit einer schlanken Statur und braunen, zerzausten Haaren, die ihm auf die Schulter fielen. Doch es waren seine Augen, die mir den Atem direkt aus den Lungen stahlen. Diese intensiv grünen Augen bohrten sich so tief in meine, dass ich nicht wegsehen konnte.
Dieser Mann. Er war mir so... vertraut.
Und mit einem Mal entfachte wieder dieser kleine Funken Hoffnung, von dem ich dachte, dass er längst erloschen war. In meiner Brust breitete sich eine fast vergessene Wärme aus. So lange war es her, dass ich sowas gespürt hatte. Dass ich so unbeschwert atmen konnte.
Doch das war nicht genug. Ein Leuchtfeuer loderte in meinem Herzen auf und vertrieb jegliche Dunkelheit, die sich in den vergangenen Jahren in mir angesammelt hatte. Die Intensität all dieser Gefühle hätte mich beinahe umgehauen.
Erast?
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