Kapitel 18
Sesto
Raus. Ich musste hier raus.
Panisch rannte ich die Treppen der Burg wieder hoch und durch die offenstehenden Tore. Meine Füße trugen mich auf den steinigen Hügel, nördlich der Burg, von wo aus ich Rakar unten im Tal sehen konnte.
Mit brennenden Augen lief ich den steilen Abhang hinunter, völlig egal, ob ich dabei stolperte und in meinen Tod fiel.
Mein Ziel war mir selbst unbekannt, bis ich letztendlich direkt davorstand – Ein großes Haus im Herzen der Stadt.
Vor sechs Jahren war ich noch regelmäßig hergekommen, in der Hoffnung, dass er zurückkommen würde. Irgendwann hatte ich jedoch damit aufgehört. Das war jetzt auch schon ein paar Jahre her. Es war jedes Mal so deprimierend gewesen, wenn ich durch die Tür gegangen war und wieder nur ein leeres Haus vorgefunden hatte.
Man würde meinen, dass, nach all den Jahren, jemand anderes in das Haus einziehen würde, aber die Rhys-Familie war sehr hoch angesehen. Und das nicht nur in Rakar, sondern bei vielen magischen Wesen. Niemand würde es wagen in ihr Haus einzuziehen. Selbst wenn sie jetzt alle tot waren…
Ich war kurz davor die Haustür zu öffnen und einzutreten, als ich plötzlich Schreie hörte. Sie lenkten meine Gedanken von dem Horror ab, den ich gerade durchlebte und setzten mich wieder in Bewegung. Mehrere Leute kamen mir auf dem Weg zur Hauptstraße entgegen. Eine Mutter, mit ihren zwei Kindern auf dem Arm, wäre fast in mich reingelaufen.
Ich griff einen alten Mann beim Arm. „Was is‘ los?“ fragte ich.
„Wir werden angegriffen!“ schrie er mir ins Ohr, bevor er sich panisch losriss und weiterlief.
Ich blieb auf der Stelle stehen. Ein Angriff? Welcher Verrückte würde denn so eine kleine, friedliche Stadt angreifen? Und warum?
Ich hatte meine Antwort, als ich wieder die Menschen in der blauen Uniform sah. Ein Knurren entwich mir. Langsam gingen die mir aber richtig auf den Zeiger. Wie hatten die überhaupt hierher gefunden?!
Mehrere Stadtbewohner lagen schon reglos auf dem mit Blut beschmierten Boden.
Ohne groß zu überlegen, zog ich einen meiner Wurfdolche, zielte und warf. Ich belohnte mich mit Zehn von Zehn Punkten, als sich der Dolch direkt in die Stirn eines Menschen bohrte. Mit meinem zweiten Wurf traf ich einen anderen Menschen direkt ins Herz. Die zwei konnten sich glücklich schätzen, dass ich ihnen einen schnellen Tod verschafft hatte. Nun ja, sie hätten sich glücklich schätzen können… Jetzt konnten sie das natürlich nicht mehr.
Vor mir standen jetzt noch zehn weitere Menschen und hinter ihnen erspähte ich das Arschloch, dass mir meinen Kopf in die Wand gerammt hatte. Ihm würde ich einen besonders langsamen und schmerzhaften Tod verschaffen.
Ich wollte meine Kurzschwerter ziehen, bemerkte aber schnell, dass ich sie gar nicht bei mir hatte. In meiner Eile heute morgen musste ich sie in meinem Zimmer vergessen haben.
Verdammt.
Als der erste Mensch, mit gehobenem Schwert, auf mich zu kam, blieb mir nichts anderes übrig, als auszuweichen. Ich duckte mich und kickte ihm, mit voller Kraft, gegens Knie. Er schrie auf und taumelte rückwärts.
Während er zu Boden fiel, kam der nächste auf mich zugelaufen. Scheinbar wollte keiner von ihnen mehr warten, bis sie an der Reihe waren. Sie kamen als Einheit auf mich zu.
Ich setzte mir ein Grinsen auf. Mal schauen… ein unbewaffnetes magisches Wesen gegen neun bewaffnete Menschen. War das ein fairer Kampf? Keine Ahnung und es war mich auch scheiß egal, denn ich würde sowieso gewinnen. Ich hatte schließlich nicht umsonst mein ganzes Leben lang das Kämpfen trainiert.
Um Haaresbreite wich ich einem Schlag aus, sodass der Arm des Angreifers direkt vor mir war. Ich sammelte Magie in meinen Zähnen und biss blitzschnell zu. Meine Magie floss in seinen Körper und der Mensch fiel gelähmt zu Boden.
Natürlich hätte ich ihn auch sofort umbringen können, aber das würde viel Kraft und Magie verbrauchen. Das, gleich neunmal hintereinander, hätte mich ziemlich fertig gemacht. Dann hätte ich keine Kraft mehr für den riesen Klotz übrig, der die Show gerade aus sicherer Entfernung beobachtete.
Ich wich weiter allen Schlägen aus und lähmte, nach und nach, alle Menschen. Endlich, als auch der Zehnte zu Boden fiel, suchten meine Augen den Anführer. Allerdings konnte ich ihn nicht mehr sehen. Er hatte sich wohl schnell aus dem Staub gemacht, als er seine Niederlage erkannt hatte.
„Sieht ganz so aus, als hätte euch euer Anführer feige zurückgelassen. Uh, das tut bestimmt weh…“ sagte ich zu den gelähmten Menschen.
Nur der eine, dem ich ins Knie getreten hatte, war in der Lage zu antworten.
Doch er tat es nicht.
Er lag halb auf dem Boden und hielt sein gebrochenes Knie in einer Hand. Ich hockte mich neben ihn. Langsam fanden seine braunen Augen meine Grauen.
„Worauf wartest du?“ fragte er mich knurrend, „bring es zu Ende. Wie alle anderen.“
Ich legte meinen Kopf schief.
„Du weißt aber schon, dass deine Freunde nur gelähmt sind, oder? … ähh, bis auf die zwei mit den Dolchen im Körper.“
Er sah überrascht aus das zu hören, also drehte ich einen der gelähmten Körper zu ihm um.
„Da, siehste wie die Augen sich bewegen?“ sagte ich lachend. Es war doch immer wieder lustig, wie das das einzige war, was die Gelähmten noch machen konnten.
„Warum?“ fragte er mich.
„Warum was?“
„Warum bringst du uns nicht um?“
„Gute Frage“, sagte ich und sah zu den magischen Wesen am Straßenrand, „der da war Apotheker. Keine Frau, keine Kinder, aber der einzige hier, der sich mit Medizin auskannte.“
Ich zeigte auf einen anderen.
„Der da war Bäcker. Seine Frau ist vor Zehn Jahren gestorben und hat ihn mit ‚nem zweijährigen Sohn zurückgelassen. Jetz‘ hat der Zwölfjährige kein‘ mehr.“
„Und die da war Schneiderin. Hat Kindern immer irgendwas cooles zum Geburtstag gemacht. ‚N gutes Herz, die alte…“
…
Die alte Schneiderin…
„Ihr zwei Raufbolde! Müsst ihr denn immer auf den Dächern herumlaufen?! Irgendwann tut ihr euch nochma‘ richtig weh!“
Lachend sprangen wir vom Dach zu ihr runter.
„‘Tschuldigung“, sagte Erast. Seine Antwort war so ernst gesprochen, dass ich mich am liebsten weggeschmissen hätte.
Die Schneiderin seufzte.
„Ach, ihr zwei… was mach‘ ich nur mit euch?“ Dann grinste sie allerdings. „Aber das erstma‘ beiseite. Hier, Erast, ich will dir ma‘ was zeigen.“
Mit großen, neugierigen Augen folgten wir ihr in ihren Laden.
„Dein Vater hat ihn mir in Auftrag gegeben“, sagte sie, während sie hinter den Tresen griff, „für den Tag, an dem du deine Ausbildung beendest.“
Sie legte ihr Werk vorsichtig auf den alten Holztisch, auf dem alle möglichen Stoffe ausgebreitet waren.
„Ich muss dann nur noch die Länge anpassen, wenn du völlig ausgewachsen bist.“
Es war ein schneeweißer Umhang, auf dem mittig das Rhys-Emblem ruhte – eine kronenähnliche Flamme mit einer grünen Raute in der Mitte.
„Der sieht genauso aus wie Papas“, sagte mein bester Freund, mit funkelnden Augen.
Er konnte seine Augen kaum von dem edlen Stoff abwenden.
Und ich konnte es kaum abwarten es an ihm zu sehen.
Ich blinkte meine Vergangenheit fort. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um in Erinnerungen zu schwelgen.
Was wollte ich nochmal sagen? Ach ja…
„Diese Leute sind keine Kämpfer, die meisten hier haben noch nie ‚n einfaches Schwert in der Hand gehabt.“
Ich sah von den bekannten Gesichtern weg und wieder zu dem Menschen.
„Das macht eure Aktion hier ziemlich feige, denkst du nich‘ auch?“
„Wir haben es auf die friedliche Weise versucht. Und doch wurde unsere Hauptstadt und unser Schloss angegriffen. Wir haben schon hunderte an euch verloren… Mein Partner ist bei der Verteidigung des Schlosses gestorben. Ich werde das nicht noch einmal mit ansehen.“
„… Und wer is‘ jetz‘ gerade dort, um den Rest zu beschützen?“
Der Mensch blieb still, also sprach ich weiter.
„Keine Ahnung wer euch angegriffen hat, aber während ihr hier Unschuldige abschlachtet, sind eure Leute doch ein noch leichteres Ziel.“
Und selbst wenn sie dort wären, wüssten sie doch gar nicht, wie sie uns magische Wesen bekämpfen mussten.
Das hatte sich ja gerade gezeigt.
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