95
Ich brachte Alaina sofort zur Polizei. Sie protestierte nicht, aber ließ auch den gesamten Fußmarsch dorthin meine Hand nicht mehr los, was mich nicht unbedingt störte, denn so konnte sie mir wenigstens nicht vor ein fahrendes Auto laufen.
Detective Cruz hatte zufällig ihre Nachtschicht und behielt Alaina und mich in getrennten Räumen sofort bei sich und befragte uns eingehend zu den Vorfällen. Natürlich ließ ich den Part mit den geklauten Dokumenten weg.
Wenn sie bei Alaina war, nickte ich mit dem Kopf auf der Tischplatte und Loaf auf dem Schoß ein, denn Detective Cruz' angebotenen Kaffee lehnte ich dankend ab.
„Wie zur Hölle hat sie es geschafft, die Serviette mit der Game-Over-Aufschrift unter meine Rum-Cola zu schmuggeln?", hatte ich vor ein paar Stunden gefragt. Alle anderen Taten konnte ich mir zusammenreimen, aber das?
„Sie hat sich als eine neue Kellnerin ausgegeben, die bei dem hektischen Betrieb aushelfen sollte", hatte Detective Cruz geantwortet.
Diese ganze Stalker-Nummer musste Alaina wahnsinnig viel Energie abverlangt haben und mir wurde mehr und mehr bewusst wie verzweifelt sie gewesen sein musste.
Ich hatte Alaina nicht anzeigen wollen, aber Detective Cruz sagte mir, dass sie sich bereits selbst angezeigt hatte und ich mich auf einen ellenlangen Prozess vorbereiten sollte, auf den ich ehrlich gestanden wenig Lust hatte.
„Sie ist kein grauenhafter Mensch", sagte ich müde, gegen vier Uhr morgens, als Detective Cruz wieder mir gegenüber saß.
Sie schüttelte traurig den Kopf. „Das ist sie nicht. Und je länger ich mit ihr geredet habe, desto deutlicher wurde, dass sie einfach nur verzweifelt war. Dass sie nach jemandem gesucht hat, der ihr Freund sein kann."
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie einsam es sein musste, mit einem Trauma aufzuwachsen, von Familie zu Familie gereicht und von allen gemieden zu werden.
Und plötzlich machte sich in mir ein unfassbarer Hass auf ihre Eltern breit.
„Alaina war durch alles, was sie erlebt hat, so geprägt, dass sie vielleicht gedacht hat, niemals Freunde zu finden, wenn sie die Leute nicht hinters Licht führt", sagte ich nachdenklich. „Sie hat sich einen Stalker ausgedacht, weil sie geglaubt hat, nicht interessant genug zu sein, um von mir bemerkt zu werden. Um von irgendjemandem bemerkt zu werden. Und um fair zu sein, sie hat recht damit gehabt, dass ich mich nicht sonderlich für sie interessiert hätte, aber das liegt daran, dass ich ein Idiot bin." Detective Cruz schmunzelte. „Sie wollte nur, dass ihr jemand ein wenig seiner Zeit schenkt. Und sie hat keine andere Möglichkeit gesehen, als..." Ich wäre vielleicht auf einen Drink mit ihr gegangen, wenn sie einfach an meine Türe geklopft hätte, aber mehr auch nicht. Ich hätte sie wieder vergessen, weil sie in meinen Augen so unscheinbar war und ein Teil von mir hasste mich dafür. Ich gehörte zu jenen Menschen, die dafür gesorgt hatten, dass sie so verzweifelt geworden war.
„Traurig, dass es so weit mit ihr gekommen ist", seufzte Detective Cruz. „Es scheint beinahe so, als ob manche Menschen von Anfang an keine Chance auf ein gutes Leben haben. Mit solchen Eltern... mit dieser Vergangenheit. Es ist nicht fair."
Ich nickte zustimmend. „Was passiert jetzt mit ihr?"
Detective Cruz zog angestrengt die Augenbrauen hoch. „Nun ja, es kommt einiges zusammen. Neben dem Stalking haben wir Körperverletzung, Drohungen, Falschaussagen bei der Polizei..."
„Kann sie denn nach Hause?"
„Ich kann sie im Augenblick nicht nach Hause gehen lassen, nein."
Ich betrachtete meinen Daumennagel eingehend, als ob er spannender wäre als alles, was ich in meinem Leben bisher gesehen hatte.
„Kommt sie ins Gefängnis?", fragte ich schließlich und sie schwieg eine Weile.
„Es wird bestimmt zu einem Prozess kommen", meinte sie dann. „Aber ob sie ins Gefängnis muss, entscheidet der Richter. Aber aufgrund ihrer Vergangenheit und der Tatsache, dass sie niemals ernsthaft vorhatte, jemandem zu schaden, könnte sie gute Chancen auf Bewährung haben. Wir müssen abwarten."
Sollte sie im Gefängnis landen, würde ich sie besuchen. Wöchentlich. Sie hatte niemanden und brauchte jemanden, oder? Und Wren würde es bestimmt nicht tun. Außerdem fing ich an, sie zu mögen, obwohl sie mich durch die Hölle geschickt hatte. Vielleicht, weil sie ähnlich für ihre Mitmenschen empfand, wie ich. Sie glaubte auch, dass niemand sie gerne haben konnte.
Nur hatte ich mich mit der Einsamkeit abgefunden und war zufällig auf ein paar Leute gestoßen, die mich ertragen konnten. Und einen Hund, der mir auf die Hose sabberte.
Sie hatte auch jemanden verdient, der sie ertragen konnte.
„Kann ich sie sehen?" Detective Cruz schüttelte den Kopf.
„Das darf ich nicht erlauben, solange Sie Ihre offizielle Aussage nicht gemacht haben. Tut mir leid."
Ich rieb mir über die Augen. „Wissen Sie, was ich glaube?"
Sie sah mich aufmerksam an, obwohl sie bestimmt selbst schon unglaublich müde war.
„Wenn man jemandem sein Leben lang einredet, dass man ein Monster ist, dann wird man irgendwann eines." Obwohl ich nicht glaubte, dass Alaina ein Monster war. Aber ich glaubte auch nicht, dass das alles jemals passiert wäre, wenn die Menschen sie normal behandelt hätten. Trotz schrecklicher Kindheit.
„Sie hatte niemanden in ihrem Leben", sagte Detective Cruz und nahm sich die Brille ab, um sich übers Gesicht zu reiben. Dann verschränkte sie die Finger ineinander und sah mich an. „Sie hat sich so sehr jemanden gewünscht, der einfach nur da war und sie mochte, dass sie darüber hinaus vielleicht die Realität vergessen hat. Sie ist kein Monster. Und sollte sie ins Gefängnis kommen, dann bestimmt nicht sonderlich lange."
Ich blieb noch bis zum Morgengrauen, bevor Detective Cruz mich nach Hause schickte, damit ich schlafen konnte. Ob ich das Malcom erklären konnte? Heute zur Arbeit zu gehen, schien mir unmöglich.
„Das haben Sie übrigens hervorragend gemeistert", sagte Detective Cruz, als ich mir die Jacke anzog und sie mich in die Eingangshalle brachte, in der mir wieder die Bilder des wütenden Reys in den Sinn kamen, aber sie schenkten mir keine gute Laune.
„Was denn?", fragte ich.
„Sie haben Alaina dazu gebracht, Ihren Hund gehen zu lassen und haben sie vom Springen abgehalten." Ich nahm an, dass sie auch Alaina hatte detailgetreu wiedergeben lassen, was auf der Brücke passiert war. Was gesagt und getan worden war.
Anerkennung lag in ihrem Blick.
„Wissen Sie", begann sie vorsichtig, als spräche es gegen die Vorschrift, auszusprechen, was auch immer sie gleich aussprechen wollte. „Es gibt ein Ausbildungsprogramm in New York für sogenannte Deeskalationsteams. Leute, die für verschiedene Situationen ausgebildet und darauf trainiert werden, diese zu analysieren und zu entschärfen. Geiselnahmen, Suizidversuche, Amokläufe..."
„Okay", sagte ich langsam.
„Schon mal darüber nachgedacht, mit Menschen zu arbeiten?", fragte sie und legte den Kopf schräg. „Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe trete, aber in einer Tierhandlung zu arbeiten scheint mir kaum das Richtige für jemanden wie Sie."
Ich stieß amüsiert den Atem aus. „Nein. Nein, bestimmt nicht. Ich... ich bin nicht gut im Umgang mit Menschen. Das da auf der Brücke war nur ein Zufall. Und müsste ich es bei jemandem tun, den ich nicht kenne, würde ich es bestimmt versemmeln und müsste den Leichensack auspacken."
Sie lächelte. „Genau dafür würden Sie ja ausgebildet werden. Das, was Sie beide mir über diesen Abend erzählt haben, sagt mir, dass sie ein Gespür für Menschen haben. Die Art, wie sie Alaina verstehen und nicht hassen, nach allem, was sie Ihnen angetan hat. Dass es ihnen leicht fällt, Menschen einzuschätzen und Situationen richtig zu erkennen. Das hat nicht jeder und so etwas kann man nicht antrainieren." Ich zog Loafs Leine kurz an, weil sie das Hosenbein der Polizistin nicht in Ruhe lassen wollte. „Es braucht eine gute Menschenkenntnis und ein ausgezeichnetes Gespür für gefährliche Situationen. Und das haben Sie. Sie könnten es sich ja überlegen", lächelte sie und ich nicke, bevor ich mich abwandte.
„Ach, und im Übrigen... Menschen, die behaupten, Menschen nicht zu mögen, sind perfekt für diesen Job geeignet."
„Wieso das?", fragte ich amüsiert und drehte mich an der Türe noch einmal um.
Sie sah mich wissend an. „Weil sie sich selbst oft als Außenseiter sehen und besser mit Betroffenen reden können. Sie können sich oft mit Leuten identifizieren, die... zum Beispiel eine Brücke hinunterspringen wollen."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro