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„Und ich bin der Weihnachtsmann", entgegnete ich trocken, sobald ich die Nerven hatte, auf das, was Wren Johnson eben gesagt hatte, zu antworten. Die ersten paar Sekunden hatte ich ihn nämlich nur bekloppt angestarrt.
Mein Gehirn schien zu arbeiten aufgehört zu haben und versuchte aus all dem einen Sinn zu basteln.
Aber ich kam nur zu dem Entschluss, dass er lügen musste, für alles andere konnte ich nicht das nötige Verständnis aufbringen.
Er sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Wer zur Hölle sind Sie?"
„Wer zur Hölle sind Sie?", gab ich die Frage zurück.
„Wren Johnson."
„Ich kann lesen", meinte ich und deutete auf den Briefkasten. „Aber Sie behaupten, dass Alaina Ihre Stalkerin ist?"
„Ich behaupte es nicht. Ich weiß es." Eine dreiste Lüge. Das konnte nicht stimmen.
„Gut, dann klären Sie mich auf", forderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was hat Sie denn getan?"
Er öffnete die Türe einen Spaltbreit weiter. Zum Glück war er einen halben Kopf kleiner als ich, so konnte ich ihn im Notfall vielleicht überwältigen.
„Naja, zuerst hat es mit Briefen angefangen. Sie sind jeden Mittwoch und Donnerstag angekommen." Er lügt. „Irgendwann ist sie mir überall wie zufällig über den Weg gelaufen. Beim Einkaufen, im Kino, in der Waschstraße... Sie hat an meiner Türe geklopft und mir einen riesigen Präsentkorb geschenkt und gesagt: Willkommen in der Nachbarschaft. Aber ich habe nie gesehen, dass sie hier gewohnt hätte."
„Aha." Ich nickte milde und glaubte ihm kein Wort. „Und das haben Sie nie der Polizei gemeldet?"
„Doch, natürlich! Aber ich hatte kein Foto von ihr. Auch keinen Nachnamen. Somit konnte die Polizei nicht viel machen. Dieses Miststück hat sogar meine Freundin bedroht!", schimpfte er sauer. „Meine Freundin hat mich verlassen, weil sie diesen Psychoterror nach ein paar Monaten nicht mehr ausgehalten hat."
„Sie können jemand anderen verarschen", knurrte ich. „Erst war ich mir nicht sicher, aber jetzt weiß ich, dass Sie ihr Stalker sind, sonst wüssten sie die Masche von ihm gar nicht."
„Ich?!", stieß er ungläubig hervor und in seinen Augen blitzte abermals Misstrauen auf. „Wer sind Sie?"
„Das wissen Sie sehr gut."
„Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind!", schoss er sauer zurück und ich stieß den Atem aus.
„Mein Name ist Simon Parker. Und Alaina hat in meiner früheren Wohnung gewohnt. Ich habe immer noch die Stalkerbriefe bekommen, die Sie ihr geschickt haben! Klingelt da was?" Er schüttelte langsam den Kopf. „Haben Sie meine Autoreifen zerschlitzt? Meine Freundin angefahren und gedroht, dass es beim nächsten Mal schlimmer wird?"
„N-nein, sehen Sie das nicht?" Seine Augen wurden größer. „S-Sie hat Sie auch verfolgt. Nur hat sie diesmal den Spieß umgedreht und sich als das Opfer dargestellt."
Ich wusste nicht mehr, wo vorne und hinten war und wollte mir schon die Haare raufen. „Sie wurde entführt, verdammt!"
„Dem Himmel sei Dank!", schoss er zurück und ich hielt inne, um ihn ein wenig eingehender beobachten zu können. Seine rechte Hand zitterte und in seinen Augen stand dieselbe Panik, die ich in Alainas Augen gesehen hatte, bevor ich die Wohnung verlassen hatte. Er spielte mir nichts vor.
Und Alaina hatte es auch nicht getan.
Meine Gedanken rasten, als ich versuchte, mit einer anderen Erklärung aufzuwarten, als die, die vor mir lag. Aber es war schlicht unbegreiflich, dass ich mich so in Alaina getäuscht haben sollte. Das sie so ein großes Spiel aufgezogen haben sollte. Wozu?
„I-ich habe die Briefe noch!", rief Wren Johnson aufgeregt. „Warten Sie hier!" Er schloss die Türe und ich blieb wie angewurzelt stehen. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich nicht bewegen können. Mein Gehirn spielte jede Begegnung mit Alaina vor meinem inneren Auge ab, jeden Brief, den ich bekommen hatte, jedes Wort, das sie mit mir gewechselt hatte, jeden Zweifel, den Rey ihr gegenüber geäußert hatte.
Die Türe wurde wieder geöffnet und Wren hielt mir einen ganzen Stapel an Briefumschlägen hin, die alle genauso aussahen, wie die, die ich bekommen hatte. Nie im Leben hätte er so viele falsche Scheinbriefe geschrieben, für die Eventualität, dass hier jemand auftauchte und ihn als einen Stalker beschuldigte und er den Verdacht von sich lenken wollte.
Ich öffnete ein paar von ihnen und der Stil, in dem sie geschrieben waren, war mir so vertraut, dass sich mir der Magen umdrehte.
Bekommst du bald ein Haustier? Ich habe bemerkt, dass du keine kleinen Gegenstände mehr in deinem Haus herumliegen lässt.
Diese Zeilen erklärten vielleicht, warum er alle Fenster abdunkelte und seine Küche so leer gewesen war.
„Monatelang hat sie mich verfolgt und immer etwas von Schicksal geredet. Dass es kein Zufall sein konnte, dass wir uns auf diese Art kennengelernt haben." Er schüttelte mit zusammengekniffenen Augenbrauen den Kopf. „Ich habe nie verstanden, was sie damit gemeint hat."
Wir werden zusammen sein, auch, wenn du noch nicht sehen kannst, dass wir zusammen gehören.
Ich erinnere mich daran, dass Alaina mir von ihren Versuchen im Lyrikbereich erzählt hatte. Vielleicht war das der Grund, warum sie altmodische Briefe mit so wortgewandten Sätzen schrieb.
Nachdem ich den vierten Brief überflogen hatte, hatte ich genug gelesen, drückte Wren Johnson die Briefe wieder in die Hand und lief zurück zu meinem Auto. Er machte sich nicht die Mühe, mich aufzuhalten.
Hinter dem Steuer wählte ich Alainas Nummer, aber sie ging nicht an ihr Handy, also schrieb ich ihr.
Wir müssen reden.
Mir dröhnte der Schädel und auf der Heimfahrt begann meine Nase zu bluten. Als ich zu Hause ankam drückte ich mir das Taschentuch noch immer gegen die Nase und wankte vorsichtig die Treppen nach oben. Tief in mir drinnen hoffte ich immer noch, dass Wren Johnson gelogen hatte. Dass er sich eine so raffinierte Lüge zurechtgesponnen hatte, dass er mich getäuscht hatte.
Ich wusste ohnehin nicht, wo mir der Schädel stand, er hätte mich mit Leichtigkeit hinters Licht führen können.
Aber ich fand eine leere Wohnung vor und wusste, dass jedes seiner Worte der Wahrheit entsprochen hatte.
Mein Handy vibrierte und ich öffnete hastig die Antwort SMS.
Ich hoffe, dein Hund kann schwimmen.
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