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Ich war mir nicht ganz sicher, woher ich die Nerven für diese Aktion nahm, schließlich hatte Rey recht. Wir hätten dafür im Knast landen können. Und er war ein schwitzendes, zitterndes Nervenbündel gewesen, als ich ihn draußen auf der anderen Straßenseite zurückgelassen hatte.
Nur ich war aus irgendeinem Grund die Ruhe in Person und fühlte mich absolute sicher in dieser riesengroßen, gefährlichen (und ganz und gar nicht legalen) Sache.
Fühlte sich der Stalker auch so, wenn er Alaina verfolgte, ihr Briefe schrieb und sie beobachtete? So energiegeladen? So ekstatisch? So im Recht, obwohl er wusste, dass er es nicht war?
Vielleicht waren manche Menschen einfach besser darin das Falsche zu tun. Verbotenes zu tun. Ob ich wohl zu diesen Menschen gehörte? Es fiel mir auf jeden Fall schwerer, das Richtige zu tun. Oder das, was die Gesellschaft unter dem Richtigen verstand.
Es war noch recht früh, deshalb waren noch nicht allzu viele Polizisten da, aber ich sah Detective Cruz bereits vom Eingang aus durch ein paar Glasscheiben in ihrem Büro sitzen und erklärte dem Polizisten am Empfang, dass ich mit ihr reden musste.
Sie hatte Zeit und bat mich sofort in ihr Büro, schloss die Türe hinter uns, bedeutete mir, mich zu setzen und ließ sich selbst dann mir gegenüber hinter dem Schreibtisch fallen. Sie sah müde, aber gefasst aus. Ob ihr Alainas Verschwinden ähnlich zusetzte, wie mir? Oder hatte sie Fälle auf dem Tisch liegen, die noch viel schrecklicher waren?
Das Büro sah noch genauso aus, wie letztes Mal, nur diesmal sog ich jedes Detail in neuer Größe und Farbe ein. Der unordentliche Schreibtisch mit den Akten, die sich praktisch darauf türmten. Das kleine, braune Regal hinter ihr mit den vielen Büchern und der Topfpflanze darauf, die unmöglich echt sein konnte, denn hier schien kein Fünkchen Tageslicht herein. Es gab keine Fenster. Auf ihrer Kaffeetasse prangte ein Schnurrbart und in der Spiegelung ihrer Brillengläser, die sie beim letzten Mal nicht aufgehabt hatte, erkannte ich, dass sie sich längst in ihren Rechner eingeloggt hatte. Das Schicksal war eindeutig auf meiner Seite. Jetzt musste ich nur hoffen, dass nicht gleich der Bildschirmschoner angehen würde.
„Was kann ich für Sie tun?", fragte sie freundlich. „Falls Sie wegen Alaina hier sind, muss ich Sie leider enttäuschen, wir haben noch nichts herausgefunden."
„Ich... ich wollte mich nur einmal erkundigen, was denn bisher so passiert ist." Ich versuchte, so hilfsbedürftig und verzweifelt wie möglich dreinzublicken. „Wissen Sie, ich... wir standen uns nicht nahe, aber trotzdem ist es schrecklich, dass sie so einfach verschwunden ist und sie hatte ja keine Freunde mehr. Sie hat wegen dieser Stalking-Sache alle verstoßen. Außer ihren Eltern macht sich niemand Sorgen um sie." Wenn mich nicht alles täuschte, schien sich in Detective Cruz' Haltung bei Erwähnung von Alainas Eltern
etwas zu ändern. Ich wusste nicht, was es war und auch ihr Blick wirkte plötzlich unbehaglich. Was das wohl zu bedeuten hatte?
„Ich will nur...", fuhr ich fort und versuchte mir meine Neugierde nicht anmerken zu lassen. Verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare. „Irgendjemand muss sich doch dafür interessieren. Sie darf einfach nicht vergessen werden, verstehen Sie?"
„Ich kann Sie gut verstehen." Sie verschränkte die Finger ineinander und legte die Hände auf den Tisch. „Wir haben die Vermisstenanzeige herausgegeben und in ihrem Umfeld nachgefragt, wo sie zuletzt gesehen wurde. Bei ihrer Arbeit, ihrer Familie." Bei dem Wort Familie kam sie ins Stocken und ich fragte mich abermals, was das sollte. Sie schüttelte den Kopf. „Mehr darf ich Ihnen leider nicht sagen, tut mir leid."
Ich ließ die Schultern hängen und hoffte, dass Rey sich beeilen und nicht kneifen würde. Denn wenn ich das Gespräch nur künstlich in die Länge zog, um Zeit zu schinden, würde Detective Cruz misstrauisch werden. „Gibt es denn nichts, das ich tun kann?"
Wieder dieses traurige, mitleidige Lächeln. „Sie können erreichbar bleiben. Ich könnte mir vorstellen, dass Alaina Sie als erstes kontaktieren würde, sollte sie wieder auftauchen." Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, vielleicht aus dem Grund, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie so einfach wieder auftauchen würde. Wusste Detective Cruz etwas, das ich nicht wusste?
Ich nickte betrübt. „Gut, dann werde ich-" Ein lautes Poltern gefolgt von einem Barbarenschrei ließen mich und Detective Cruz zusammenfahren. Ich drehte mich in meinem Stuhl herum, sah aber nur zwei männliche Polizisten in ihren blauen Uniformen in die Eingangshalle stürmen. Dann folgte lautes Gebrüll und Detective Cruz erhob sich mit zusammengekniffenen Augenbrauen.
„Was zum...?" Sie ging um den Schreibtisch herum. „Ich bin sofort wieder bei Ihnen."
„Was da wohl los ist...", murmelte ich gespielt erschüttert. Sobald Detective Cruz das Büro verlassen hatte, stand ich in einer einzigen fließenden Bewegung von dem Stuhl auf und glitt vor ihrem Computer. Ich wagte es nicht, mich hinzusetzen und berührte Maus und Computertastatur auch nur mit dem Ärmel meiner Weste.
Auch, wenn ihr unaufgeräumter Schreibtisch nicht darauf schließen lassen würde -ihr Computer war aufgeräumt. Alles war nach alphabetisch sortiert, jede Datei. Sie hatte sogar Solitär oben und ich musste schmunzeln.
Auf ihrem Startbildschirm nahm ich an, die Datei zu finden, aber ich entdeckte nur uninteressante Dokumente und Dateien mit Namen, die mir nichts sagten und vielstelligen Zahlen, also durchsuchte ich ihren Windows-Explorer. Ich wollte Alainas Namen nicht in die Suchleiste eingeben, das hätte zu deutliche Spuren meines Treibens hinterlassen. Also half nur suchen.
Der Geräuschkulisse nach zu urteilen, war Detective Cruz ohnehin noch mit Rey beschäftigt, der wie ein Irrer durch die Eingangshalle tanzte. Je verrückter er spielte, desto leichter würde es mir fallen, ihn aus einer Anzeige oder Festnahme herauszuboxen.
Ich wandte mich wieder dem Computer zu. Unter dem Ordner Akten & personenbezogene Daten vermutete ich Alainas Akte.
Bei A fand ich nichts, doch unter M entdeckte ich eine Datei, die Miller Alaina hieß und eine lange fünfstellige Zahl dahinter hatte. Ich zog den USB Stick aus meiner Hosentasche und während ich ihn ansteckte, wagte ich einen erneuten Blick durch die Fensterscheibe in den Empfangsbereich. Rey donnerte gerade mit Fäusten auf den Getränkeautomaten ein (und hatte aus irgendeinem Grund kein T-Shirt mehr an) und zwei Polizisten und Detective Cruz versuchten, den wildgewordenen Schimpansen einzufangen.
Ich wünschte, ich hätte meine Videokamera dabei gehabt.
Ich kopierte die Datei auf den Stick, ohne sie zu öffnen, damit sie nicht als von Detective Cruz zuletzt geöffnetes Dokument aufflammen würde. Innerhalb von Sekunden war die Datei überspielt (kaum zu glauben, wie leicht mein Vorhaben über die Bühne gegangen war). Ich warf den Stick aus, zog ihn ab, stellte noch einmal sicher, dass mich niemand beobachtet hatte und rauschte dann aus dem Büro.
Es war Zeit, Rey zu retten, bevor sie die Elektroschocker auspackten.
„Ach, Gottchen, was machen Sie denn da mit meinem armen Cousin?", rief ich empört aus, als ich aus dem Büro an der Rezeption vorbei in die Empfangshalle lief.
„Ihrem Cousin?", fragte einer der Polizisten schnaufend, der Rey die Arme auf den Rücke gedreht hatte. Mittlerweile hatten sie ihn eingefangen, aber leicht hatte er es ihnen nicht gemacht. Ich war bestimmt zwei Minuten alleine gewesen.
„Ja." Ich seufzte bedauernd. „Der Ärmste ist schwerstgestört. Immer, wenn er seine Medikamente nicht nimmt, dreht er durch wie ein tollwütiges Hühnchen." Ich ging zu den Polizisten und Rey und nahm sein Gesicht in meine Hände. „Alles okay, Miguel", sagte ich extra langsam und deutlich. „Diese Männer wollen dir nichts Böses, du musst dich nur beruhigen."
Ich sah Rey an, dass er mich am liebsten umgebracht hätte, aber gleichzeitig wusste, dass er jetzt mitspielen musste, also stieß er ein paar laute, unverständliche Geräusche aus. Die Position, in der ich mich befand, fand ich absolut großartig.
„Ja, wir bringen dich zurück zu deiner Mama und dann kriegst du deine Zäpfchen". Der Polizist ließ Rey sofort los und ich drehte mich zu Detective Cruz, die vielleicht gerade versuchte, den verstörten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu verbergen.
„Tut mir unendlich leid, ich musste auf Miguel aufpassen und habe ihn draußen gelassen. Er muss Angst vor den ganzen fahrenden Autos und dem Straßenlärm bekommen haben und hereingelaufen sein, um mich zu suchen." Ich fand, dass meine Darbietung oscarreif war. „Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel, er kann nichts dafür, dass er sich vierundzwanzig sieben benimmt wie ein betrunkenes Baby auf Speed." Ich ging wieder zu Rey und legte ihm einen Arm um die Schultern und lächelte ihm aufmunternd zu. Sein unterschwelliger Todesblick verriet mir genug über das, was er dachte.
„Wenn Sie gestatten nehme ich meinen Cousin jetzt wieder nach Hause. Ich entschuldige mich aufrichtig für diese Unannehmlichkeit." Ich versuchte, die umgekippten Stühle und die abgerissenen Zettel an der Wand besonders mitleidig anzusehen. Sogar eine Topfpalme wälzte sich in ihrer eigenen Erde.
Als keiner mehr etwas sagte, sondern alle mich und Rey nur noch verständnisvoll musterten, schob ich Rey zur Türe hinaus.
„Ich warte auf meinen Oscar", grinste ich, sobald wir auf der Straße waren.
Rey warf mir einen bösen Blick zu und knurrte: „Das werde ich dir niemals verzeihen."
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