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Ich konnte Alaina nicht alleine lassen.
Ich hätte es gerne getan, aber ich hatte das Gefühl, Schuld daran zu sein, dass sie nun noch mehr Angst hatte. Ich hätte ihr nichts von dem Brief und den Kinokarten sagen sollen, die mir der Stalker geschickt hatte.
Aber dann wäre sie Zuhause gewesen, wenn der Stalker gekommen wäre.
Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte der Stalker stattdessen mein Wohnzimmer mit meinem Gesicht tapeziert. Wer wusste das schon?
Während die zwei Polizisten durch die Wohnung streiften und sich ansahen, was passiert war, war Alaina vollkommen still. Sie stand nahe der Türe, sagte kein Wort und ignorierte die beiden gekonnt, als wären sie nur Luft.
Ich erzählte den Polizisten von meinen zerstochenen Reifen, von den unzähligen Briefen, dem zerschnittenen Stoffhasen und zeigte ihnen sogar dieselben Beweisfotos, die ich Alaina geschickt hatte.
Die blonde Polizistin in ihren Fünfzigern bombardierte mich mit Fragen, während ihr wesentlich jüngerer Kollege durch die Wohnung streifte.
Wie lange waren wir weggewesen? Höchstens drei Stunden.
Wie lange wurde Alaina schon verfolgt? Mindestens zwei Jahre.
Wer hatte noch Zugang zu diesem Apartment? Ihre Eltern.
War es möglich, dass Nachbarn jemanden bemerkt haben? Keine Ahnung.
Hatte sie einen Verdacht, um wen es sich bei dem Stalker handelte? Nein.
Die Polizistin bezeichnete Alainas Wohnung als Tatort und in diesem Augenblick rieb sich Alaina verzweifelt übers Gesicht. Die Polizisten wollten diesen Ort absichern und nach Spuren suchen, was bedeutete, dass Alaina die nächsten zwei Tage nicht in dieser Wohnung bleiben konnte. Die Polizistin betonte, wie ungeschickt es gewesen war, dass wir das Apartment betreten hatten und Alaina einige der Vermisstenanzeigen von der Wand gerissen hatte, schien aber nicht aufgebracht, sondern sah nur mitfühlend zu Alaina, die immer noch jeglichen Blickkontakt mied und sich so klein und unauffällig wie möglich machte.
Ich verstand das. Ich hätte auch nur ungerne zwei Polizisten in meiner Wohnung gehabt. Zwei völlig Fremde, die sich hier in aller Ruhe umsehen wollten, nachdem jemand eingebrochen war.
Die Polizistin fragte Alaina, ob sie solange irgendwo unterkommen konnte und sie zögerte; ging in ihrem Kopf sichtlich alle Optionen durch.
Sei ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, hörte ich Rey mich rügen, nur Sekunden bevor ich Alaina ein wenig widerstrebend anbot, so lange bei mir zu bleiben.
Ich wusste, dass ihre Eltern außerhalb der Stadt wohnten und sie all ihre restlichen sozialen Kontakte gekappt hatte. Und da sie in einem Strip-Club kellnerte, hatte sie bestimmt auch nicht genügend Geld, um sich ein Hotelzimmer mitten in New York zu leisten.
Die Polizistin nahm unsere Kontaktdaten auf und gab uns beiden die Telefonnummer ihres Departments und ihrer Abteilung und sagte uns ihren Namen, damit wir bei weiteren Schwierigkeiten oder Nachrichten des Stalkers oder auch Fragen sofort würden anrufen können.
Ich fand, dass die beiden sehr aufmerksam und freundlich gewesen waren. Auf welcher Polizeistation Alaina früher auch gewesen sein mochte, die beiden entsprachen kein bisschen der Ignoranz, der sie anscheinend zuvor begegnet war und ich fand beinahe, dass ihre Angst vor den Cops unberechtigt war.
Bevor wir ihre Wohnung wieder verließen, stopfte Alaina ein paar Sachen zum Anziehen und ihre Zahnbürste in eine Tasche.
„Schade, ich habe eigentlich darauf gewartet, dass sie eines dieser gelben Crime-Scene Bänder über deine Türe kleben", sagte ich, als ich meinen Wagen zu mir nach Hause lenkte. Alaina zog eine Augenbraue hoch.
„Zu früh?", fragte ich.
„Etwas", nickte sie.
„Es wird dir nichts passieren."
„Falsch. In einer Gefängniszelle könnte mir nichts passieren. Bei dir kann mir sehr wohl etwas passieren." Sie begann, an ihrem Daumennagel herum zu kauen. „Glaubst du, es ist nur eine leere Drohung?", fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich denke, du kennst deinen Stalker etwas besser als ich. Was denkst du?"
Sie sah mich nicht an, sondern betrachtete die vorbeiziehenden Häuser. Sie sagte lange nichts und ich war so im Fahren versunken, dass ich auf meine Frage vergessen, wenn sie nicht irgendwann geflüstert hätte: „Ich habe Angst."
„Du wärst verrückt, wenn du keine hättest."
„Das wird niemals aufhören, oder?"
Ich neigte den Kopf. „Kommt darauf an. Willst du sonntags in die Kirche und für einen kleinen Unfall beten?" Sie schloss angestrengt die Augen und ich seufzte. „Tut mir leid, ich rede immer Unsinn, wenn ich nicht weiter weiß."
Nun drehte sie das Gesicht zu mir und ich glaubte, ein trauriges Lächeln auf ihren Lippen zu sehen, als ich einen kurzen Blick zu ihr wagte. „Schon okay. Ich weiß auch nicht weiter."
Es war nach Mitternacht, als wir meine Wohnung betraten und ich war unendlich froh, dass morgen Sonntag war und ich nicht arbeiten musste. Dafür erzählte Alaina mir, dass sie morgen Abend würde arbeiten müssen, weil sie ihre Schicht mit einer Kollegin wegen des Kinoabends getauscht hatte.
Diesmal sah sie sich viel neugieriger in meinem Apartment um, als das letzte Mal, als sie hier gewesen war und ich überprüfte, ob die Türe wirklich abgeschlossen war. Ich ließ sogar den Schlüssel stecken, damit ein Knacken des Schlosses schwieriger bis unmöglich wurde. Zumindest glaubte ich, dass es so war.
Alaina ließ ihre Tasche neben die Couch gleiten und sah sich um. Loaf begrüßte sie aufgeregt und sie beugte sich lächelnd zu ihr und strich ihr übers Fell.
„Es ist so leer", bemerkte sie dann und ich schweifende Blick landete wieder auf mir.
„Leer?", hakte ich nach. „Was brauche ich denn? Einen Billiardtisch?"
Sie grinste. „Das wäre ziemlich cool."
Ich zog mir die Jacke und die Schuhe aus. „Gibt mir nur fünf Minuten. Ich bezieh nur schnell mein Bett neu, dann kannst du dich hinlegen."
„Was?" Sie richtete sich auf und blinzelte mich mit großen Augen an.
„Keine Sorge, ich schlafe auf der Couch."
Sie lachte ungläubig und, wie mir schien, auch verlegen auf. „Hör auf, so nett zu mir zu sein."
„Das hat noch nie jemand zu mir gesagt."
„Du musst mich nicht in deinem Bett schlafen lassen."
„Aber genau das macht doch meinen ganzen Charme aus, oder?" Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Aber sobald mir klar wurde, dass mein Gehirn gerade versuchte, mit Alaina zu flirten, ließ ich das Lächeln fallen und ging auf mein Zimmer. Ich wollte nicht mit ihr flirten. Und ich wollte nicht, dass sie dachte, dass ich ihr aus den falschen Gründen angeboten hatte, hier zu bleiben.
Alaina war ohnehin nicht mein Typ. Sie war mir ein bisschen zu jung. Sie sah zu brav aus. Zu gewöhnlich.
Zu sehr wie Liv.
Eine Stimme oder vielleicht auch nur ein Gefühl flüsterte mir zu, dass ich Juliana wollte, weil sie alles war, was ich... ertrug. Sagen wir so.
Nachdem ich mein Bett frisch bezogen hatte, warf ich einen flüchtigen Blick durch den Raum. Ja, er sah akzeptabel aus. Ich hatte nie zu den Menschen gehört, die ein besonders unordentliches Zimmer hatten. Vielleicht, weil ich einfach nicht sonderlich viele Sachen besaß.
„Okay!", verkündete ich, als ich mit dem Bettwäscheknäul in beiden Armen aus dem Zimmer trat und die Türe des Badezimmers mit meinem Fuß aufstieß. „Alles fertig." Alaina, die sich mit Loaf auf die Couch gesetzt hatte, verkniff sich augenscheinlich ein Schmunzeln, vielleicht, weil ich mit dem Stoffball vor mir unheimlich bescheuert aussah. Ich stopfte die Wäsche in den Wäschekorb und als ich mich umdrehte, stand Alaina in der Türe.
„Danke", lächelte sie. „Für alles."
Ich wusste nicht wirklich, was ich darauf antworten sollte. Ich hatte es schließlich nicht unbedingt freiwillig getan. Aber ich musste auch zugeben, dass es sich nicht ganz so beschissen anfühlte, etwas Gutes zu tun.
„Geh schlafen", sagte ich. „Es ist schon verdammt spät."
Wie aufs Stichwort gähnte sie und steckte mich damit an.
Ich holte noch meine Schlafsachen und Alaina nahm ihre Tasche, wünschte Loaf und mir eine gute Nacht und verschwand auf mein Zimmer. Nachdem sie die Türe zu meinem Zimmer geschlossen hatte, zog ich mich um und machte es mir auf der Couch bequem. Loaf sprang zu mir und legte sich auf meinen Bauch. Ich streichelte sie ausnahmsweise, anstatt sie wieder auf den Boden zu schubsen. Ihre Anwesenheit tat mir ganz gut, nach allem, was heute Abend passiert war.
Es war unheimlich in meinem Wohnzimmer auf der Couch im Dunkeln zu liegen, nachdem wir Alainas Wohnung mit einem Haufen Vermissten-Anzeigen vorgefunden hatten und beide wussten, dass der Stalker noch irgendwo da draußen war.
Ich war mir nicht sicher, ob ich heute Nacht Schlaf finden würde, mit dem Zielobjekt des Stalkers in dem Zimmer neben mir.
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