12
Um halb sechs stand ich vor Juliana's Türe und konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihren Einkauf wie ein Lieferbote einfach vor der Türe stehen lassen und wieder gehen, oder ob ich anklingeln sollte. Nachdem ich etwa zwei Minuten immer wieder ein paar Schritte weggegangen war, nur um dann wieder umzudrehen, klingelte ich schließlich an.
„Sekunde!", hörte ich sie rufen. Nach einigen Momenten zog sie das Vorhängeschloss zurück, sperrte die Türe auf und öffnete sie. „Parker!", lächelte sie. „Ich hab mich schon gefragt, wann du dich endlich traust, anzuläuten."
„Wie bitte?", fragte ich verwirrt. Sie umklammerte den Griff des Trockenfutters mit beiden Händen und zog den Sack in ihre Wohnung. Dabei fielen ihr ein paar der Meerjungfrau-blauen Strähnen ins Gesicht.
„Naja, ich hab deinen Schatten unter dem Türspalt gesehen", erklärte sie lächelnd. „Nachdem du drei Mal hin und her gerannt bist, dachte ich eigentlich, dass du dich einfach verdrückst."
Wow. Das war peinlich. Aber ich wollte es überspielen.
„Wie gesagt, ich hasse alle Tiere, deshalb..." Ich deutete auf den wedelnden, schwarzen Punkt, der direkt hinter Juliana stand, die den Sack mit den restlichen Einkäufen in die Wohnung zog.
„Möchtest du reinkommen?", fragte sie plötzlich. Sie war irgendwo in der Küche verschwunden.
„Ich hasse Tiere", wiederholte ich lediglich, obwohl ich tatsächlich nichts dagegen gehabt hätte, noch ein Weilchen zu bleiben.
„Und magst du Bier?"
„Überredet." Ich bückte mich nach dem Hundekörbchen, das ich auf der Fußmatte abgestellt hatte und trug es hinein, bevor ich die Türe hinter mir schloss.
Obwohl ich schon länger hier wohnte als Juliana, sah ihr Apartment wesentlich gemütlicher aus als meines. In meiner Wohnung standen alte Möbel herum, die ich billig auf eBay ersteigert hatte. Die Teppiche hatten an Farbe verloren und die Vorhänge waren staubig. Die Fenster dreckig und in den Badezimmerecken saß der Schimmel, den ich mit der Kommode für Handtücher und dem Wäschekorb zu verstecken versuchte. Drei der fünf Glühbirnen im Wohnzimmer leuchteten nicht und ich war zu faul, sie zu wechseln.
In Juliana's Apartment hingen überall große Bilder an den frisch gestrichenen Wänden. Die Teppiche waren cremefarben und die Möbel hell und freundlich. Vor dem Fenster standen viele Pflanzen, die Fenster waren sauber und gaben einen wesentlich hübscheren Ausblick auf die Stadt. Der Goldfisch, der feuchtfröhlich neben dem riesigen Flachbildfernseher in seinem Glas herumschwamm.
Ich hatte auch einen tollen Ausblick. Auf die Hauswand des gegenüberliegenden Hauses.
Bei ihr war es hell und es standen Duftkerzen in den Regalen, auf den Kommoden und auf dem Tisch. Direkt neben der Türe hing ein riesiger Spiegel und ich stellte nur kurz sicher, dass der Regen meine Frisur nicht zu platt gedrückt hatte. Schnell fuhr ich durch die nassen Haare, und dann kam Juliana auch schon rechts aus der Küche.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Mädchen Geld hatte. Oder, dass Julianas Eltern Geld hatten.
Sie nahm mir den Hundekorb ab und drückte mir stattdessen eine geöffnete Flasche Bier in die Hand. Nachdenklich drehte sie sich um.
„Wohin mit dem Korb?", murmelte sie und sah sich im Wohnzimmer um. Dann drehte sie sich zu mir, weil ich immer noch im Vorzimmer herum stand. Sie lächelte. „Du kannst dich ruhig hinsetzen. Du musst auch deine Schuhe nicht ausziehen, ich bin da nicht so pingelig."
Weil man einer Frau natürlich niemals widerspricht, setzte ich mich brav auf die Couch und ging schon alle Möglichkeiten durch, wie dieser Abend wohl enden könnte. Es waren schöne Vorstellungen. Ein bisschen versaute Vorstellungen. Unrealistische Vorstellungen, aber ich versank trotzdem für einen Augenblick in ihnen.
Juliana stellte den Korb erst neben das Bücherregal, in dem vorwiegend Bilder von ihr und einem jungen Mann standen, dann neben den Heizkörper und schließlich verschwand sie in ihre Zimmer. Der Hund tippelte ihr noch überall hinterher, aber ich war sicher, diese Phase würde sich bald legen.
„Okay, das wäre geschafft", seufzte sie zufrieden, verschwand kurz in der Küche, kam wenige Sekunden später mit einem eigenen Bier wieder und ließ sich neben mir auf der Couch fallen. Sie trug eine schwarze Jogginghose, die ihre schlanken Beine betonte und ein lockeres graues T-Shirt, das ihr über die rechte Schulter hing und ihren roten BH-Träger entblößte.
Das Kopfkino begann von neuem.
„Danke, dass du meine Sachen mitgenommen und in den vierten Stock getragen hast", lächelte sie.
„Ich würde ja sagen Kein Problem, aber ich finde, du schuldest mir jetzt etwas", gab ich zurück und sie lachte.
„Wirklich? Okay. Was denn?"
„Ich überleg mir noch was." Ich trank einen Schluck aus meinem Bier. „Aber fürs Erste wüsste ich gerne, wie eine stolze Goldfischbesitzerin auf die Idee kommt, sich einen Hund zu kaufen."
„Warum ist das so abwegig?" Sie stützte ihren Ellenbogen auf der Lehne der Couch ab, vergrub die Finger in ihren Haaren und sah mich neugierig an.
„Ich habe ein paar Theorien."
„Lass hören", schmunzelte sie.
„Nummer eins: Du hattest als Kind einen Hund und willst diese Erinnerungen wieder aufleben lassen -aus welchen Grund auch immer. Nummer zwei: Dein voriger Hund ist vor kurzem gestorben und du willst einen Ersatz. Und dann bleibt noch Nummer drei."
„Ja?", fragte sie gespannt.
„Nummer drei hab ich noch nicht ausgearbeitet."
Sie lachte wieder. „Warum gehst du in beiden Versionen davon aus, dass ich schon einmal einen Hund hatte?"
„Weil ich gesehen habe, wie du den Hund gehalten hast. Du wusstest, was du tust. Das tut keiner, der sein Leben lang nur seinen Goldfisch als Tagebuch missbraucht hat. Der Hund hat sich wohl bei dir gefühlt, du hast Selbstsicherheit ausgestrahlt."
Sie richtete sich auf. „Ich hatte aber nie einen. Was sagst du jetzt?"
„Dann hatte jemand aus deinem Umfeld einen Hund. Damit wäre Theorie Nummer drei geboren."
Sie betrachtete mich studierend. „Analysierst du alle Menschen so?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich will Menschen einfach verstehen." Der Hund sprang auf die Couch und beschnupperte mein Knie, bevor er sich auf den Rücken fallen ließ, um von mir auf dem Bauch gekrault zu werden.
„Denkst du denn, dass alles, was wir Menschen tun, rationalisiert und erklärt werden kann?" Sie begann den Köter zu kraulen, als ich es nicht tat.
Ich nickte. „Das Verhalten jedes Menschen lässt sich erklären. Immer. Man muss sich nur die Zeit nehmen, um es zu verstehen."
Sie rutschte auf der Couch herum. „Bist du Hobbypsychologe oder so?"
Mir entfuhr ein Lachen. „Nein, darin wäre ich auch nicht sonderlich gut." Vermutlich würde ich meinen Patienten in ihren Unsicherheiten zustimmen und ihnen sagen, dass sie totale Versager waren. „Aber ich lerne gerne die Menschen in meinem Umfeld kennen."
„Also... dann analysierst du wirklich alle Menschen so."
„Ja." Der Hund leckte ihr die Hand ab. „Und ich würde gerne verstehen, warum du dir diesen Hund geholt hast."
Einen Augenblick lang sah sie mich zweifelnd an, dann atmete sie durch und gab sich geschlagen.
„Mein Ex-Freund hatte einen Hund. Einen schwarzen Retriever. Er hieß Loaf."
„Der Hund oder der Freund?", fragte ich, woraufhin sie auflachte.
„Der Hund, du Idiot."
„Und kommt es von Bread Loaf oder Meat Loaf?"
„Warum ist das wichtig?", fragte sie, beinahe genervt, aber immer noch positiv gestimmt.
„Ich bin nur neugierig."
„Du nimmst das mit dem Analysieren viel zu genau", ließ sie mich wissen, bevor sie endlich auf meine Frage einging. „Meat Loaf. Aber frag nicht nach dem Grund, das ist eine lange Geschichte."
„Und du legst dir wegen deinem Ex einen Hund zu?", stellte ich irritiert fest. „Warum?"
Ich wollte nichts mehr von Liv wissen. Zumindest wollte ich nichts in meiner Nähe wissen, das mich absichtlich, tagtäglich an sie erinnert hätte. All unsere Fotos waren schon längst im Mülleimer gelandet und den Schlüsselanhänger, den sie mir geschenkt hatte, hatte ich von einer Brücke in den Fluss geworfen.
Ein Schatten huschte über Juliana's Gesicht. „Willst du jetzt wirklich über meinen Ex-Freund reden?"
Was sollte ich sagen? Ich liebte es eben, hinter die Fassade von Menschen zu blicken und ihre Geheimnisse zu lüften. Ihre Vergangenheiten zu ergründen.
„Ist er das?", fragte ich und deutete auf die Fotos im Regal. Ihr Blick war Antwort genug. Wer zur Hölle bewahrte Erinnerungsstücke des oder der Ehemaligen auf?
Doch noch bevor ich ernsthaft darüber nachdenken musste, warum sie etwas von ihrem Ex-Freund um sich haben wollte, das sie stets an ihn erinnern würde, wusste ich die Antwort. Es war so offensichtlich, dass ich mir schon beinahe mit der flachen Hand gegen die Stirn hätte schlagen können.
Wen man sich von einem Menschen, egal von welchem, trennen wollte, sollte man so gut wie möglich alles von dieser Person aus seinem Leben verbannen.
Mit einer Ausnahme.
„Er ist gestorben."
Verwundert und erschrocken sah sie auf, aber gleichzeitig schien sie ruhig und traurig werden. Sie verleugnete meine Vermutung auch nicht. Sie schien lediglich ein bisschen verwirrt, wie ich so schnell dahinter gekommen war und mich auch noch getraut hatte, diese Vermutung so sicher auszusprechen.
Natürlich hätte ich auch falsch liegen, und sie einfach ein verrücktes, masochistisches Mädchen sein können, das nicht von ihrem Ex-Freund los kam. Aber wie hoch stand die Chance auf eine Frau zu treffen, die ihren Ex nicht mit dem Auto überfahren wollte?
„Du darfst mich gerne wissen lassen, wenn meine Schlussfolgerung falsch ist", sagte ich und fing mir einen seltsamen Blick ein. „Du hast Malcom gesagt, dass du aus Oregon kommst. Das ist praktisch am anderen Ende des Kontinents", sagte ich.
„Und?"
„Bist du deshalb hier her gezogen?"
Sie betrachtete mich einen Augenblick lang. Es war keine Spur mehr von dem fröhlichen Mädchen zu sehen. Sie wirkte verschlossen. Auch den Hund streichelte sie nicht mehr. Dann stellte sie ihr Bier auf den Glastisch vor uns.
„Danke, nochmal fürs... Herauftragen von meinen Sachen."
„Ist das die freundliche Variante von: Verzieh dich aus meiner Wohnung, du Arschloch?"
„Ja", nickte sie und sah mir kühl in die Augen.
Ich sag doch, die meisten Menschen ertragen die Wahrheit nicht.
Aber ich wollte ihr nicht weiter auf die Nerven gehen, also stellte ich mein halb ausgetrunkenes Bier ebenfalls ab und verließ ohne ein Wort zu sagen ihre Wohnung.
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