3.
Pjotr wartete in seinem Quartier auf ihn.
Nikolai zog den Waffenrock aus und legte ihn fein säuberlich auf den Schreibtisch, hinter dem sein Bursche saß und Dokumente für ihn bearbeitete.
„Lass den reinigen, am Ärmel befindet sich ein kleiner Fettfleck. Ich erwarte, dass er morgen wieder in tadellosem Zustand ist."
Respektvoll senkte Pjotr den Kopf. „Sehr wohl, Euer Gnaden."
Er streifte sich die Stiefel von den Füßen und stellte sie perfekt nebeneinander an die Wand, sodass sie sich im genau gleichen Abstand zueinander befanden, bevor er sich in den Sessel am Fenster setzte und einen tiefen Seufzer ausstieß. Eine seltsame Schwere ergriff von seinen Gliedern Besitz, während er versuchte, das Pochen in seinen Schläfen zu ignorieren. Durch das Fenster starrte die kalte, dunkle Nacht herein. Ständig musste er daran denken, was Brussilow zu ihm gesagt hatte. Er war nicht gut genug. All seine Bemühungen waren umsonst gewesen.
„Ist alles in Ordnung, Euer Gnaden?", fragte Pjotr vorsichtig.
„Was soll die dämliche Frage?", giftete Nikolai und als sein Bursche verschüchtert die Augen niederschlug, taten ihm seine Worte leid. Abermals seufzte er.
„Meine Stiefel müssen noch geputzt werden. Gründlicher als beim letzten Mal, verstanden?"
Pjotr nickte hastig. „Jawohl, Euer Gnaden."
„Bring mir etwas zu trinken."
„Natürlich, was hätten Sie gerne?"
Gleichgültig zuckte Nikolai mit den Schultern. „Irgendetwas Alkoholisches. Beeil dich, ich schätze es nicht zu warten."
Sein Bursche machte sich sofort auf den Weg und kam abgehetzt mit einer Flasche Wodka und einem Glas zurück. Er stellte beides auf dem kleinen Tisch neben Nikolai ab, allerdings nicht richtig. Nikolai rückte die Gegenstände zurecht. Nachdem Pjotr ihm etwas eingeschenkt hatte, musste er die Anordnung von Flasche und Glas noch einmal korrigieren. Unsicher blieb sein Bursche neben ihm stehen. Nikolai hob eine Augenbraue. „Hast du nicht genügend zu tun?"
„Gewiss, Euer Gnaden. Verzeihen Sie."
Eiligst machte sich der junge Mann daran, an den Schreibtisch zurückzukehren. Während der Wodka wohlig heiß in seiner Kehle brannte und zum ersten Mal an diesem Tag für ein Gefühl der Entspannung sorgte, betrachtete er seinen Burschen. Er hatte nicht so gemein zu ihm sein wollen, doch der Frust und die Enttäuschung von der Lagebesprechung hatten ihn ärgerlich gemacht und Pjotr zählte zu den wenigen Menschen, vor denen er nicht kriechen musste, wenn er etwas erreichen wollte. Es war eine willkommene Abwechslung, bei ihm nicht gute Miene zum bösen Spiel machen zu müssen. Immer wieder nahm er sich vor, freundlicher zu ihm zu sein. Er konnte nicht behaupten, dass er Pjotr als Vertrauten oder gar als einen Freund ansah, dafür war das Machtgefälle zwischen ihnen zu groß. Er war Offizier, Pjotr ein Mann aus einfachen Verhältnissen. Trotzdem befand sich der Junge seit Kriegsbeginn treu an seiner Seite. Er gab sich einen Ruck und beschloss, die vorherige Frage des Burschen zu beantworten. „Du wolltest wissen, ob alles in Ordnung ist?"
„Ja, Euer Gnaden. Sie sehen aus, als würde Sie etwas bekümmern."
„Wirklich? Bin ich so schlecht im Verbergen meiner Gefühle?"
Er meinte die Frage ernst, er musste das wissen.
„Ich kenne Sie seit zwei Jahren, Euer Gnaden, ich habe gelernt, Sie zu lesen."
Nikolai nahm einen weiteren Schluck von seinem Wodka. An Tagen wie diesen schätze er die beruhigende, leicht berauschende Wirkung alkoholischer Getränke, auch wenn er ihnen nie verfallen würde. Er wusste, wie wichtig es war, Disziplin zu bewahren. Deshalb genehmigte er sich nur dieses eine Glas.
„Ist es schwer? Mich zu lesen, meine ich?"
„Man sieht, dass Sie sich stets bemühen, sich Ihre Empfindungen nicht anmerken zu lassen."
Also nein, dachte Nikolai. Wie belastend, dass seine Mühen, eben kein offenes Buch zu sein, scheinbar ebenso vergebens waren wie sein Ehrgeiz, befördert zu werden.
„Schade, ich dachte, ich wäre besser. Ich muss wohl an mir arbeiten."
Nikolai zögerte einen Augenblick, bevor er hinzufügte: „Wolltest du eigentlich wirklich wissen, wie es mir geht oder hast du nur aus Höflichkeit gefragt?"
Pjotr lächelte ihn an, ehrlich und warmherzig. „Ich wollte es wirklich wissen, Euer Gnaden. Es ist nicht gut, wenn man alles mit sich selbst ausmacht."
Es war schwer für Nikolai, das zu glauben. Misstrauisch beäugte er seinen Burschen. „Du lügst doch. Für Freundlichkeit gibt es immer einen speziellen Grund. Willst du etwas von mir?"
Pjotr legte die Schreibfeder beiseite und wagte es, ihm offen ins Gesicht zu sehen. „Herr Leutnant, wir kennen uns nicht erst seit gestern. Sie müssten wissen, dass Eigennutz nicht die Kraft ist, die mich antreibt. In den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist das nicht üblich, da ist die Frage nach dem Befinden von ganz unschuldiger Natur."
Beinahe glaubte Nikolai ihm. Der Junge machte einen aufrichtigen Eindruck, von Anfang an. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass ihn seine Freundlichkeit schon lange stutzig machte. Noch nie war jemand nett zu ihm gewesen, ohne sich etwas davon zu erhoffen, schon gar nicht, wenn er sich wie ein Scheusal verhielt.
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen und Pjotr wandte sich seiner Arbeit zu. Nikolai betrachtete sein feines Profil. Nun, da er sich offenbar unbeobachtet wähnte, fiel das Lächeln, das er sonst stets auf seinen Lippen trug, in sich zusammen, aus seinen Augen wich der unbekümmerte Ausdruck und schuf Platz für ein verräterisches Schimmern, während seine Schultern herabsackten. Das war Nikolai schon öfter an ihm aufgefallen. Er erinnerte sich an jene Nacht, in der er ihn weinend vorgefunden hatte und er gestanden hatte, er sehne sich nach seinem Zuhause. Er war so schroff zu ihm gewesen, während Pjotr sogar dann feinfühlig mit ihm umging, wenn er nur den Verdacht hatte, etwas könnte nicht in Ordnung sein. Er wünschte, er könnte ihm helfen.
Nikolai versuchte, sich nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen und die Stille zu genießen, die endlich eingekehrt war. Lediglich das Heulen des Windes und das leise Kratzen der Schreibfeder waren zu vernehmen. Erneut musste er an die Worte des Generals denken, sie umschwirrten ihn wie lästige Mücken und würden ihn in den Schlaf verfolgen, das stand fest.
„Bin ich als Offizier unfähig, Pjotr?", wandte er sich an seinen Burschen.
Überrascht hob der junge Mann den Kopf.
„Euer Gnaden?"
„Beantworte meine Frage."
Nikolai konnte regelrecht sehen, wie es in seinem Burschen ratterte. Offensichtlich suchte er nach einer Antwort, die ihn nicht beleidigte.
„Ich denke, Sie sind ein sehr fähiger Offizier, Euer Gnaden."
Nikolai rollte mit den Augen und stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Würde ich wollen, dass du mir schmeichelst, hätte ich nicht nach deiner Meinung gefragt."
„Nun..."
Unschlüssig kaute Pjotr auf seiner Unterlippe. „Ich halte Sie für einen talentierten Mann, aber es mag sein, dass Ihre Fähigkeiten an der Front nicht ausreichend zur Geltung kommen."
Nikolai stieß ein freudloses Lachen aus. Da hatte er es, Pjotr war ebenfalls der Ansicht, er sei nicht gut genug.
„Dann werde ich das ändern. Besorge mir Bücher zum Thema militärische Taktiken."
Pjotr machte ein entgeistertes Gesicht. „Wir reisen morgen ab, Euer Gnaden."
Nikolai verzog die Lippen zu einem falschen Grinsen. „Dann solltest du dich lieber beeilen. Du bist doch so ein Bücherwurm, da wird das wohl keine Herausforderung für dich sein."
Da sich sein Bursche nicht gleich rührte, wedelte Nikolai mit der Hand, als verscheuche er eine lästige Fliege. „Na los, husch, husch. Bring sie mir aber erst morgen, ich will heute nicht mehr gestört werden. Ich hatte schon mehr als genug Gesellschaft für diesen Tag."
Pjotr bedachte ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Er wirkte verletzt. Zurecht, dachte Nikolai, doch was er sagte, war: „Oh, ich bitte dich, sieh mich nicht so an, Pjotr. Du weißt doch, dass ich ein Idiot bin und jetzt ab mit dir."
Pjotr war bereits halb zur Tür hinaus, was Nikolai nicht davon abhielt, weiterzureden. Im Grunde sprach er mehr zu sich selbst als zu seinem Burschen. „Diese ganzen alten Widerlinge, denen es Vergnügen bereitet, tausende junge Männer als Kanonenfutter zu missbrauchen, ich könnte sie erwürgen. Sollen sie doch an ihren tollkühnen Plänen und Machtspielen ersticken."
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