11.
„Iwan?"
Verhalten, damit die Wachen ihn nicht hörten, klopfte Nikolai gegen die Bretterwand.
„Iwan? Komm schon, ich weiß, dass du noch da drin bist. Warum antwortest du nicht mehr?"
Gebannt starrte Nikolai die Wand an, hinter welcher der Kosake saß. Er wusste, dass er ein hohes Risiko einging, indem er mit ihm sprach. Damit lief er Gefahr, von einem Wachsoldaten entdeckt zu werden, aber er hatte keine Ahnung, wie er ihn sonst erreichen sollte.
„Verflucht, Iwan. Bist du plötzlich zu feige, mit mir zu sprechen?"
Die letzte Aussage zeigte Wirkung. Kurz darauf wurde ein Zettel durch den Schlitz geschoben.
Was tust du wollen?, stand darauf geschrieben.
Hast du gute Kontakte hier im Lager?, fragte Nikolai und schob das Stück Papier zurück. Dieses Mal musste er nicht so lange auf eine Erwiderung warten.
Wie tust du darauf kommen?
Woher solltest du sonst Stift und Papier haben?
Was kümmert's dich?
Nikolai wertete das einfach als ein Ja. Es begann der schwierigste Teil seines Plans.
Ich brauche deine Hilfe.
Er wusste selbst, wie grotesk das klang. Ausgerechnet den Mann, der ihn hierher gebracht hatte, bat er um seine Hilfe. Das war verrückt, dessen war er sich bewusst und es widerstrebte ihm, einen Mann um etwas zu bitten, der ihn hasste, aber er wusste, dass dies der falsche Zeitpunkt war, seinen Stolz auszuleben. Es gab keine andere Möglichkeit für das, was er vorhatte. Davon abgesehen würde sein Stolz mehr genährt werden, wenn er es schaffte, sich von Hohenstein zur Wehr zu setzen.
Das ist ein Scherz, oder?
Nikolai verdrehte die Augen. Er hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde.
Nein., gab er knapp zurück.
Warum sollte ich einem wie dir denn helfen?
Weil wir uns in der gleichen Situation befinden.
Falsch. Ich bin hier bald wieder draußen. Du tust ewig in dieser Zelle schmoren, Bübchen.
Genau das war der Punkt. Er setzte sogar darauf, dass Iwan vor ihm herausgelassen wurde.
Du bist mir etwas schuldig. Ich sitze hier nur wegen dir.
Vielleicht funktionierte es ja auf diese Weise. Leider blieb sein Wunsch unerfüllt, Iwan gab nicht nach.
Und ich wegen dir, Bübchen.
Dein Ernst? Ich muss dich doch wohl nicht daran erinnern, wer angefangen hat mit dem Ganzen...
Ich hatte meine Gründe gehabt., beharrte Iwan. Dieser Mann war eine harte Nuss. Und diese Grammatik! Er musste es anders angehen.
Was wünscht du dir für dein Leben nach dem Krieg?, fragte er daraufhin. Es dauerte eine Weile, bis der Zettel wieder im Schlitz auftauchte.
Ein Dach über dem Kopf und eine würdevolle Arbeit.
Nikolai grinste. Das hatte er gehofft.
Ich bin Offizier und Adeliger, schrieb Nikolai zurück. Ich kann es dir geben.
Wer sagt, dass ich dir vertrauen kann?
Niemand. Du wirst es wohl müssen.
Mit Schweinen wie dir tue ich keine Geschäfte eingehen.
Am liebsten hätte Nikolai laut geflucht. Das würde er nicht hinnehmen, auf keinen Fall!
Was hast du zu verlieren, wenn du mir vertraust?
Ich frage mich eher, was ich zu verlieren habe, wenn ich mich auf dich einlassen tue, Bübchen. Worum geht es?
Schon besser, er zeigte zumindest Interesse.
Ich glaube, dass Major von Hohenstein ein Geheimnis hat. Ich will herausfinden, was es ist, um ihm schaden zu können.
Du bist verrückt. Was soll das bringen? Er wird dich deswegen nicht freilassen, eher im Gegenteil.
Ich weiß. Aber dann habe ich mich wenigstens nicht kampflos in mein Schicksal ergeben.
Wieder dauerte es, bis Iwan antwortete.
Er wird dich töten, sollte er wirklich etwas zu verbergen haben. Du solltest ihm einfach sagen, was er hören will.
Ein eiskalter Schauder lief Nikolai über den Rücken. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wozu dieser Mann fähig war, aber er würde nicht zögern, nicht nachdem er seinen Entschluss gefasst hatte.
Dann bin ich immerhin wie ein Mensch gestorben, nicht wie ein winselnder, gebrochener Hund. Ich habe noch nie einfach aufgegeben und ich werde jetzt nicht damit anfangen.
So viel Mut hätte ich dir gar nicht zugetraut, Bübchen.
Ich bin nicht mutig, ich bin der größte Feigling, den es gibt, aber ich bin verzweifelt. Die Verhöre werden mich zerstören, wenn ich nicht irgendetwas tue.
Von der anderen Seite der Wand erklang ein seltsames, dumpfes Geräusch. Nikolai rutschte ein Stück nach hinten. Was tat Iwan da? Ungläubig beobachtete er, wie eines der Bretter zu wackeln begann, bevor es aus der Wand genommen wurde und Iwan sein bärtiges Gesicht hindurchsteckte.
Er sah schlecht aus. Seine Haare wirkten strähnig, seine Haut blass und er hatte an Gewicht verloren. Das feindselige Funkeln in seinen Augen war hingegen geblieben. Obwohl es das Antlitz eines Mannes war, den er nicht mochte, vollführte sein Herz Freudensprünge. Ein Mensch, ein wahrhaftiger Mensch, eine Person, mit der er sprechen konnte. Endlich!
„Was machst du da?", flüsterte Nikolai.
Iwan legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Psst." Er hielt einen Schraubenzieher hoch, mit dem er das Brett entfernt hatte und winkte ihn näher heran. Nikolai tat, wie ihm geheißen.
„Wir müssen leise sein, aber so tut es sich besser unterhalten. Also, du Held. Was soll das? Wie tut dein Plan aussehen? Du tust ein Geheimnis des Majors lüften und sagst ihm in einem der Verhöre, dass du Bescheid wissen tust und dann? Was bringt dir das?"
Nikolai schüttelte den Kopf. „Nein, nicht so. Ich lasse mir nicht anmerken, dass ich etwas weiß. Ich mache nur immer wieder kleine Andeutungen, die von Hohenstein aus dem Konzept bringen sollen. Vielleicht finde ich sogar jemanden, der mich zum Lagerkommandanten führt, damit ich ihm davon berichten kann. Ich könnte mich an dem Major rächen."
„Das ist Selbstmord."
„Ja, gut möglich."
In Wahrheit war Nikolai längst nicht so gelassen, wie er sich gab. Er hatte immer nur eines gewollt: überleben, damit er zum Ballett zurückkehren konnte. Nun war die Situation eine andere. Ihn war bewusst, dass er es hier vermutlich ohnehin nicht mehr lebend herausschaffte. Der Gedanke versetzte ihn in helle Panik, doch er wollte das Beste aus seiner Situation machen, das geringe Übel wählen.
In diesem Fall bestand es für ihn darin, wenigstens nicht einfach zu kapitulieren. Verdammt, er war Leistungssportler, er war es nicht gewohnt, zu verlieren! Sollte er es aber wirklich schaffen, damit beim Lagerkommandanten vorsprechen zu dürfen, dann bestand sogar eine kleine Chance zu überleben und wieder tanzen zu können, auch wenn er nicht wusste, wie er das machen sollte.
„Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass der Major etwas Brisantes verbergen könnte?"
Kurz und knapp berichtete Nikolai von dem Buch, das er in von Hohensteins Manteltasche gefunden hatte, von den römischen Zahlen und dem Wappen.
Iwans Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Du tust wegen einem dämlichen Buch an ein Geheimnis denken?"
„Es war nicht irgendein Buch. Es kann kein Zufall sein, dass jeder einzelne Satz von Schuld und deren Vergebung handelte."
„Was, wenn doch?"
„Das will ich eben herausfinden. Also, bist du dabei?"
Iwan seufzte tief. „Ich habe keinen Grund dazu."
„Doch, das Haus und die Arbeit."
„Du kannst mir das wirklich geben?"
Nikolai nickte. Das war die geringste seiner Sorgen.
„Was macht dich so sicher? Selbst wenn das Angebot ernst gemeint ist und du dein Wort halten tust: Wenn er dich umbringt, habe ich von dem Ganzen überhaupt nichts."
Nikolai legte den Kopf schief und lächelte so heimtückisch wie möglich. „Dann musst du immer noch deine Schuld begleichen, weil du mich in diese Situation gebracht hast, Freundchen."
Iwan schnaubte verächtlich und spuckte aus. „Ich muss gar nichts, scheiß Aristokratenschwein."
Nikolai ließ nicht locker. „Was ist jetzt?"
Der Kosake schlug sich die Hand gegen die Stirn. „Ich weiß zwar nicht, wer von uns beiden der Verrücktere ist, aber meinetwegen. Ich tue ein paar Leute hier kennen, die uns nützlich sein könnten."
Zum ersten Mal seit Wochen legte sich ein Strahlen auf Nikolais Gesicht. Er konnte regelrecht spüren, wie es seine Züge milderte und sein Herz mit neuer Hoffnung füllte.
„Wusste ich es doch. Allein, dass du einen Schraubenzieher in deiner Zelle hast... Das geht nicht ohne Kontakte."
„Nein, aber tue dich nicht zu früh freuen. Ich kann nichts versprechen."
Nikolai winkte ab. „Wie gesagt, ich habe nichts zu verlieren. Weißt du etwas über von Hohenstein?"
„Nicht viel. Er ist erst seit Kurzem hier, aber man tut über ihn sagen, dass er gnadenlos ist und keine Skrupel hat. Deswegen befürchte ich, dass du das hier nicht überleben wirst."
Unruhig sah er zur Tür, um festzustellen, ob die Wachen etwas von ihrer Unterhaltung bemerkten, doch nichts rührte sich.
„Das werde ich sowieso nicht. Wenn sie mich nicht töten, werde ich am Wahnsinn sterben."
Gleichgültig zuckte Iwan mit den Schultern. „Wenn du meinst. Aber ich warne dich: ein Wort darüber, dass ich dir helfen tue und ich schlitze dich eigenhändig auf."
Abermals rollte Nikolai mit den Augen. „Jaja. Hör mal, ich habe auf einer Seite des Buches ein Wappen gesehen, ein gevierteilter Schild in den Farben Schwarz und Silber und eine römische Zahl: CCII. Kannst du herausfinden, was diese Dinge zu bedeuten haben?"
Iwan nickte, zückte erneut Papier und Stift und schrieb die Zahl auf. Dabei hielt er den Stift eigentümlich in der geballten Faust und ritzte die Zahl mehr ein, als dass er sie schrieb. Nikolai verkniff sich einen Kommentar. Er konnte froh sein, dass dieser Bauer überhaupt lesen und schreiben konnte, das war keinesfalls selbstverständlich.
„Das sollte einfach sein", meinte Iwan. „Ich bin mit einem der Wachsoldaten hier befreundet, der mir das Essen bringt, er kann dazu sicher nachforschen."
Nikolai war überrascht. „Er ist dein Freund?"
Iwan zuckte mit den Schultern. „Nicht die Deutschen sind meine Feinde, Bübchen, sondern Menschen wie du."
„Ja, natürlich, Iwan, auch wenn ich nicht verstehe, weshalb."
„Das zeigt mir nur wieder einmal, wie ignorant ihr Aristokraten seid. Wie auch immer, ich tue das Brett wieder anbringen, bevor jemand etwas merkt. Ich melde mich, sobald ich Informationen habe."
Nikolai nickte, brachte es jedoch nicht über sich, sich bei dem Kosaken zu bedanken. Immerhin war er Schuld an seiner Situation. Beklommen sah er dabei zu, wie Iwan die Lücke in der Wand schloss und fragte sich, was eigentlich in ihn gefahren war.
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