5. Kapitel
5. Kapitel
„Hände auf die Schultern, nicht um den Bauch“, ermahnte Timo mich fröhlich, als wir entkommen waren. Ausgelassen, und für meinen Geschmack deutlich zu schnell und kurvig, radelte er durch die Straßen.
„Hey!“, beschwerte ich mich, wusste jedoch nur allzu gut, dass er meine eigenen Worte benutzte. Gerade, als ich seiner Aufforderung nachkommen wollte, hielt er meine Hände fest.
„Nein, lass ruhig. War nicht ernst gemeint.“
„Machst du wohl wieder beide Hände ans Lenkrad!“, schrie ich, doch da fuhren wir auch schon in den nächsten Straßengraben.
„Toll!“, fluchte ich, als ich mich aus dem Gras hochkämpfte. „Du kannst froh sein, dass hier zurzeit kein Wasser drinnen ist.“
„Hm. Kann schon sein.“ Vorsichtig hob Timo den Drahtesel von sich runter und richtete sich auf. Irgendwie wirkte er erschöpft, müde und der wilde Ausdruck war schon lange aus seinen Augen verschwunden.
„Geht’s dir gut?“, wollte ich besorgt wissen, was mir einen verwunderten Blick einbrachte.
„Alles in Ordnung, wieso?“
„Du hättest nicht so irre fahren sollen.“
„Ist ja nicht so, als wäre ich nicht auch in den Graben gefallen“, muffelte Timo, aber ich schüttelte den Kopf.
„Das meine ich doch gar nicht. Du siehst total erschöpft aus!“
„Machst du dir etwa Sorgen um mich?“ Beinahe hätte er wieder sein scheußliches Grinsen aufgesetzt, aber er verzog den Mund gerade noch rechtzeitig zu einem normalen Lächeln.
„Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich das letzte Stück fahre“, klärte ich ihn auf. Schnell blickte ich weg, damit er den Hauch von Rosa nicht sah, der sich unerlaubt auf meine Wangen geschlichen hatte.
„Sei doch nicht immer so abweisend zu mir!“, beklagte Timo sich und schob das protestierende Rad wieder auf die Straße.
Ich muss ihm die Wahrheit sagen!, dachte ich bekümmert und schwang mich auf den Sattel. Nur wann? Je länger ich es vor mir herschiebe, desto schlimmer wird es, oder?
„Jetzt fahr schon“, sagte Timo beleidigt hinter mir. „Sonst kommen wir nie an!“ Diesmal hielt er sich am Fahrradgestell fest, nicht an meinen Schultern.
Das letzte Stück bis zu Mr Smugs Garten kam mir ungewöhnlich lang vor.
Die ganze Zeit über fühlte ich mich schuldig, fürchtete jedoch zugleich den Jungen hinter mir. Es war so schwierig, dieses unmenschliche Geschöpf zu mögen. Die Schuld, die ich empfand, weil ich ihn getötet hatte und das schreckliche Geheimnis zwischen uns hielt mich immer wieder auf Abstand und seine Freundlichkeit verstörte mich.
Jedes Mal, wenn ich Timo ansah, verspürte ich die Schuld, und wenn er mir in die Augen sah, glaubte ich, er könne direkt in mich hineinsehen, auf das pechschwarze Meer meiner Seele. In seiner Gegenwart fühlte ich mich schutzlos und doch so sicher wie noch nie.
Ich muss es ihm sagen!, dachte ich, aber ich hatte Angst. Angst vor seiner Reaktion, was er mit mir machen würde. Angst davor, was dann mit Lynn passieren würde, wenn keiner mehr da war, um ihr zu helfen. Doch am meisten Angst hatte ich vor mir selbst.
Kurz gesagt: Ich fühlte mich mies und verstört und die Schlaftabletten von dieser Nacht machten es nicht gerade besser.
„Es tut mir leid.“ Diese Worte hätte ich sagen müssen, aber es war Timo, der sie aussprach. „Ich weiß, ich bin echt anstrengend. Ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, mich nicht zu mögen.“
„Nein!“, warf ich ein. „Es ist doch überhaupt nicht deine Schuld!“ Verwundert und schmerzlich berührt sah ich mich zu ihm um.
„Ann!“, warnte Timo mich, doch da kurvten wir schon über einen Zweig, die Reifen rutschten weg und schon wieder flogen wir in den Straßengraben. Zusammengerollt landete Timo zwischen dem wuchernden Unkraut, ich rutschte auf allen Vieren hinterher.
„Ich muss dir etwas sagen!“, brachte ich hervor, während ich mich schwankend aufrichtete.
„Ich muss dir auch etwas sagen!“, knurrte Timo. „Den Rest laufen wir!“
Er war so missgelaunt, dass ich keinen Ton mehr hervor bekam. Von jetzt an behandle ich ihn wie einen ganz normalen Menschen!, beschloss ich. Schluss mit dem Selbstmitleid!
Doch das änderte nichts daran, dass mir die Worte buchstäblich in der Kehle stecken blieben.
Timo stiefelte finster voraus, nur manchmal blickte er sich verstohlen zu mir um, als wolle er sichergehen, dass ich ihm auch folgte.
„Da wären wir“, sagte ich schließlich und betrat den Garten ausnahmsweise durch das Gartentor. „Sieh mal, Lynn ist alleine.“
In diesem Moment öffnete sich die Haustür und keine Sekunde später zog Timo mich in die Büsche. Gerade noch rechtzeitig, denn schon kam einer der Dämonenmänner in den Garten spaziert.
„Lynn, komm endlich rein. Selbst Smug sagt, dass die Bäume erst einen Schnitt im Frühling brauchen.“
„Dann soll er gefälligst kommen und es mir persönlich sagen!“, fauchte meine Freundin und warf ein Messer nach dem Dämon, der geschickt auswich.
„Sei nicht so aufmüpfig, du kleines Biest!“, fauchte er. „Und hör endlich auf, die Bäume mit dem Messer zu behandeln!“ Damit verschwand der Dämon wieder nach drinnen.
Das zweite Messer bohrte sich in die Tür, die er gerade hinter sich zugeschlagen hatte, dann lief Lynn knurrend los und holte ihre beiden Messer zurück. Alles in allem erinnerte sie mich stark an den schmollenden Timo neben mir. Ob das eine Phase war, die alle Dämonen durchmachten? Aber warum war Lynn wütend auf Mr Smug? Der schämte sich nämlich garantiert nicht dafür, sie getötet zu haben!
„Lynn!“, rief ich leise, bevor Timo mir den Mund zuhalten konnte, und wich gerade noch rechtzeitig einem Messer aus, das in unsere Richtung geschwirrt kam.
„Bist du irre?“, raunte Timo, doch ich schüttelte nur den Kopf und kam aus meinem Versteck hervor. Eins war mir klar: Wenn Lynn uns Auskunft geben würde, dann jetzt. Oder sie würde uns alternativ aufspießen.
„Kenne ich dich?“, fragte meine Freundin und lehnte sich gelassen gegen einen Baum.
„Vielleicht. Eher nicht“, antwortete ich, gut wissend, dass Dämonen ihre Vergangenheit vergaßen, und sah mich nach Timo um. Doch von ihm war keine Spur zu sehen.
„Und was machst du dann hier?“, fragte sie ungnädig und jonglierte mit einem ihrer diversen Messer.
„Es geht um Mr Smug. Er ist nicht gerade nett zu dir, oder?“, fragte ich vorsichtig, nicht ganz sicher, wie sehr Lynn zu ihm halten würde. Aber alles lief bestens.
„Der? Der ist ein vermaledeiter Idiot!“
„Und die anderen Dämonen. Sind die auch von ihm?“ Ich machte mich auf Misstrauen, ja sogar auf ein Messer unter meiner Nase gefasst, aber Lynn schien froh, jemanden zum Reden zu haben, und sie vertraute mir. Vielleicht erinnerte sich doch noch ein kleiner Teil von ihr an mich.
„Ach, Quatsch! Die sind nicht seine. Sie sind freie Dämonen. Verlotterte Biester sind das!“
Freie Dämonen?, fragte ich mich, wollte jedoch nicht allzu unwissend rüberkommen. „Und warum sind sie „verlotterte Biester“?“
„Weil sie es eben sind. Sie halten sich für was Besseres, weißt du?“ Wütend schleuderte Lynn ein Messer in den Boden, das prompt stecken blieb. „Ständig besprechen sie was mit Mr Smug, und jedes Mal heißt es dann: „Geh raus. Das ist nichts für dich.“ Als ob ich weniger wert wäre als sie! Jetzt bin ich eben rausgegangen, so wie sie es wollten! Toll, jetzt weißt du’s. Aber warum erzähle ich dir das überhaupt?“
„Vielleicht, weil ich deine beste Freundin war, bevor Smug dich umgebracht hat?“ Wie komisch das schon wieder klang!
„Hm, warst du das? Wer weiß“, murmelte sie, inzwischen etwas ruhiger.
„Aber bist du denn nicht böse, dass er dich getötet hat?“, fragte ich erstaunt.
„Wieso sollte ich? Das war nur zu meinem Besten. Es hat mich noch stärker und besser gemacht. Außerdem bin ich froh, dass ich durch Smug und nicht durch einen elenden Taugenichts gestorben bin.“ Stolz drehte sie sich im Kreis. „In einem Kampf würde ich einen Menschen wie dich leicht besiegen“, protzte sie und lächelte mich böse an. „Willst du es ausprobieren?“
„Nein, danke.“ Ich seufzte. „Ich war schon früher schlechter als du.“ Vor meinem geistigen Auge konnte ich nur allzu gut sehen, wie Mr Smug Lynn stolz erzählte, wie er sie heldenhaft getötet hatte, nur, um ihr etwas Gutes zu tun. Das passte perfekt diesem gemeinen Lehrer. Erschaudernd verdrängte ich das Bild.
„Ah.“ Nachdenklich sah sie mich an. „Warst du wirklich mal meine Freundin?“
„Ja.“ Mit Betonung auf „warst“, dachte ich. Du hast dich total verändert! Aber vielleicht ist auch das heilbar.
„Dann erzähle ich Smug nicht von dir“, versprach sie gnädig.
„Ich dachte, du hasst ihn, weil er dich ausgeschlossen hat.“
„Es ist nicht er. Es sind diese vermaledeiten freien Dämonen. Sie behandeln mich wie Dreck!“
„Hallo, allerseits. Ich will ja nicht stören, aber da rennt schon wieder einer deiner Dämonen im Garten herum“, meldete Timo sich zu Wort. Dann schnappte er mich und zog mich fort.
„Kommst du wieder?“, rief Lynn mir hinterher.
„Klar“, wisperte ich, erleichtert darüber, dass sie mich mochte.
Timo warf mir daraufhin zwar einen bitterbösen Blick zu und schleifte mich endgültig aus dem Garten, aber nichts und niemand konnte meine Laune jetzt noch trüben.
„Komm, wir fahren zurück zum Internat. Besser, wir ertragen die Strafpredigt noch heute Abend“, schlug ich vor.
„Muss das sein?“
„Du kannst dich ja schon auf meinem Zimmer verstecken. Eigentlich betriff die Predigt mich, weil ich da wohne. Du musst dir das nicht auch noch anhören, wenn du nicht willst.“
„Ich bleibe bei dir.“
„Danke, Timo.“
Seine Antwort war nur ein Grummeln, aber ich bemerkte, dass er sich wieder langsam beruhigte. Trotzdem grummelte er immer wieder leise vor sich hin, bis er schließlich einfach vom Rad sprang und stehen blieb.
„Was ist los?“ Sofort hielt ich an und schob meinen Drahtesel zu ihm zurück.
„Ich komme doch nicht mit. Ich laufe lieber noch mal eine Runde.“
„Moment. Erst muss ich dir … etwas … muss ich … äh … muss ich dir die Wahrheit … die ganze Wahrheit sagen, damit du dir überlegen kannst, ob du überhaupt zurückkommen willst.“
„Was?“ Mit wütend zusammengezogenen Augenbrauen wirbelte Timo herum. „Was willst du mir sagen?“ Einen so wilden, tobenden Blick hatte ich selbst bei ihm noch nicht gesehen. Beinahe schien er tatsächlich Funken zu sprühen.
Jetzt bring er mich um!, dachte ich mindestens zum dritten Mal, nahm jedoch all meinen Mut zusammen und erzählte ihm von letzter Nacht. Besser gesagt: Ich flüsterte ihm die ganze Geschichte ins Ohr, da es viel zu viele Parts gab, von denen ich nicht wollte, dass sie an die Öffentlichkeit drangen.
„Aber warum hast du das nicht früher erzählt?“, wollte Timo wissen. Zu meinem grenzenlosen Erstaunen sah er jetzt gar nicht mehr so böse aus.
„Ich hatte einfach Angst“, gestand ich.
„Angst? Wovor?“
„Wovor?“ War das nicht klar? „Na, davor, dass du wütend auf mich sein würdest!“
„Naja, ich finde es eigentlich ganz cool, zu dir zu gehören. Und das du mich getötet hast, beweist ja nur, dass du mich haben wolltest, oder?“
„Es war ein Versehen!“, rief ich und warf die Arme in die Luft. „Aber trotzdem bin ich echt froh, dass ich dich und nicht jemand anderes erwischt habe“, fügte ich schnell hinzu.
„Das sagen sie alle“, schmollte Timo. Für einen kurzen Moment schmollten wir uns beide an, dann lachte Timo plötzlich. „Und du sagst mir immer, ich soll nicht töten!“
Da schmollte ich nur noch mehr, was jedoch bloß bezweckte, dass ein wildes Lächeln über sein Gesicht huschte. Irgendwie war mir dieses Lächeln sympathisch geworden. Trotzdem beschloss ich noch ein klein wenig weiter zu schmollen, nur um den Effekt zu wahren.
„Erzähl mir noch mal die ganze Geschichte“, forderte Timo plötzlich und machte einen Schritt auf mich zu. Häh? Wieso das denn?, fragte ich mich und sah mich misstrauisch um, damit auch ja keiner zuhörte. Dann beugte ich mich vor und flüsterte ihm alles ins Ohr, auch wenn ich mehr als einmal erschauderte, als sich die Bilder in meinen Kopf zurückschlichen. Timo hingegen schien das alles nicht sonderlich schrecklich zu finden. Viel eher genoss er es, mir so nahe zu sein.
„Noch mal“, bat Timo, als ich fertig war und wieder einen Schritt zurück trat.
„Ich hab’s genau bemerkt! Du hast überhaupt nicht zugehört!“, beschwerte ich mich und hielt ihm vorwurfsvoll die Hände entgegen.
„Stimmt.“ Er lächelte das linkische Lächeln, das ich ihm beigebracht hatte, packte meine Hände und zog mich zu sich heran.
„Hey!“ Protestierend stemmte ich mich dagegen. Würde ich jemals verstehen, was in diesem Jungen vorging?
„Meinst du, wenn wir uns beeilen, kriegen wir noch Reste vom Abendessen?“, fragte Timo und ließ mich los.
„Bestimmt! Los, ich habe einen Bärenhunger!“
„Ich auch. Und deshalb fahre auch ich, damit wir heute noch ankommen.“
„Hey!“, beschwerte ich mich. „So wie du fährst, brechen über kurz oder lang die Pedale ab!“
„Dass dieses Fahrrad noch nicht auseinandergefallen ist, wundert mich sowieso“, grinste Timo.
Doch gerade, als ich gespielt wütend über ihn herfallen wollte, bog eine alte Frau um die Ecke.
„Oh nein, deine Haare!“, wisperte ich und strich sie schnell wieder zu einem Seitenscheitel.
„Was hast du immer gegen meine Frisur?“, maulte Timo, wobei er versuchte, mir auszuweichen.
„Vielleicht solltest du nicht aussehen wie der kürzlich Ermordete. Das könnte manche Leute irritieren“, raunte ich, dann schlenderten wir lächelnd zurück zum Fahrrad und fuhren so unschuldig wie möglich davon.
Leider erwartete uns vor dem Internat eine unangenehme Überraschung.
„Da seid ihr ja.“ Mit finsterem Blick klappte die Schuldirektorin die Zeitung zu und stand auf. „Ich habe ein ernstes Wörtchen mit euch zu reden.“
Hat sie uns entlarvt?, fragte ich mich besorgt, aber das war gottseidank nicht der Fall. Es ging um das Putzen der Schulcafeteria, die ich nach all der Aufregung völlig vergessen hatte.
„Das holt ihr natürlich nach“, prophezeite uns die Direktorin, während wir unser Abendessen einnahmen.
„Und über eure Beziehung müssen wir auch noch mal reden. Was da heute vorgefallen ist, möchte ich nicht noch mal sehen. Und in einem Zimmer schlaft ihr auch nicht, das ist sicher“, mischte sich die Aufpasserin ein, die uns zusammen in Lynns Zimmer erwischt hatte.
„Ich dachte, er wäre dein Cousin.“ Mit Adleraugen musterte die Direktorin uns beide. Leicht lächelnd blickte Timo auf sein Abendessen, stieß mich jedoch unter dem Tisch heimlich an. Vor Verlegenheit hätte ich beinahe meinen Bissen wieder ausgespuckte, wurde aber stattdessen so rot wie die Rote Beete, die ich gerade in mich hineinlöffelte.
Timo lachte, hielt sich jedoch schnell den Mund zu, als er die finsteren Blicke der beiden Frauen bemerkte.
„Kann mein Cousin dann in einem anderen Zimmer hier schlafen, für die paar Wochen, die er hierbleibt?“, erkundigte ich mich mit möglichst kühler Stimme.
„So lange will er bleiben?“ Die Direktorin klang nicht sonderlich erfreut.
„Fürs Erste kann er hier ein Zimmer bekommen. Aber er sollte sich möglichst bald nach etwas anderem umsehen. Schließlich sind wir kein Hotel“, sagte die Aufpasserin nun etwas gnädiger. Dann stand sie auf und ging. Auch die Schulleitung stand auf, drehte sich jedoch noch einmal zu uns um.
„Morgen bekommt ihr einen Aufpasser, damit ihr nicht wieder abhaut“, versprach sie uns. „Und dann könnt ihr in romantischer Eintracht die Cafeteria putzen.“
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